«Lauterkeitskommission akzeptiert Schönfärberei»
Letzten Herbst beschwerte sich Pro Natura bei der Lauterkeitskommission (SLK) über eine Werbung von Swissmilk (Infosperber berichtete). Pro Natura beanstandete insbesondere die Aussage, die Schweizer Milchwirtschaft fördere die Biodiversität. Nun hat die SLK die Beschwerde abgewiesen (Fall 220/21). Die Begründung: «Die Durchschnittsadressaten vermögen den Kontext der werblichen Aussagen richtig einzuordnen und sind sich bewusst, dass die Milchwirtschaft, wenn sie intensiv betrieben wird, für die Natur auch ihre Schattenseiten haben kann.» Doch Marcel Liner von Pro Natura hat dafür auf Anfrage von Infosperber kein Verständnis. «Wir bezweifeln das und bedauern, dass die SLK solch schönfärberische Werbung weiterhin akzeptiert.»
Auch in der Schweiz gilt: Werbung muss klar und wahr sein. Gemäss Gesetz handelt unlauter, wer in seiner kommerziellen Kommunikation über seine Firma oder Waren unrichtige oder irreführende Angaben macht. Wer der Ansicht ist, jemand handle in diesem Sinn unlauter, kann sich hierzulande bei der Lauterkeitskommission, dem Selbstregulierungsorgan der Werbebranche, beschweren. Damit entfällt die Hürde der hohen Rechtskosten. Und es müssen sich nicht immer gleich Gerichte mit Klagen befassen, weil eine Werbekampagne an der Grenze des Sagbaren kratzt. Allerdings haben Entscheide der Lauterkeitskommission keine Rechtskraft. Das Gremium ist eine private Organisation, betrieben und finanziert von den wichtigsten Verbänden der Werbebranche. Die Interessen der Konsumierenden sind schwach vertreten. Gleichwohl haben SLK-Entscheide eine gewisse Strahlkraft und können auch in die Rechtssprechung einfliessen.
Grosser Interpretationsspielraum
Die SLK orientiert sich in ihren Grundsätzen zwar explizit am Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Wer nun aber annimmt, sie eruiere den Wahrheitsgehalt von Werbeaussagen, liegt falsch. Bei der Beurteilung derartiger Beschwerden orientiert sich das Gremium nämlich zuerst an einer angenommenen Interpretation der Werbung durch die Konsumierenden – und nicht an deren faktisch überprüfbarem Hintergrund. Bereits im SLK-Tätigkeitsbericht von 2001 heisst es: «Der zentrale und massgebliche Gradmesser für die Auslegung einer Angabe in der kommerziellen Kommunikation ist und bleibt der Konsument».
Für diese Orientierung verantwortlich ist jedoch nicht die SLK, sondern Schweizer Recht. In den rechtlichen Vorgaben zur öffentlichen Kommunikation, auf welche sich die Lauterkeitskommission stützt, ist das Verständnis des durchschnittlichen Adressaten zentral. Sowohl im Verhältnis zwischen Anbieter und Abnehmer (Konsumrecht) als auch zwischen Mitbewerbern (Handelsrecht). Auch bei Ehrverletzungen im Zivil- und Strafrecht ist das Verständnis des Durchschnittsadressaten relevant. Die Rechtsprechung greift regelmässig auf diese Rechtsfigur zurück, um das Verständnis und den Sinn einer Aussage zu ermitteln.
Diese Rechtslage gibt der SLK grossen Spielraum zur Interpretation von Werbung. «Darüber wie der Durchschnittskonsument eine bestimmte Aussage versteht, liesse sich lange streiten», sagt SLK-Geschäftsführer Marc Schwenninger auf Anfrage. Bei ihrer Beurteilung kann sie zuerst beurteilen, ob Durchschnittsadressaten eine Werbebotschaft überhaupt als Tatsachenbehauptung verstehen. Oder beispielsweise als Meinungsäusserung, werberische Überzeichnung oder gar ironisches Augenzwinkern. Nur im ersten Fall würde der tatsächliche Wahrheitsgehalt genauer geprüft.
