Forscher halten «Spiegel-Bakterien» für schwere Bedrohung
Im ersten Teil dieses Artikels ging es um das Medikament «Contergan», das Ende der 1950er-/Anfang der 1960er Jahre eine medizinische Tragödie verursachte. Schuld war die «linksdrehende» Form des Wirkstoffs. Sie verursachte bei Kindern im Mutterleib schwere Fehlbildungen. An diese Katastrophe erinnern 44 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in ihrem «Technologie-Bericht zu Spiegel-Bakterien». Darin warnen sie vor einer viel grösseren Katastrophe als «Contergan» es war.
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Dass Wissenschaftler ihren Kollegen die Forschung am liebsten verbieten wollen, deren Sponsoren auffordern, den Geldhahn zuzudrehen und damit auch noch an die Öffentlichkeit gehen, kommt selten vor.
Im Fall der «Spiegel-Bakterien» aber verlangen mehrere Dutzend Fachleute genau dies: «Wir empfehlen, Forschung mit dem Ziel der Schaffung von Spiegel-Bakterien nicht zu erlauben und dass Geldgeber klarstellen, dass sie solche Arbeiten nicht unterstützen werden», schrieben sie im Dezember im Magazin «Science».
Sie sind ob dieses Forschungszweigs zutiefst beunruhigt – obwohl manche von ihnen selbst Teil davon sind. Doch nach gründlicher Durchsicht der bisherigen Studien kommen 44 Expertinnen und Experten in einem rund 300 Seiten langen «Technologie-Bericht zu Spiegel-Bakterien: Machbarkeit und Risiken» zum Schluss, dass solche Spiegel-Bakterien kaum aufzuhalten wären.
Wie linker und rechter Handschuh
Doch der Reihe nach: Viele Bausteine der Natur sind entweder links- oder rechtsdrehend. Die Proteine, die im menschlichen Körper vorkommen, sind beispielsweise alle aus linksdrehenden Bausteinen zusammengesetzt.
Rechtsdrehende Protein-Bausteine dagegen kommen in der Natur kaum vor. Der Reiz für viele synthetische Biologen ist nun aber, rechtsdrehende Bausteine zu verwenden. Das führt zu Proteinen, die den linksdrehenden wie ein Spiegelbild gleichen.
1992 erschufen Wissenschaftler im Labor das erste solche «Spiegel-Protein». Inzwischen gelang ihnen dies bei mindestens 30 weiteren Proteinen.
So wie ein linker Handschuh nicht an eine rechte Hand passt, so können auch die Enzyme im Körper beispielsweise keine rechtsdrehenden Proteine zerstören. Denn sie sind nur auf linksdrehende Proteine ausgerichtet.
Neugier als Triebfeder
Rechtsdrehende Proteine wären also eventuell therapeutisch nützlich. Könnte man aus ihnen Medikamente herstellen, würden diese sehr lange wirken, weil der Körper sie nicht abbauen kann. Auch unerwünschte Immunreaktionen liessen sich damit vermutlich reduzieren, weil das Immunsystem diese unnatürlichen Moleküle nicht erkennen kann. Solche theoretisch denkbaren Anwendungsgebiete sind eine Triebfeder der synthetischen Biologen.
Die andere Triebfeder sei die Neugier, welche anderen Lebensformen möglich sein könnten, schreiben 38 besorgte Wissenschaftler in «Science». Sie warnen eindringlich davor, diesen Weg weiter zu beschreiten, ohne zuvor die Risiken gut abzuklären.
Denn das angestrebte Ziel vieler Forscherinnen und Forscher sei es, «Spiegel-Lebewesen» zu schaffen, vorderhand «Spiegel-Bakterien».
«Inzwischen sind wir sehr besorgt»
«Obwohl wir anfangs bezweifelten, dass Spiegel-Bakterien grössere Risiken bergen könnten, sind wir inzwischen sehr besorgt. Wir waren uns nicht sicher, ob es möglich ist, Spiegel-Bakterien zu synthetisieren, sind aber zum Schluss gekommen, dass der technische Fortschritt dies wahrscheinlich möglich machen wird», schrieb die Gruppe in ihrem Artikel.
Nach dem Motto «die Natur neu erfinden» brachte der Forscher George Church 2014 sogar die Idee vor, «Spiegel-Menschen» zu erschaffen. Church leitet am Wyss Institut in Harvard die Synthetische Biologie und ist Professor für Genetik an der Harvard University. Er hat den «Science»-Artikel mitverfasst.
Erst «Spiegelbakterien», später «Spiegelmenschen» erschaffen
«Diese Menschen wären biologisch identisch mit uns, mit der Ausnahme, dass ihre zellulären Abläufe Spiegelbilder der unseren wären. Diese Eigenschaft würde sie gegen alle bekannten Krankheitserreger immun machen. Gleichzeitig könnten sie sich aber nicht von natürlichen Nährstoffen ernähren, da ihr Stoffwechsel ebenfalls gespiegelt wäre», erläuterte ein Fachartikel in den «Trends in Biochemical Sciences» 2021.
