Die ETH Zürich und Lausanne behaupten sich im KI-Haifischteich
Red. Als Vizekanzlerin im Bundeshaus von 1991 bis 2005 leitete die Autorin verschiedene Digitalisierungsprojekte. Nach der Pensionierung engagierte sie sich ehrenamtlich für die Digitalisierung im Bildungsbereich. Heute analysiert Hanna Muralt Müller Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz in ihren Newslettern.
KI ist heute Big Business. Es sind die Tech-Unternehmungen, die in ihrem Konkurrenzkampf die Entwicklung vorantreiben. Ihre Investitionen schiessen in die Höhe (s. AI Index-Report 2024 des Instituts for Human-Centered Artificial Intelligence der Stanford University). Die öffentlich finanzierten Hochschulen können mit ihren finanziellen Ressourcen nicht mithalten. Aber sie haben aus verschiedenen Gründen ein gewichtiges Wort mitzureden, insbesondere auch, was die künftige KI-Entwicklung betrifft, und sie verschaffen sich Gehör.
Am Gemeinwohl orientierte Grundlagenforschung
Längst sind die möglichen Risiken erkannt, die von einer KI-Entwicklung ausgehen könnten, die sich menschlicher Kontrolle entzieht (siehe hierzu Infosperber vom 24.5.2024 und Infosperber vom 12.10.2024). Dass es deshalb internationale Regulierungen braucht, wird sowohl von der Staatenwelt wie auch den grossen Tech-Unternehmungen anerkannt.
Geopolitische Spannungen und Interessenkonflikte erschweren jedoch die laufenden Arbeiten an internationalen Abkommen und eine Selbstregulierung der Tech-Unternehmen ist aus Konkurrenzgründen wenig wahrscheinlich (s. hierzu Infosperber vom 29.10.2024 und Infosperber vom 30.11.2024). Mit den öffentlich finanzierten Hochschulen gibt es Akteure, die sich für eine am Gemeinwohl ausgerichtete KI-Entwicklung einsetzen können und sollen. Sie werden diesbezüglich auch aktiv und bündeln ihre Kompetenzen verstärkt in Netzwerken.
Transparenz und Open Source gefordert
Als im März 2023 namhafte KI-Forschende in einem offenen Brief eine sechsmonatige Denkpause, ein Moratorium, forderten, wurden rasch kritische Stimmen laut. Doch das im offenen Brief geforderte Moratorium sei kaum kontrollier- und durchsetzbar, schrieben zwei KI-Koryphäen der ETHZ in den ETH-News vom März 2023. Professor Andreas Krause und Alexander Ilic vom ETH AI Center halten es für zielgerichteter, von den Tech-Unternehmen Transparenz zu fordern und sie zur Rechenschaft zu verpflichten.
Die Hochschulen setzen generell auf Open Source, eine Software, deren Quelltext im Unterschied zu den proprietären Systemen, die im Eigentum der Tech-Giganten bleiben, öffentlich ist, geändert und kostenfrei genutzt werden kann. Im Austausch innerhalb der Community, die Open-Source-Software nutzt und weiterentwickelt, entsteht laufend Mehrwert für alle Beteiligten.
Mit ETHZ und EPFL werden zwei Leader aktiv
Die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen haben sich den Herausforderungen gestellt und gründeten im Dezember 2023 die Swiss AI Initiative mit dem Ziel, die Schweiz als weltweit führenden Standort für die Entwicklung und Nutzung einer transparenten und vertrauenswürdigen KI zu positionieren (s. Pressemitteilungen am 4.12.2023 von ETHZ und EPFL). Mit dieser Initiative soll das Wissen der Schweizer Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen gebündelt und auf klare Ziele im Interesse des Gemeinwohls ausgerichtet werden.