Umgemünzt auf den Biodiversität-Fall heisst das: Die SLK taxierte die Swissmilk-Werbebotschaft «Schweizer Kühe fördern die Biodiversität von Schweizer Wiesen» nicht als Tatsachenbehauptung. Obschon der Absender Swissmilk selber die Botschaft wohl so verstand und entsprechend verteidigte. Gegenüber der BauernZeitung sagte Mediensprecher Reto Burkhardt, die «Themen» seien «mit Quellen belegt». Und auch gegenüber Infosperber versicherte der Verband: «Wir stehen zu 100% hinter unseren Aussagen, die wir in der Kommunikation machen. Alles ist mit wissenschaftlichen Quellen hinterlegt.» (Dies traf jedoch zumindest auf die Antworten auf die Infosperber-Anfrage vor der SLK-Beurteilung nicht zu. Und nach dem SLK-Urteil sagte Swissmilk gegenüber Infosperber, man habe die eigene Argumentation in der Antwort auf die Beschwerde nicht geändert. Infosperber liegt die Swissmilk-Stellungnahme zur Beschwerde nicht vor.)
Glückliche Kühe dank Haltung durch Bauernfamilie
Fragwürdige Werbung aus der Landwirtschaft – die ausserdem noch vom Bund subventioniert ist – hat die SLK hat in letzter Zeit wiederholt mit ähnlicher Argumentation geschützt. 2018 beschwerte sich Animal Rights Switzerland ebenfalls über eine Milchwerbung, welche behauptete, Schweizer Kühe seien «dank Familienanschluss und Weidehaltung» glückliche Kühe. Die SLK wies die Beschwerde ab: «Die Durchschnittsadressaten sind sich den Tatsachen bewusst, dass einerseits der Grossteil der Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz familiengeführte Betriebe sind, und dass andererseits ein «Familienleben» im Sinne einer Lebensgemeinschaft von Stier, Kuh und Kalb oder auch nur von Kuh und Kalb (Mutterkuhhaltung) oder gar eine Herdenhaltung nach wie vor eine absolute Seltenheit darstellt».
Kurz: Den meisten Konsumentinnen und Konsumenten sei klar, dass unter Familienanschluss nicht die Mutterkuhhaltung, sondern der Anschluss an eine Bauernfamilie gemeint sei. «Lauterkeitskommission fällt bizarre Entscheide» titelte die Konsumentenzeitschrift Saldo damals. Céline Schlegel, stellvertretende Geschäftsleiterin von Animal Rights Switzerland, findet die SLK-Begründung noch heute abwegig und haltlos.
Gemütliche Massengeflügelhaltung
Ebenfalls 2018 beschwerte sich die Organisation «Tier im Fokus» über eine Werbung für das BTS-Label («besonders tierfreundliche Ställe») von Proviande mit dem Claim «Logenplätze für unser Geflügel». Diese Aussage wurde mit einem gemütlichen Holzhühnerstall bebildert (Infosperber berichtete). «Proviande suggeriert, dass Schweizer Hühner in Kleingruppen im gemütlichen Holzstall leben würden», schrieb die Tierschutzorganisation und bezeichnete den Gesamteindruck der Kampagne als irreführend. Die meisten BTS-Hühner würden in Massentierhaltung mit Mortalitätsraten von bis zu vier Prozent leben. Die SLK wies die Beschwerde gegen den Gesamteindruck aber ab. Sie argumentierte: «Der Durchschnittsadressat vermag grundsätzlich zu erkennen, dass die Abbildungen und Darstellung nicht 1:1 den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen.» Eine Meinungsumfrage von gfs im Auftrag von «Tier im Fokus» kam zu einem anderen Resultat.
Was verstehen die meisten Leute?
Bei der SLK gilt der «Durchschnittskonsument» seit 2001 als relativ hellsichtig. In der noch heute gültigen Definition aus einer Zeit vor traffic-bolzenden Newsportalen, Smartphone, oder Social Media wird von ihm erwartet, dass er die Werbebotschaft insgesamt wahrnimmt, vollständig zur Kenntnis nimmt und über die zum Verständnis erforderliche Information verfügt. Reto Inglin, juristischer Sekretär der SLK findet, man dürfe als Beschwerdeführerin nicht davon ausgehen, dass die Leute keine Ahnung haben. «Wir haben in der Schweiz einen sehr hohen Bildungsstand. Der Durchschnittskonsument kann Werbung meist richtig einordnen und weiss, dass Werbung versucht, den Scheinwerfer auf die positiven Aspekte zu richten. Er verfällt grundsätzlich nicht der blinden Konsumation.»