Während natürliche Menschen beispielsweise rechtsdrehender Zucker als Nährstoff dient, bräuchten die «Spiegel-Menschen» linksdrehenden. Noch seien solche «Spiegel-Menschen» aber als reine Science Fiction einzuordnen.
«Es ist schwer vorhersehbar, wann und wie der nächste wissenschaftliche Durchbruch in Bezug auf die Spiegelwelt erfolgen wird. Eines Tages jedoch wird die Welt hinter dem Spiegel keine optische Täuschung mehr sein, sondern eine biochemische Realität», sagen drei deutsche Forscher im besagten Fachartikel voraus.
Vorerst aber ist das ultimative Ziel, künstliche Bakterien aus komplett anders herum drehenden Molekülen zu erschaffen. Alles an diesen «Spiegel-Bakterien» wäre spiegelverkehrt aufgebaut, von der DNA im Innern bis zu den Rezeptoren auf ihrer Oberfläche. Solche Bakterien könnten dann beispielsweise die oben erwähnten, im Körper kaum abbaubaren, Medikamente in grossen Mengen herstellen.
«Wir empfehlen, Forschung mit dem Ziel der Schaffung von Spiegel-Bakterien nicht zu erlauben.»
Autorinnen und Autoren des «Science»-Artikels
In 10 bis 30 Jahren möglich
Der wohl prominenteste Warner in der breit gefächerten Gruppe aus Biologen, Immunologen, Ökologen, Evolutionsbiologen, Fachleuten für Biosicherheit und weiteren ist Craig Venter. Er entschlüsselte zusammen mit Kollegen im Jahr 2000 als Erster weitgehend das menschliche Genom. 2010 erschuf seine Gruppe im Labor die erste künstliche Zelle. 2016 kreierte sie ein Bakterium mit einem künstlichen Mini-Erbgut – ein Meilenstein der synthetischen Biologie. Ausgerechnet dieser Pionier ermahnt seine Kolleginnen und Kollegen nun, inne zu halten, um keine Tragödie herbeizuführen.
In ihrem fast 300 Seiten langen Technologie-Bericht legen Venter und 43 Kollegen und Kolleginnen ihre Bedenken dar. Manche Autoren zeichnen sowohl diesen Bericht als auch den «Science»-Artikel, andere nur einen von beiden.
Es werde zwar noch Jahre dauern, bis es möglich sei, Spiegel-Bakterien herzustellen, aber das Interesse daran werde wachsen, prophezeien sie. Wenn dieser Forschungszweig stark gefördert würde, könnte es in zehn Jahren soweit sein, falls es so weitergehe wie bisher, in 15 bis 30 Jahren, schätzen sie.
Auch die deutsche Regierung sponsert Experimente
Einige Firmen würden bereits jetzt spiegelverkehrte DNA-Bausteine zum Kauf anbieten. Und Förderorganisationen in den USA, in China und in Europa (auch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung) finanzieren Forschung an «Spiegel-Leben» bereits.
Die Nationale Wissenschafts-Stiftung in den USA etwa überwies einer Forschergruppe vier Millionen Dollar um «synthetische Spiegelzellen zu entwerfen, zu konstruieren und sicher einzusetzen, in denen alle Schlüsselmoleküle in […] Zuständen vorliegen, die ihren natürlichen Formen entgegengesetzt sind».
Genau darin sehen die Autorinnen und Autoren des «Technologie-Berichts» die Gefahr: Denn viele Mechanismen der Immunabwehr sind so gepolt, dass sie nur natürlich vorkommende Proteine oder Bakterien erkennen können – nicht aber künstlich hergestellte, spiegelverkehrte.
Tödliche Infektionen
Deshalb könnte die Immunabwehr – egal, ob bei Mensch oder Tier – Spiegel-Bakterien wahrscheinlich nicht effizient abwehren, so die grosse Befürchtung dieser Wissenschaftler. «Eine genaue Prüfung der vorhandenen Studien liess uns zum Schluss kommen, dass Infektionen schwerwiegend sein können.»
Es sei plausibel, dass genügend robust gebaute Spiegel-Bakterien den meisten Abwehrmechanismen gegenüber resistent wären. Sie könnten Menschen infizieren, sich in ihrem Körper vermehren und zum Tod führen, sei es, weil sie dem Körper wichtige Nährstoffe rauben, weil sie Blutgefässe verstopfen oder andere Schäden anrichten.
Ungehinderte Ausbreitung auch in der Landwirtschaft möglich
Als nächstes würden sich kadaverfressende Tiere mit den Spiegel-Bakterien infizieren. Insekten, Vögel, infizierte Fracht oder reisende Menschen könnten die Spiegelbakterien über weite Strecken verbreiten.
Da die Spiegel-Bakterien keine natürlichen Feinde hätten, seien ihnen kaum Schranken gesetzt. Das würde es ihnen erlauben, «eine ungewöhnliche breite Palette an Organismen zu infizieren und in verschiedenste Umgebungen einzudringen».