Bereits haben sich über 70 Professorinnen und Professoren angeschlossen. Gemäss den Pressemitteilungen vom 3.10.2024 von ETHZ und EPFL erfolgt die Koordination über das Swiss National AI Institute (SNAI), das die Forschungskapazitäten des ETH AI Center und des EPFL AI Center und auch des Istituto Dalle Molle di studi sull’intelligenza artificiale (IDSIA) an der Università della Svizzera italiana in Lugano sowie weiterer schweizerischer KI-Hochschulinstitute bündelt.
ETHZ und EPFL sind Schwergewichte in der Hochschullandschaft. Die ETHZ steht im Ranking von Times Higher Education weltweit an 11. Stelle, die EPFL auf Platz 32 (s. World University Rankings 2025 | Times Higher Education (THE). Beide zeichnen sich somit durch ihre weltweit herausragende Spitzenforschung aus, und dies betrifft auch ihre KI-Kompetenzen.
Transparenz und Open Source als Ziele der Swiss AI Initiative
Wichtigstes Ziel der Initiative ist es, die Forschungsfreiheit und die digitale Souveränität der Schweiz sicherzustellen. Die Initiative will Wissenschaft, Industrie und Politik zusammenbringen, damit die Schweiz eine massgebliche Rolle im Bereich der generativen KI spielen kann. Das aufgebaute Fachwissen und die entwickelten Basismodelle sollen möglichst offen zur Verfügung gestellt werden.
Das geplante nationale KI-Modell für Sprachen setzt auf volle Transparenz und Open Source, Nachvollziehbarkeit und Zuverlässigkeit. Zudem soll ein Programm zur Unterstützung von Start-ups im KI-Bereich aufgebaut werden. Die nötige Infrastruktur auf Weltklasseniveau steht seit Anfang 2024 mit dem neuen Supercomputer Alps am Centro Svizzero di Calcolo Scientifico (Swiss National Supercomputing Centre) in Lugano, dem CSCS, bereit. Es handle sich um den weltweit leistungsfähigsten Rechner für KI-Anwendungen, weshalb die Hochschulen diesbezüglich mit den grössten Tech-Unternehmen der Welt mithalten können.
ELLIS – ein europäisches Hochschulnetzwerk
Bereits 2018 wurde ein europäisches KI-Exzellenznetzwerk, das European Laboratory for Learning and Intelligent Systems, ELLIS, geschaffen. Dieses konzentriert sich auf Grundlagenforschung, technische Innovation und deren gesellschaftliche Auswirkungen. Es will mit der Schaffung einer multizentrischen Forschungsstruktur die europäische Position stärken. Zurzeit zählt das Netzwerk 41 Forschungsstellen (und eine assoziierte Einheit) in 17 Ländern (siehe Liste der ELLIS-Standorte). Selbstverständlich wirken die ETHZ und die EPFL beim KI-Exzellenznetzwerk ELLIS mit. Sie luden die Forschenden in diesem europäischen Netzwerk ein, auch bei der Swiss AI Initiative mitzuwirken.
KI-Allianz als Netzwerk von Hochschulen und Tech-Unternehmungen
Vorangetrieben von IBM und Meta wurde im Dezember 2023 die AI Alliance gegründet, eine internationale Community führender Organisationen aus Technologie, Wissenschaft und Forschung. Unter den über 50 Gründungsmitgliedern sind wiederum die ETHZ, die EPFL, zudem das CERN in Genf aufgeführt. Ziel der AI Alliance ist es, eine quelloffene (Open Source) und verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung von KI-Systemen zu fördern.
Unter anderem soll ein Katalog mit geprüften Security- und Trust-Werkzeugen erarbeitet werden, dies als Ansatz zur Selbstregulierung der Tech-Unternehmen. Im Unterschied zu den beteiligten Universitäten, bei denen gemeinnützige Überlegungen im Vordergrund stehen dürften, könnte es den treibenden Kräften hinter der AI Alliance (s. Pressemitteilung zu IBM und Meta) darum gehen, mit dem in der Community gebündelten Wissen ihren Rückstand auf Microsoft und OpenAI aufzuholen, um dann später doch mit proprietären Produkten aufzuwarten.