Doch Mündigkeit der Konsumentinnen und Konsumenten ist sachabhängig. Dies sagt Ueli Custer, der von 2001 bis 2017 für die SLK als Kammermitglied Beschwerden beurteilte. Er beschreibt die Beratungen als seriöse, sachliche Runden, die sich letztendlich um den gesunden Menschenverstand drehten. «Gerade bei wissenschaftlich komplexen Fragen kommt man als Laie schnell an seine Grenzen. Dann gingen wir meistens auf die Ebene des Durchschnittskonsumenten.» Die zentrale Frage sei gewesen: Wie versteht das jemand, der nichts davon versteht? «Der gesunde Menschenverstand ist ja zunehmend überfordert mit all den Aussagen und Behauptungen.»
ExpertInnenrunde oder repräsentative Umfrage?
Über das Verständnis des Durchschnittskonsumenten diskutieren in der SLK neben den drei letztendlich urteilenden Kammermitgliedern über 20 weitere Personen. Die meisten davon als ExpertInnen. Gemäss Website verstehen sich diese ExpertInnen mehrheitlich auf bestimmte Werbeformen wie Aussen-, Radio- oder TV-Werbung oder vertreten Behörden. Inhaltliche ExpertInnen sind bloss für die Themenbereiche Tabak, Finanzdienstleistungen, Gleichstellung und Gewinnspiele vertreten. Landwirtschafts- oder UmweltexpertInnen fehlen.
Gemäss Schwenninger werden die ExpertInnen vom Plenum je nach Bedürfnis ausgewählt. «Weil wir viele Influencer-Beschwerden hatten, haben wir seit Kurzem einen Influencer-Experten.» Weder ExpertInnen noch Kammermitglieder beziehen ein Gehalt. Lediglich Reisespesen werden entgeltet. Schwenninger findet: «Diese Runde kann sich gut in DurchschnittskonsumentInnen hineinversetzen. Ausserhalb unseres Fachbereichs sind wir alle auch Durchschnittsadressaten.»
Céline Schlegel von Animal Rights Switzerland ist anderer Ansicht: «Wenn die Kommission Annahmen über den Durchschnittsadressaten macht, sollte sie diese durch Fokusgruppen oder Befragungen belegen. Dies würde eine einsehbare Faktengrundlage und damit höhere Glaubwürdigkeit schaffen.» Für Marc Schwenninger würde dies wohl analog einem Gerichtsverfahren bedeuten, dass Beschwerdeführer die Kosten solcher repräsentativer Umfragen übernehmen müssten. «Ich weiss nicht, ob das ein Vorteil wäre zur Lösung dieser Fälle.»
So bleibt die Glaubwürdigkeit des Gremiums aus Sicht der drei NGOs angekratzt. «Tier im Fokus»-Präsident Tobias Sennhauser sagt gar: «Wir waren über das Urteil nicht überrascht, da wir wussten, dass die Lauterkeitskommission eher konservativ ist.» Die SLK ist sich ihrer Rolle als Prügelknabe zwar bewusst. Doch Reto Inglin, der juristische Sekretär der SLK sagt: «Uns ist besonders wichtig, dass wir transparent aufzeigen, wie wir arbeiten. Würde die Unparteilichkeit oder die Unabhängigkeit angezweifelt werden, könnte die Lauterkeitskommission den Betrieb einstellen.» Dies wiederum wäre aber nicht im Sinn von «Pro Natura», «Tier im Fokus» und «Animal Rights Switzerland». Alle drei gaben an, in einem ähnlichen Fall wieder Beschwerde einzureichen, um zumindest über die Öffentlichkeit Druck auf die entsprechenden Werbetreibenden auszuüben. Für sie zählt nicht nur der «Durchschnittskonsument».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Eigentlich führt die SLK mit ihrer Argumentation die gesamte Werbung selbst ad absurdum.
