Kommentar

Warum wir ein neues Miet- und Bodenrecht brauchen

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Der Staat sorgt für attraktive Wohnlagen, Grundbesitzer kassieren, Mieter zahlen dreifach – oder müssen ausziehen. Wie lange noch?

Nehmen wir ein konkretes Beispiel in Adliswil, dem Wohnort des Autors. Drei Wohnblöcke zu acht Wohnungen in bester Lage an der Tiefackerstrasse: Bushaltestelle vor dem Haus, Bahnhof, zwei Schulhäuser, Kindergarten, Schwimm- und Hallenbad, Polizeiposten, Stadtverwaltung, Sportanlage, Spazierwege entlang der Sihl, alles in 10 Minuten Gehdistanz. Und weil diese Lage für viele attraktiv ist, gibt es in unmittelbarer Nähe alles, was man im Alltagsleben regelmässig braucht: Bäckerei, Coiffeursalon, Post, Bankfilialen, Grossverteiler, Cafés, Restaurants.

Diese Lage ist den Mietern etwas wert. Deshalb konnte der Besitzer der Immobilien für eine 3,5-Zimmer-Wohnung von den Altmietern bisher 2500 Franken monatlich verlangen. Wenn wir die Baukosten mit 400’000 Franken veranschlagen, setzt sich diese Miete zusammen aus 1670 Franken Kostenmiete (so viel würde eine Wohngenossenschaft verlangen, die keine Baurechtszinsen zahlen müsste) und 830 Franken Abgabe an den Bodenbesitzer.

Bodenbesitzer bereichern sich auf Kosten der Allgemeinheit

Das mediane steuerbare Monatseinkommen der Adliswiler liegt aktuell bei 5300 Franken (die Hälfte hat weniger). Darauf ist eine Steuer von monatlich 405 Franken fällig – nicht einmal halb so viel, wie der Mieter seinem «Landvogt» entrichten muss. Dieser profitiert als «Trittbrettfahrer» ohne eigenes Zutun von den vielfältigen Leistungen des Staates.

Doch damit nicht genug: Weil immer mehr kaufkräftige Fachkräfte in unser Land ziehen und weil die globalen Finanzmärkte gern in Schweizer Immobilien investieren, steigen die Mieten. In Adliswil können neue 3,5-Zimmer-Wohnungen heute zu 3200 Franken vermietet oder für 1,55 Millionen verkauft werden. Hinzu kommt: An zentralen Lagen darf immer dichter gebaut werden. (An der Tiefackerstrasse neu vier statt wie bisher drei Stockwerke). Deshalb sind die Immobiliengesellschaften im Interesse ihrer Aktionäre fast schon gezwungen, bestehende Wohnbauten abzureissen, dichter zu bauen und teurer zu vermieten. Siehe Tiefackerstrasse.

Wie der Besitzer dieser Liegenschaften kalkuliert, ist unbekannt. Doch der Immobilienberater Wüest Partner (W+P) hat in seinem neuesten Immo-Monitoring ein «typisches Ersatzneubauprojekt» an guter Lage in Zürich vorgestellt. Bisher konnte man auf dem Grundstück acht 3,5-Zimmer-Wohnungen bauen, neu sind es 14 Wohnungen dieser Grösse. Die Bau- und Abrisskosten werden von W+P auf 400’000 Franken pro Wohnung veranschlagt. Werden diese Wohnungen neu zu 3200 Franken vermietet, steigt (bei unverändert 1670 Franken effektiven Kosten) die Boden- bzw. Lagerente von 830 auf 1530 Franken pro Wohnung. Weil zudem auf demselben Grundstück 14 statt 8 Wohnungen gebaut werden können, hat sich der (Ertrags-)Wert des Bodens mehr als verdreifacht. Letztlich zu Lasten der Mieter oder Neukäufer.

Diese massive Trittbrettfahrerei der Bodenbesitzer hat einschneidende volkswirtschaftliche und soziale Konsequenzen. So werden die Grundbesitzer immer reicher und die Mieter immer ärmer.

Hohe Mieten sind volkswirtschaftlich und sozial extrem kontraproduktiv

Dazu ein Rechenbeispiel: In der Ausgangslage haben alle Adliswiler das gleiche Monatseinkommen von 8000 Franken, und alle wohnen auf dem eigenen Boden. Dieser ist damit praktisch gratis. Niemand zahlt jemandem eine Bodenrente. In einer anderen Variante besitzen 10 Prozent der Adliswiler allen Boden. Dann entfallen auf jeden Bodenbesitzer neun Mieter, von denen ihnen jeder eine Boden- bzw. Lagerente 1530 Franken bezahlt. Ihr Gesamteinkommen nach Bodenrente steigt damit um 13’770 auf 21’770 Franken, während das der Mieter um 1530 auf 6470 Franken sinkt. Deshalb müssen sie ihren Konsum einschränken, was sich wiederum nachteilig auf das lokale Gewerbe auswirkt.

Zudem: Eine Miete von 3200 Franken ist nur noch knapp tragbar für das reichste Viertel der Adliswiler Haushalte (mit einem steuerbaren Einkommen von 8350 Franken und mehr). All die Bäcker, Wirte, Maurer, Polizisten, Verkäuferinnen, Fitnesstrainer usw., die mit ihrer Arbeit für das Wohl der Adliswiler sorgen, müssen in weit entfernte Vororte ausweichen und lange Arbeits- und Einkaufswege und Transportkosten in Kauf nehmen. Sie verbringen immer mehr Zeit im Stau. Sie haben weniger Geld für die diversen Angebote des einheimischen Gewerbes und weniger Zeit, um sich am politischen und kulturellen Leben zu beteiligen.