Initiative am WEF 2024 in Davos: International Computation and AI Network (ICAIN)
Wie aus den Medienmitteilungen vom 17.1.2024 von ETHZ und EPFL hervorgeht, lancierte das EDA am WEF 2024 eine Initiative zum Aufbau eines internationalen Netzwerkes, das ICAIN. Zu den Gründungsmitgliedern gehören die ETHZ (mit dem Swiss National Supercomputing Centre in Lugano, dem CSCS), die EPFL, das KI-Exzellenznetzwerk European Laboratory for Learning and Intelligent Systems (ELLIS), die Data Science Africa (DSA) und das LUMI-Konsortium. Das LUMI-Konsortium, dem 10 europäische Länder angehören, darunter die Schweiz, hostet die Large Unified Modern Infrastructure (LUMI) im Rechenzentrum Kajaani, Finnland.
Mit dem ICAIN soll der Zugang zu Supercomputing und KI-Knowhow weltweit zum Wohl aller Menschen geöffnet werden. Es will Forschungsprojekte fördern, die einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen haben, globale Ungleichheiten abbauen und zur Lösung globaler Probleme beitragen. In einem ersten Pilotprojekt will Data Science Africa die KI nutzen, um die Landwirtschaft resistenter gegenüber negativen Auswirkungen des Klimawandels zu machen. Ein erster Bericht hierzu liegt in den ETH-News vom 16. Dezember 2024 bereits vor.
Das Netzwerk ICAIN verfügt mit dem Supercomputer Alps am CSCS und dem europäischen LUMI über gleich zwei der modernsten und leistungsfähigsten Supercomputer. Mitwirken können Forschungsinstitutionen, internationale Organisationen, Unternehmen und Stiftungen. Der Aufbau des ICAIN soll bis 2025 abgeschlossen sein.
Risiken der generativen KI aufdecken und auch proaktiv angehen
Ebenfalls am WEF 2024 rief das EDA die Initiative Swiss Call for Trust & Transparency ins Leben. Mit geteilter akademischer Leitung von ETHZ und EPFL sollen die Massnahmen durch das ETH AI Center koordiniert werden. Das Netzwerk vereint Technologieunternehmen und öffentliche Forschungseinrichtungen mit dem Ziel, Risiken generativer KI aufzudecken und auch proaktiv anzugehen. Bis Mitte Januar 2024 verpflichteten sich bereits 12 Tech-Unternehmen, darunter auch Microsoft, ihre Kräfte mit dem Netzwerk zu bündeln.
Im Jahresbericht 2023 des ETH AI Center wird auf die Aktivitäten des Red-Teaming Network hingewiesen (S. 19). In Zusammenarbeit von Tech-Unternehmen und Hochschulforschungsstellen werden KI-Systeme getestet (ethisches Hacking). Dies fördere die Sicherheit und ermögliche die Entwicklung von Regulierungsstandards für KI-Tests und das Risikomanagement.
Grundlagenforschung der Hochschulen – unersetzlich für Tech-Unternehmen
Die Tech-Unternehmen sind generell auf die Leistungen der Hochschulen angewiesen. Ihre enormen Gewinne wären ohne die jahrzehntelange, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Grundlagenforschung nicht möglich. Sichtbar wurde dies u.a. mit den diesjährigen Nobelpreisen. Zudem sind die Tech-Unternehmen auf den Forschungsnachwuchs aus den Hochschulen angewiesen, und sie ziehen Nutzen daraus, besonders innovative junge Start-ups aufkaufen zu können. Dies sei kurz am Beispiel der jüngsten Nobelpreise veranschaulicht.
Nobelpreis 2024 in Physik
Erste neuronale Netzwerke waren bereits in den 1980er Jahren entwickelt worden. Aber erst dank der enorm angestiegenen Rechenleistung heutiger Computer und mit den im Internet inzwischen verfügbaren fast unbegrenzten Trainingsdaten entwickelten sie ihr Potenzial und führten zum heutigen KI-Boom. Für ihre jahrelangen Forschungsleistungen erhielten der 91-jährige US-Amerikaner John Hopfield und der 76-jährige Kanadier Geoffrey Hinton den diesjährigen Physiknobelpreis (s. hierzu die Pressemitteilung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften).