Sie könnten beispielsweise auch Insekten oder (Landwirtschafts-)Pflanzen befallen – mit den entsprechenden ökologischen Folgen bis hin zur Auslöschung von Arten.
Antibiotika wären fast alle wirkungslos
Spiegel-Bakterien wären in der Lage, sich von verschiedensten Nährstoffen zu ernähren, die in der Natur reichlich vorhanden seien. Deshalb könnten sie in der Natur überleben, sich dort vermehren und wohl auch mutieren und sich immer besser anpassen. Die natürlichen Feinde normaler Bakterien wären weitgehend machtlos gegen Spiegel-Bakterien.
Auch die meisten Antibiotika oder Pflanzenschutzmittel würden nicht greifen, denn sie wirken nicht gegen spiegelverkehrte Bakterien. Also müssten erst neue Antibiotika, Impfstoffe, genveränderte Pflanzen oder andere Gegenmassnahmen entwickelt werden wie zum Beispiel Viren, welche die Spiegel-Bakterien angreifen können (sogenannte Bakteriophagen).
Schutzvorkehrungen in Labors genügen nicht
Craig Venter und seine warnenden Kollegen halten die gegenwärtigen Schutzvorkehrungen in Labors für nicht ausreichend, um an Spiegel-Bakterien zu forschen. Sie verweisen auf immer wieder vorkommende, versehentliche Infektionen von Labormitarbeitenden oder Unfälle, bei denen Erreger freigesetzt wurden. So etwas könne bei Spiegel-Bakterien «potenziell katastrophal» enden.
Auch der Gedanke, dass Spiegel-Bakterien zu militärischen oder terroristischen Zwecken hergestellt werden könnten, sei «sehr beunruhigend». Selbst wenn man extra Sicherheitshürden in Spiegel-Bakterien einbauen würde, liessen sich diese ausschalten.
«Solange es keine zwingenden Beweise dafür gibt, dass von Spiegel-Leben keine aussergewöhnlichen Gefahren ausgehen, sollten unserer Meinung nach keine Spiegel-Bakterien und andere Spiegel-Organismen geschaffen werden.»
Autorinnen und Autoren des «Science»-Artikels
In ihrem Bericht konzentrieren sich die 44 warnenden Wissenschaftler zwar auf Spiegel-Bakterien, weil diese vermutlich als erste erschaffen werden, ihre Überlegungen würden jedoch auch für andere Formen des Spiegel-Lebens gelten.
«Solange es keine zwingenden Beweise dafür gibt, dass von Spiegel-Leben keine aussergewöhnlichen Gefahren ausgehen, sollten unserer Meinung nach keine Spiegel-Bakterien und andere Spiegel-Organismen geschaffen werden, auch nicht solche, bei denen technische Massnahmen zur Biokontrolle ergriffen wurden», raten die Autoren des «Science»-Artikels.
«Wir fordern eine breite Diskussion»
Weiter empfehlen sie, Massnahmen zu ergreifen, um die Herstellung von Spiegel-Genomen zu vereiteln. Jeder, der versuche, Spiegel-Bakterien zu erschaffen, solle daran gehindert werden.
«Wir fordern eine breitere Diskussion in der globalen Forschungsgemeinschaft, bei politischen Entscheidungsträgern, Forschungsförderern, der Industrie, der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit, um einen angemessenen Weg zu finden.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Mir scheint je länger, je mehr dass die Risiken für die menschliche Gesundheit nicht von den herkömmlichen Krankheiten kommt sondern von der Pharmaforschung kommt. Es braucht deshalb unbedingt mehr Selbstverantwortung des Einzelnen. Bedauerlicherweise sehe ich auch bei den meisten Politikern kein wirkliches Interesse an den Volksgesundheit, man überlässt es den Pharmalobbyisten.
Ich empfehle den Wikipedia-Eintrag über D-Aminosäuren.
Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass die Spiegelbilder der gewöhnlichen Aminosäuren in der Natur gar nicht so selten anzutreffen sind. Es sind keine «Aliens» aus einem spiegelverkehrten Universum. Der Mensch kann sie zwar nicht direkt zur Proteinsynthese brauchen, aber es ist auch keineswegs so, dass der menschliche Stoffwechsel ihnen gegenüber völlig hilflos wäre.
Die Bestrebungen, «Spiegelbakterien» zu schaffen, sind trotzdem sehr fragwürdig. Es sind Prestigeprojekte profilierungssüchtiger Forscher. Die Gefahr von solchen Organismen wäre eventuell nicht ganz so dramatisch. Aber es gibt auch keine Gründe zur Annahme, dass «Spiegelbakterien» eine Quelle von Wundermedikamenten wären. Medikamente mit D-Aminosäuren gibt es schon jetzt. Sogar das altbekannte Penicillin enthält eine.
Diese Leute sollten ihr Geld und ihre Energie in sinnvollere Projekte stecken.