Schweizer Detailhändler überwachen eigene Kunden für Werbung
Wer eine SPAR-Filiale betritt, dem könnte beim Eingang ein Aufkleber auffallen. Darauf steht: «Um das Publikum besser zu verstehen, betreiben wir Marktforschung. Darum ist dieser Bereich mit Advertima-Technologie ausgerüstet.» In ihrer allgemeinen Formulierung erweckt die Angabe aber einen falschen Eindruck. Die «Advertima-Technologie» erfasst die KundInnen bei Betreten des Ladens mittels 3D-Sensoren und verfolgt ihre Bewegungen im Raum. Die so generierten Daten werden verwendet, um Werbung zu verkaufen.
Gemäss Angaben des Schweizer Betreiberunternehmens Advertima abstrahiert und anonymisiert ein Computer die erfassten Daten der KundInnen automatisch und löscht den Rest. Er wandelt sie so in «demografische Metadaten» um und speichert das geschätzte Alter und Geschlecht der KundInnen. Zudem messen Sensoren:
– die Gesamtverweildauer der KundInnen beim Betrachten eines Inhalts
– die gesamte Aufmerksamkeitsspanne der KundInnen
– die Position und der Abstand vom Screen
– die Laufwege der KundInnen
Dies sei vollkommen legal, gibt Advertima an. «Die Architektur unserer Technologie ist von Grund auf so aufgebaut, dass das Recht der Menschen auf Privatsphäre geschützt wird. Sie ist daher vollständig datenschutzkonform», verspricht Advertima auf der eigenen Website – obschon die Sensoren die Gesichter der KundInnen derart genau analysieren, dass sie Alter und Geschlecht schätzen. In einem Blogpost schrieb der Datenschutzverantwortliche von Advertima, man betreibe keine «Gesichtserkennung» (facial recognition), sondern «Gesichtsentdeckung» (facial detection). Die Technologie könne die gesammelten Daten deshalb keiner bestimmten Person zuordnen.
Doch dem widersprach ausgerechnet Benjamin Wey, der Geschäftsführer eines Joint Ventures von Advertima mit SPAR und der Immobiliengruppe Fortimo. Er sprach letztes Jahr in einem Interview von «aufgenommenen Videos» und meinte: «Der Sensor könnte natürlich Dinge erkennen, die die Rückverfolgung einer Person erlauben.»
Als Beispiel erzählt er: «Kürzlich wurden wir angefragt, ob ein Filtern nach Haarfarbe möglich ist. Für Anbieter von Haarfarben und Kosmetika wäre das praktisch. Technisch wäre das umsetzbar. Wenn man jetzt aber in einer SPAR-Filiale in einem kleineren Ort nach rothaarigen Frauen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren filtert, ist es gut möglich, dass es nur eine Kundin gibt, die diesen Kriterien entspricht. Dadurch wird diese Dame rückverfolgbar und man könnte herausfinden, wann sie nicht zuhause ist.»
Infosperber hat Advertima gefragt: Wie begründet Advertima, dass es sich bei den physischen Merkmalen konkreter Kunden, welche man erfasst und dann bearbeitet, nicht um Personendaten handelt? Advertima beantwortete trotz wiederholter Nachfrage keine konkreten Fragen. «Wir verweisen Sie gerne auf die bereits veröffentlichten Informationen», antwortete CEO Iman Nahvi.
TopPharm erfasst Trottoirs – und gaukelt Genehmigung vor
Advertima ist ein Schweizer Startup mit Sitz in St. Gallen. Das Unternehmen richtete sich kürzlich strategisch neu aus und erfuhr bedeutende Besitzerwechsel. 2020 kommunizierte es den Einschuss von 15 Millionen Euro Kapital durch Investoren wie die Immobilien-Gruppe Fortimo oder SPAR. Advertima unterhält auch Bildschirme in den zu SPAR gehörenden TopCC-Filialen sowie in Toppharm-Apotheken.