Das alles ist volkswirtschaftlich und sozial extrem kontraproduktiv. Gemäss einer Studie der Universität Neuenburg von 2012 dienen rund 75 Prozent der Schweizer Jobs dem lokalen und regionalen Bedarf. Tendenz steigend. Die Raumplanung müsste deshalb dafür sorgen, dass die lokalen Arbeitskräfte auch im Ort wohnen können. Gemäss der ETH-Städteplanerin Sibylle Wälti wird dieses Ziel am besten mit «10-Minuten-Nachbarschaften» erreicht. Dazu müssen in einem Radius von rund 500 Metern, also in Gehdistanz, Wohn- und Gewerberaum für mindestens 10’000 Menschen und 5000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Solche Nachbarschaften sind ideale Produktions- und Konsumgemeinschaften. Sie bieten dank kurzen Wegen viel Lebens- und Wohnqualität zu tiefen ökologischen und finanziellen Kosten. Doch die Eigentumsrechte am Boden verhindern genau das, wie das Beispiel von Adliswil zeigt.

Mieten müssten der Kaufkraft der lokalen Bevölkerung entsprechen

Das Problem liesse sich einfach lösen: Die Vermieter müssten verpflichtet werden, den grösseren Teil ihrer Wohnungen zu Mieten anzubieten, die der Kaufkraft der lokalen Bevölkerung entsprechen. Die Folge wäre nicht etwa, dass sich bauen nicht mehr lohnt, sondern bloss dass die Bodenbesitzer entsprechend weniger für ihr Bauland verlangen können.

Die Idee ist übrigens nicht neu: Im letzten Jahrhundert wurden in den Bürgerhäusern der oberste Stock für die Bediensteten reserviert. Im vorletzten haben Fabrikherren für ihre Arbeiter Wohnhäuser gebaut. In beiden Fällen wurde die Miete selbstverständlich den Löhnen angepasst.

Volkswirtschaftlich gesehen ist der Wohnungsbau keine teure Sache. Die jährlichen Gesamtausgaben für den Bau und Unterhalt von Wohnungen belaufen sich auf wenig mehr als 30 Milliarden Franken. Darin sind die Ausgaben für die Zweitwohnungen und für jährlich mehrere Zehntausende neue Wohnungen für die Zuzüger inbegriffen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Löhne für die Maurer, Gipser, Plattenleger etc. weit unter dem landesweiten Durchschnitt liegen. Dass sich Durchschnittsverdiener heute eine durchschnittliche Wohnung kaum noch leisten können, liegt nicht an den Bau- Unterhalts- und Verwaltungskosten, sondern allein an den hohem Immobilienpreisen.

Trittbrettfahrerei der Bodenbesitzer stoppen

Doch ist die Eigentumsgarantie nicht «ein Pfeiler jeder liberalen Staatsordnung», wie es die Zürcher Regierungsrätin Carmen Walker-Späh von der FDP kürzlich gegenüber der NZZ gesagt hat? Das ist ein Missverständnis: Das Privateigentum an Boden war zwar eine wichtige Geschäftsgrundlage der vorindustriellen Agarwirtschaft. Wer hätte den Acker bestellen und säen wollen, wenn auch andere ernten konnten? Privateigentum hatte den Zweck, Leistung zu belohnen und Trittbrettfahrerei zu verhindern. Ohne das private Verfügungsrecht über den Boden wären die Äcker vergandet, und wir wären verhungert. Heute ist der Boden zwar immer noch die Grundlage der Ernährung, aber rein marktwirtschaftlich gesehen, dient er in erster Linie als Untergrund für Bauten aller Art – insbesondere für Wohnbauten. Und für den Bauboden gelten andere ökonomischen Gesetze als für den Nährboden.

Wie wir gesehen haben, ist die «Fruchtbarkeit» des Baubodens eine vom Staat orchestrierte und vom Steuerzahler berappte kollektive Leistung. In der modernen Industrie- und Dienstleistungswirtschaft bewirkt unbeschränktes privates Verfügungsrecht über den Boden, dass der Bodenbesitzer als Trittbrettfahrer mitfährt und kassiert. Die Eigenleistung des Bauherren liegt allein in Bau, Unterhalt und Verwaltung der Liegenschaft. Dafür soll er – angemessen – entschädigt werden. Und nur dafür – für das Gebäude – ist die Eigentumsgarantie wirtschaftlich zielführend.

Recht hat Walker-Späh hingegen mit der Aussage, dass Eingriffe in das Privateigentum an Boden «Rechtsunsicherheit» schaffen und «Gift für die Investitionen» sein können. Wer in der Annahme, dass er alle Wohnungen zu Marktpreisen vermieten kann, 50 Millionen für ein Grundstück bezahlt hat, verliert viel Geld, wenn er nicht mehr das Maximum aus den Mietern herauspressen kann. Dasselbe gilt auch für die Bank, die den Kauf mit einer Hypothek finanziert hat.

Der Weg zurück ist mit faktischen und rechtlichen Schwierigkeiten verbunden. Es muss erlaubt sein, auf diese hinzuweisen. Doch wir müssen endlich auch die riesigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme sehen, die wir uns mit der weitgehend unbeschränkten Trittbrettfahrerei der Bodenbesitzer einbrocken.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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