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Was fällt stärker auf? Die Fussgängerin auf dem Fussgängerstreifen? Oder die Fitnessbegeisterten auf dem Plakat? © zvg

Strassenreklame: Kommerz vor Sicherheit

Marco Diener /  Reklame entlang von Strassen darf die Verkehrsteilnehmer nicht ablenken. Doch genau das tut sie. Niemand schreitet ein.

Der Grundsatz ist einfach: Damit die Sicherheit im Strassenverkehr gewährleistet ist, darf Reklame entlang von Strassen nicht ablenken. So steht es im Strassenverkehrsgesetz. Und so steht es auch in der Signalisationsverordnung.

Doch wer Geld für Reklame entlang von Strassen ausgibt, will genau das: die Aufmerksamkeit auf seine Plakate lenken. Und zwar nicht nur die Aufmerksamkeit von Fussgängern. Dafür ist die Reklame viel zu teuer. Nein, auch die Aufmerksamkeit von Autofahrern, Camionchauffeuren und Velofahrern.

Das steht im Gesetz

Was entlang von Strassen erlaubt ist und was nicht, regelt das Gesetz relativ klar.

Das Strassenverkehrsgesetz in Artikel 6: «Im Bereich der für Motorfahrzeuge oder Fahrräder offenen Strassen sind Reklamen und andere Ankündigungen untersagt, die (…) durch Ablenkung der Strassenbenützer die Verkehrssicherheit beeinträchtigen könnten.»

Die Signalisationsverordnung in Artikel 96: «Untersagt sind Strassenreklamen, welche die Verkehrssicherheit beeinträchtigen könnten, namentlich wenn sie:

  • das Erkennen anderer Verkehrsteilnehmer erschweren, wie im näheren Bereich von Fussgängerstreifen, Verzweigungen oder Ausfahrten;
  • die Berechtigten auf den für Fussgänger bestimmten Verkehrsflächen behindern oder gefährden;
  • mit Signalen oder Markierungen verwechselt werden könnten;
  • die Wirkung von Signalen oder Markierungen herabsetzen.

Landauf, landab wimmelt es nur so von Strassenreklame, die eigentlich nicht erlaubt wäre. Wegen der obigen Artikel in Strassenverkehrsgesetz und Signalisationsverordnung, die besagen: Reklame darf nicht ablenken. Aber auch wegen konkreter Regeln der Kantone.

Der Kanton Bern beispielsweise hält in seiner Strassenverordnung fest: «Strassenreklamen haben folgende Abstände zum Fahrbahnrand einzuhalten: parallel zur Strassenachse gestellt 1 Meter, in anderem Winkel zur Strassenachse gestellt, 3 Meter.»

Im Kanton Bern werden diese Vorschriften missachtet. Zum Beispiel am Falkenplatz in der Stadt Bern. Dort steht die Reklametafel rechtwinklig zur Strassenachse in einem Abstand von 1,55 Metern. Sie lenkt die Verkehrsteilnehmer ab. Und sie behindert die Fussgänger, die dort eigentlich ein breites Trottoir hätten. Wenn die Reklame nicht wäre.

Falkenplatz
Falkenplatz in Bern: Laut Signalisationsverordnung dürfen Strassenreklamen die Fussgänger nicht behindern.

Die Kantone Aargau, Basel-Land, Bern, Luzern und Solothurn sowie die Stadt Zürich haben gemeinsam ein Merkblatt herausgegeben. Nicht erlaubt ist Reklame laut dem Merkblatt unter anderem:

  • In und bei Kreiseln.
  • Bei Fussgängerstreifen.
  • An Signalen oder in unmittelbarer Nähe davon.
  • Nahe an der Strasse.
  • In Sichtzonen von Verzweigungen.
  • Wo sie Fussgänger behindert.
  • Wo sie von Signalen ablenkt.
  • Ausserhalb der Bauzone.

Doch all die Richtlinien, die Leitfäden und die Merkblätter, die Kantone und Gemeinden herausgeben, sind ein Witz. Denn kaum jemand hält sich daran. Bestes Anschauungsbeispiel sind die Plakate, die vor Wahlen und Abstimmungen entlang der Strassen in der Landwirtschaftszone stehen.