Im März 2021 kommunizierte Advertima den Rollout von 240 smarten Bildschirmen in 120 Schweizer Apotheken. In einzelnen Toppharm-Filialen, wie zum Beispiel am Zürcher Limmatplatz, sind die Bildschirme mit Sensoren in Schaufenstern montiert und erfassen PassantInnen ausserhalb der Filialen auf Trottoirs und damit in öffentlichem Raum. Toppharm verwies auf Infosperber-Anfrage zum Datenschutz auf Advertima und sagte, das Unternehmen habe «ein umfassendes Datenschutzkonzept erarbeitet, welches vom Eidgenössischem Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) abgenommen wurde».
Hugo Wyler, Leiter Kommunikation des EDÖB schrieb Infosperber dazu: «Ein Austausch mit dem Beauftragten liegt schon einige Jahre zurück. Der EDÖB ist keine Bewilligungsbehörde – er verfügt nicht über die entsprechenden Kompetenzen – nimmt aber seine Beratungsfunktion wahr. Über den Rollout im März 2021 wurden wir informiert, wozu wir jedoch inhaltlich nicht Stellung genommen haben.»
Auch Migros mischt mit
Advertima erhielt 2017 Risikokapital vom Venture Capital-Arm der Migros Aare und bezeichnete die Migros damals als strategische Partnerin. Gemäss K-Tipp (Paywall) testete die Genossenschaft Migros Aare die Technologie in einzelnen Filialen im 2020 im Rahmen eines Pilotprojekts. Aktuell werde bei ihnen aber nicht mehr mit Advertima gearbeitet, sagte ein Sprecher auf Infosperber-Anfrage. Weshalb die Zusammenarbeit nicht weiterverfolgt wurde, wollte die GMA nicht sagen. Es sei auch keine vergleichbare Technologie im Einsatz.
Anders sieht es in der Ostschweiz aus. Zusammen mit dem Unternehmen Displayactive, ist die Genossenschaft Migros Ostschweiz (GMOS) gerade daran, mit Sensoren bestückte Bildschirme mit Advertima-Software in verschiedenen Einkaufszentren zu installieren. Im Einkaufszentrum Rosenberg in Winterthur beispielsweise stehen bereits zehn Stück davon. Die GMOS gibt an, lediglich den Platz für die Werbebildschirme zur Verfügung zu stellen und will nicht sagen, ob sie damit Geld verdient. Der Betrieb der Werbebildschirme erfolge vollumfänglich durch die Firma Displayactive. Auch Displayactive gibt als Zweck der Datenerfassung und -bearbeitung Marktforschung an.
Auf Infosperber-Anfrage bestätigt Displayactive die Werbeaktivitäten. Man arbeite eng mit Agenturen und Werbetreibenden zusammen. Auch Displayactive stellt sich auf den Standpunkt, man erfasse und bearbeite gar keine Personendaten. Entsprechende Anfragen von KundInnen seien selten und insbesondere in den überwachten Einkaufszentren schaffe die eingesetzte Technologie keine zusätzlichen Einschränkungen.
Überwachung zu statistischen Zwecken wäre erlaubt
Ist der Einsatz solcher Datenfänger legal? Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte (EDÖB) kann nur allgemeine Angaben zur Gesetzeslage machen. Man habe das Vorgehen von Advertima noch nicht konkret analysiert. Klar sei: Daten, die keinen individuellen Personenbezug oder spätere Re-Identifikation ermöglichen, dürften tatsächlich zu statistischen Zwecken wie der Messung von Kundenfrequenzen verwendet werden. Diese anonymisierten Daten dürften jedoch nicht ohne Einwilligung der Betroffenen mit anderen Datenquellen abgeglichen werden.
Doch anscheinend ist dies ein Teil des Advertima-Geschäftsmodells: «Eine neue Einnahmequelle: Vernetzung der Daten von SPAR aus 2,5 Millionen Instore-Besucher-Trackings pro Woche mit Lieferanten und Werbetreibenden», heisst es auf der Firmen-Website. Auf der eigenen Website schreibt Advertima, die Daten der KundInnen würden «regelmässig gelöscht» oder «beschränkte Zeit gespeichert». Im bereits erwähnten Blogpost schreibt der Advertima-Datenschutzverantwortliche, die demografischen Metadaten würden nur zu Analysezwecken genutzt, was ohnehin der Zweck jeder Datensammlung sei.