Wäre diese Annahme richtig:
«Der Durchschnittskonsument kann Werbung meist richtig einordnen und weiss, dass Werbung versucht, den Scheinwerfer auf die positiven Aspekte zu richten. Er verfällt grundsätzlich nicht der blinden Konsumation»,
gäbe es grundsätzlich keinen Grund, in der Werbung geschönte Bilder zu verwenden. Alle Auftraggebenden der Werbung könnten sehr, sehr viel Geld sparen.
Und die Werbebranche wäre viel viel kleiner.
Aber da ist ja eben halt diese Trägerschaft der SLK …
Lieber Herr Schären. Das mag von aussen gesehen so sein. Aber auch hier – wie eigentlich überall – ist die Sachlage jeweils nicht so simpel, wie von Ihnen dargestellt. Vor allem geht es in den SLK-Fällen eher selten um Werbung für Alltagsprodukte. Sehr oft geht es um sehr oft Werbung für irgendwelche dubiosen Einträge in Verzeichnissen, die dann vielfach nicht einmal publiziert werden. Es geht also vielfach um reine Abzockerei.
Ich kann die Begründung der Lauterkeitskommission nachvollziehen. Werbung funktioniert (leider) so und ist oft nahe an der Irreführung: Man kann den Shampoo-Hersteller auch nicht verklagen, weil sein Produkt höchstens etwas die Haare reinigt, aber sich beim Konsumenten keine tiefe Zufriedenheit, Lebensglück und innere Harmonie eingestellt hat, obwohl das doch in der Werbung so versprochen wurde.
Die Aussage zu den Kühen ist ja auch nicht völlig falsch, sondern nur meistens: Je intensiver Landwirtschaft betrieben wird, umso geringer wird die Biodiversität, klar. Jedoch gehören die Sömmerungsflächen zu den artenreichsten in der Schweiz, sobald sie nicht mehr genutzt werden, geht die Biodiversität dort zurück. Also kann eine Kulturlandschaft artenreicher sein, als eine Naturlandschaft und darauf könnte sich der Bauernverband zu Recht berufen. Ich finde diese Tatsache übrigens auch ermutigend: Das menschliche Eingreifen in Landschaften muss nicht zwingend zu weniger Artenvielfalt führen.
Besten Dank für den Kommentar. Woher haben Sie die Angaben zur Artenvielfalt der Sömmerungsflächen? Pro Natura argumentiert mit dem Stickstoffausstoss: https://www.infosperber.ch/wirtschaft/landwirtschaft/lauterkeitskommission-prueft-milch-werbung/
Werner Bätzig «Die Alpen – Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft» beschreibt das z.B. so.
Auf Sömmerungsflächen ist jegliche Stickstoffzufuhr verboten, also kann zusätzlicher Stickstoff nur noch übers Futter auf die Alp kommen. Hier bin ich zu wenig im Bild, was erlaubt und was Usus ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Biodiversitätsförderflächen an botanischer Qualität verlieren können, wenn man komplett auf eine Gülle- oder Mistgabe verzichtet (extensive Wiesen werden besser entschädigt, als wenig intensive, daher der Anreiz, zu verzichten). Vielleicht ist es ähnlich mit vielen Sömmerungsflächen: Wenn dort nur auf die Weiden kommt, was die Tiere koten, ist das für die Artenvielfalt nicht schlecht.
Aber eben: Ich versuche hier 10% der Schweizer Landwirtschaft zu verteidigen, gebe aber zu, dass der Grossteil der Landwirtschaft mitverantwortlich ist für den Artenschwund.
Dermassen verdrehte Werbung, wie sie hier als Beispiele gezeigt wird (z.B. die glücklichen Hühner), bewirkt, dass ich der Werbebotschaft noch weniger glaube als vorher schon: Eigentor!
Zudem erweckt die Argumentation der Lauterkeitskommission den Eindruck, es verhalte sich mit ihr und ihrem Mandat gleich wie mit vielen staatlichen Institutionen, die zum Eindämmen von Auswüchsen der Marktwirtschaft eingerichtet worden sind: Ein bisschen eindämmen – ja, aber bitte möglichst zahnlos.