Nobelpreis 2024 in Chemie
Mit dem Chemienobelpreis wurden der Chemiker David Baker, der KI-Forscher Demis Hassabis und John M. Jumper ausgezeichnet, dies für ihre Entwicklung von AlphaFold. Diese KI-Anwendung revolutioniert die Vorhersage von Proteinstrukturen und setzt neue Massstäbe in den Biowissenschaften und insbesondere in der Pharmazie. Ohne den Aufbau einer Datenbank für Proteine in jahrelanger Forschungsarbeit wäre es auch hier nicht möglich gewesen, in Verbindung von KI mit grosser Rechenleistung AlphaFold zu entwickeln (s. hierzu die Pressemitteilung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften).
Hochschulen als Talentschmiede – Gründung von Start-ups
Demis Hassabis gründete mit seinem an Hochschulen erworbenen Knowhow das Start-up DeepMind, das später von Google aufgekauft wurde (siehe The Guardian vom 27.1.2014). Heute leitet Hassabis das mit der Forschungsabteilung Google Brain zusammengeführte und in Google DeepMind umbenannte Unternehmen.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen AlphaFold und grundlegenden Konzepten, die in den Neunzigerjahren von Jürgen Schmidhuber am bereits erwähnten Istituto Dalle Molle di studi sull’intelligenza artificiale (IDSIA) in Lugano erarbeitet wurden. Das Potenzial von Jürgen Schmidhubers Forschungen wurde nicht sofort erkannt und vorerst wenig beachtet (so The New York Times vom 27.11.2016). Immerhin erhielt er 2016 den Award des US-basierten Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) für seine bahnbrechenden Arbeiten.
AlphaFold ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr Tech-Unternehmen die Hochschulen als Talentschmiede nutzen. Die Big Tech streiten sich um ausgezeichnete Hochschulabsolventinnen und -absolventen und auch beim Aufkauf besonders innovativer Start-ups. Die US-Computerzeitschrift «Wired» beschrieb kürzlich, wie sich die Tech-Giganten im hartumkämpften Talentmarkt gegenseitig Spitzenkräfte abwerben. Die Hochschulen können nicht mit den Gehältern der Tech-Unternehmen mithalten, aber sie bieten mit wissenschaftlichen Karrieren Renommee.
Zum beiderseitigen Vorteil – Win-win-Situation
Es ist kein Zufall, dass die Tech-Unternehmen – deutlich sichtbar im Fall von Zürich – ihre Forschungsabteilungen im Umfeld renommierter Hochschulen eröffnet haben. Und diese Nähe bringt Vorteile für beide Seiten. Sie bringt Hochschulforschung mit den Big Tech und ihren enormen finanziellen Ressourcen für die KI-Entwicklung zusammen. Im KI-Haifischteich der Tech-Giganten kämpft jeder im Verdrängungswettbewerb um Dominanz. Die Hochschulforschung gewinnt mit den Netzwerken – Wissen ist die einzige Ressource, die beim Teilen wächst – und ihr Wettbewerb wirkt stimulierend.
Das Potenzial, das in der Open-Source-Community liegt, könnte langfristig jenes proprietärer Systeme übertreffen. Es sind weltweit zahlreiche Computerexpertinnen und -experten, die täglich mit ihrer Arbeit Mehrwert für die Community schaffen. Insofern sitzen die Hochschulen möglicherweise am längeren Hebel.
Wichtig ist, dass die Hochschulen in der Zusammenarbeit mit den Big Tech Einblick in deren Forschung erhalten und versuchen können, über die Bündelung ihrer Kompetenzen in den Netzwerken steuernd einzuwirken. Das gibt zumindest Anlass für etwas Hoffnung, dass die KI-Entwicklung nicht völlig aus dem Ruder läuft.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...