Advertima sagte Infosperber auf Anfrage nicht, welche Daten von KundInnen effektiv gespeichert werden und wofür, wie lange und von wem sie weiterverwendet werden.
«Marktforschung» statt Werbung: Falsche Zweckangabe
Datenschutzrechtlich besonders relevant ist nämlich, dass Advertima die KundInnen eindeutig zu Werbezwecken – und nicht bloss, wie kommuniziert, für Marktforschung überwacht. Basierend auf den «ermittelten demografischen Merkmalen des Publikums vor dem Bildschirm», wird den KundInnen Werbung für im Shop erhältliche Produkte angezeigt. Dies erfolge in Abgleich mit existierenden Angaben über die KundInnen und deren vorgebliche Bedürfnisse.
Auf der eigenen Website schreibt das Unternehmen: «Die bestehenden Bildschirme von SPAR wurden mit der Smart-Signage-Technologie von Advertima aufgerüstet. Damit sind die Bildschirme in der Lage, die Zielgruppe für jede Person zu ermitteln, die eine Werbung betrachtet, während sie vor dem Bildschirm stehen oder daran vorbeigehen. Basierend auf der Gruppe oder den Einzelpersonen zeigt Smart Signage den Inhalt an, der für das Publikum vor dem Bildschirm am relevantesten ist.» Advertima gibt vor, dass dies bei SPAR deutlich den Umsatz gesteigert habe.
Lucien Jucker, verantwortlich für Datenschutz bei der Stiftung für Konsumentenschutz, sieht das Vorgehen von Advertima deshalb kritisch: «Der Hinweis auf dem Sticker ist auf jeden Fall unvollständig. Wenn dabei Werbung von Externen abgespielt wird, erzielen die Firmen noch Zusatzeinnahmen. Das kann unserer Meinung nach nicht vom Begriff «Marktforschung» abgedeckt sein.»
Advertima wollte Infosperber auch nicht sagen, weshalb man als Zweck der Datenerfassung «Marktforschung» angibt, obschon es eindeutig um personalisierte Werbung geht. Auch SPAR und Toppharm beantworteten diese konkrete Infosperber-Frage nicht.
KundInnen müssten Überwachung ablehnen können
«Wenn Marktforschung angegeben wird, in Wahrheit aber personalisierte Werbung gemacht wird, wäre dies in der Tat ein Problem», heisst es von Seiten des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten. Die juristische Begründung: «Wenn Daten bearbeitet werden, um Kundinnen und Kunden personalisierte Werbung zuzuspielen, liegt ein Personenbezug vor, was im Bereich der Werbung in der Regel kein überwiegendes privates Interesse rechtfertigt. Das würde bei einer einfachen Personendatenbearbeitung bedeuten, dass eine Einwilligung der betroffenen Personen in Form eines Opt-outs nötig wäre.»
Konkret heisst dies: KundInnen müssten vor Betreten der Filialen und Einkaufszentren die Möglichkeit haben, die Datenerfassung und -bearbeitung zu Werbezwecken in ihrem persönlichen Fall abzulehnen.
Darauf, dass es einen grossen Unterschied macht, ob Advertima die Daten zu Werbezwecken erfasst oder nicht, hatte der EDÖB schon 2017 hingewiesen. Damals berichtete «10 vor 10» über einen Test von Advertima in der Schweiz, nachdem eine deutsche Einzelhandelskette Screens mit vergleichbarer Technologie abmontieren musste.
Diese Ansicht der obersten Schweizer Datenschutzbehörde hat Advertima bisher offenbar nicht gekümmert. Trotzdem gibt das Unternehmen an, alles, was man tue auf «Geschäftsethik, Respekt und Vertrauen» auszurichten. Und verspricht Detailhändlern gleichzeitig «Erkenntnisse des Kundenverhaltens aus der physischen Welt die es ihnen ermöglichen sollen, das volle Potenzial der Besucher in ihrem Geschäft zu nutzen.» Und damit «eine neue Einnahmequelle mit beispielloser Gewinnmarge.»