Auch ein Infosperber-Leser ärgert sich über Reklame, welche die Verkehrsteilnehmer ablenkt. Er hat ein paar Beispiele aus der Stadt Freiburg gesammelt. Es sind alles krasse Verstösse gegen Vorschriften, Richtlinien und Empfehlungen.

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Boulevard de Pérolles in Freiburg: In Sichtzonen von Verzweigungen und im Bereich von Fussgängerstreifen, so die Empfehlungen, sollte keine Strassenreklame stehen.
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Route de la Glâne in Freiburg: Die Reklame tut genau, was sie nicht sollte: ablenken.
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Avenue du Géneral Guisan in Freiburg: Kreisel verlangen die volle Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer. Strassenreklame hat da nichts zu suchen.

Das Problem betrifft indessen nicht nur Freiburg. Auch in Bern stehen viele Reklameständer, die eigentlich nicht hätten bewilligt werden dürfen.

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Schützenmatte in Bern: Das Plakat steht nicht in einem Abstand von drei Metern zur Strasse. Und es verdeckt das Lichtsignal.

Wie weit eine Strassenreklame von einem Fussgängerstreifen entfernt sein muss – darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) schreibt in ihrem Merkblatt von einem «erforderlichen Abstand von mindestens 20 Metern». Der Kanton Freiburg untersagt in seinen «Richtlinien zum temporären Anbringen von Reklamen im Rahmen der Ausübung der politischen Rechte» jegliche «Wahl- und Abstimmungspropaganda im Umkreis von 50 Metern» bei Kreiseln, Kreuzungen, Fussgängerstreifen und Verzweigungen.

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Route des Arsenaux in Freiburg: Strassenreklame darf laut Gesetz nicht «die Wirkung von Signalen und Markierungen herabsetzen». Und sie darf nicht «im näheren Bereich von Fussgängerstreifen» stehen.

Der Infosperber-Leser intervenierte bei der Stadtregierung und bei der Kantonspolizei. Erfolglos. Er erstattete Anzeige. Doch die Staatsanwaltschaft betrachtete sich als nicht zuständig. Er leitete das Dossier an das Oberamt weiter. Doch dort sieht man kein Problem.

Die Begründung: Es gebe in den Akten keinen einzigen ernsthaften Hinweis, dass das Bewillgungsverfahren nicht eingehalten worden sei oder dass der Standort der Werbetafeln gegen die das Gesetz verstossen. Dabei legte der Leser acht Fotos vor, die ganz klar einen Gesetzesverstoss dokumentieren.

Dabei ist offensichtlich. Es geht nur ums Geld. Schon vor acht Jahren untersuchte die Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten (SVI) die Wirkung von dynamischer Reklame. Reklametafeln also, deren Sujets hin und wieder automatisch wechseln.

Dynamische Reklame lenkt besonders beim Sujetwechsel stark ab. Je seltener ein solcher Sujetwechsel vorkommt, desto besser. Viele Kantone bewilligen Sujetwechsel frühestens nach 25 Sekunden. In der Stadt Bern sind Sujetwechsel schon nach 8 bis 10 Sekunden erlaubt. Damit folgt die Stadt Bern den Vorgaben der Werbewirtschaft in deren Papier «Standbilder mit leichter Animation». Die SVI schreibt dazu: «Diese Wechselfrequenz wird als kommerziell ideal bezeichnet.»

Ideal für jene, die werben. Ideal aber auch für jene, die daran verdienen. Und dazu gehören die Gemeinden. Die Stadt Bern kassiert für die insgesamt 950 Plakatstellen auf öffentlichem Grund von den Firmen Neo-Advertising und Clear-Channel von 2020 bis 2027 insgesamt 41 Millionen Franken.

Die Stadt Bern ist der Meinung, die kritisierten Strassenreklamen seien legal. Die Stadt Freiburg hat die Fragen von Infosperber auch nach zwei Wochen noch nicht beantwortet.

Weiterführende Informationen


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Keine
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