«Verwischung des regulatorischen Konzepts»: Die Rechtssituation
Erfasst und bearbeitet Advertima nun Personendaten? Die rechtliche Lage ist weit komplexer, als das Unternehmen sie darstellt. In einem juristischen Fachartikel in der Zeitschrift International Data Privacy Law zur Situation des EU-Rechts im Rahmen der GDPR (General Data Protection Regulation) analysierten Damian George, Kento Reutimann, Aurelia Tamò-Larrieux u.a. den vergleichbaren Fall des deutschen Detailhändlers Real. Dieser setzte 2016 die Software AdPack ein, um KundInnen personalisierte Werbung anzuzeigen.
In ihrem Aufsatz warnten die ExpertInnen, vorübergehende Datenerfassung und -bearbeitung («transient data») nicht als Bearbeitung von Personendaten zu taxieren, würde die Risiken dieser Art der Datenerfassung und -analyse unreguliert lassen. Sie fassten zusammen: «Die Verwischung der Grenzen von Personendaten führt zur Verwischung des regulatorischen Konzepts an sich.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Was passiert nun? Mit grosser Wahrscheinlichkeit nichts. Solange nicht eine Privatperson oder Organisation sich gegen solche Schnüffeleien wehrt, wird kein Beamter einen Finger rühren.
Das System macht nichts anderes als jeder Händler an einem Marktstand: Angebote, die zum potentiellen Kunden passen. Werbung ist das Fundament einer liberalen Wirtschaftsordnung. Bloss weil mir auf dem Screen ein zu mir passendes Produkt angezeigt wird, heisst das noch lange nicht, dass ich als willenloser Zombie in den Laden torkle und das Zeugs kaufe. Solange die Passanteninformation nicht mit Informationen von Kunden- oder Kreditkarten, Autonummern usw. verknüpt werden, kann ich nicht nachvollziehen, wo da eine Gefahr lauern sollte.
Leider merken Sie nicht, dass Sie mit dieser Gesinnung bereits der ideale Zombie dieser Industrie geworden sind. Informationen über die Gefahren und der bisher erfolgen Missbräuche gibt es zur Genüge.
Unerhört. Ich werde einfach in solchen Läden nicht mehr einkaufen.
In der absolut wirtschaftsgläubigen Schweiz ist es ja schon fast ein Sakrileg, irgendetwas zu kritisieren, was einigen Wenigen noch mehr Geld zur Hochpreisinsel Schweiz bringt.Immerhin sind solche miesen, illegalen und fragwürdigen Methoden, die auch in anderen Ländern verboten sind offenbar nötig, dass ein Wirtschaftszweig von gesund zu kugelrund verdient, während die Löhne und Arbeitsbedingungen zu den schlechtesten überhaupt gehören.Die Kosten für diese teure Überwachungsmethode zahlt selbstverständlich wie Alles andere auch der mündige Konsument.
Danke für diesen Artikel. Es ist so wichtig, dass hier reguliert wird. Und primär geht es um den Schutz der kommenden Generationen, die nicht aufwachsen sollen in einer Gesellschaft verkaufbarer (!!!) Personendaten.
Dazu kommt natürlich auch, dass personalisierte Werbung deshalb so erfolgreich ist, weil das Gros der Menschen kein ausreichend hohes Achtsamkeitsniveau (nach innnen und aussen!!!) hat, um dem Ziel der personalisierten Werbung entgegenzutreten. Das Ziel ist, um es klar zu sagen, dass wir – ohne dies bewusst geplant zu haben – am Ende des Monats weniger Geld in der Tasche haben als ohne personalisierte Werbung.
Danke für den sauber recherchierten und geschriebenen Artikel!
Einerseits ist es mir ungeheuer, in unsern Grossverteilern als gläserner Kunde so manipuliert werden zu können – anderseits ist dies ja genau das Gechäftsmodell, mit dem Google und die andern grossen Internet-Plattformen ihr Geld machen. Und wer von uns gibt dort nicht immer wieder freiwillig seine personenbezogenen Daten preis…?
Danke für diesen Artikel! Ich finde es wichtig, «Errungenschaften» immer auch kritisch zu hinterfragen: Wer braucht was, oder wen, und wozu?
Als Motivation für solche Investitionen und „Errungenschaften“ vermute ich weniger die Dienstleistung am Kunden als vielmehr einen verzweifelter Versuch zur Umsatzsteigerung eines langsam aber sicher aushungernden Wachstums-Molochs.