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Manche Schweizer wissen nicht, wohin mit dem Geld –, die meisten schon. © SRF

Warum die Miete nicht mehr zum BIP passt

Werner Vontobel /  Bei der Diskussion um Löhne und Mieten werden die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge systematisch ausgeblendet. Wir blenden ein.

Eine Volkswirtschaft ist dazu da, dem Volk eine angemessene Lebenshaltung zu ermöglichen. Wir leben in einer hoch spezialisierten Wirtschaft, in der alle, als Coiffeuse, Ärztin, Spengler, Masseur et cetera immer nur einen sehr kleinen Teil zur Lebenshaltung aller beitragen. Als Entschädigung erhalten wir Gutscheine zum Bezug von Anteilen aus dem Bruttoinlandprodukt (BIP).

Wie hoch diese ausfallen, hängt von der Produktivität der Volkswirtschaft ab. In der Schweiz wird jede der acht Milliarden Arbeitsstunden im Schnitt mit etwa 75 Franken entlöhnt. Wie sich das auf die einzelnen Tätigkeiten verteilt, ist das (Zufalls-)Ergebnis eines politisch gesteuerten Marktmechanismus. Dieser sollte so geregelt sein, dass man sich auch mit einer weniger gut bezahlten Tätigkeit zwei Kinder leisten kann. Womit sich die Frage aufdrängt, mit welchem Stundenlohn man eine solche Familie durchbringt.

Die Antwort kommt von der offiziellen Haushaltsbudget-Erhebung von 2019, wo die Ausgaben und Einnahmen der «Paarhaushalte mit Kindern» nach Einkommensklasse aufgeführt sind. Danach hatte das ärmste Fünftel mit durchschnittlich 3,82 Personen monatlich Ausgaben von 7050 Franken.

Davon entfielen 2100 Franken auf Steuern und Sozialversicherungen, also auf kollektiv finanzierten Konsum, etwa für den Schulbesuch. Das ist deutlich weniger als die 7500 Franken, die das reichste Fünftel bezahlt hat. Auf dieser Ebene findet also schon mal eine Umverteilung statt. Was der Arbeitgeber an Lohn spart, schiesst der Staat nach.

Ein weiterer wichtiger Ausgabenposten von rund 1500 Franken entfällt auf Wohnen und Energie. Hier ist der Abstand zum Durchschnitt mit 1600 Franken und zum reichsten Fünftel mit rund 2000 Franken deutlich geringer. Vermutlicher Hauptgrund: Von den Armen sind 70 Prozent Mieter, von den Reichen nur etwa 30 Prozent.

40 Franken pro Stunde zum Leben

Die Statistik sagt nichts über die geleistete Erwerbsarbeit. Im Schnitt arbeiten Schweizer Arbeitnehmer monatlich 129 Stunden. Statistisch belegt ist auch, dass bei Familien mit zwei Kindern pro Elternteil 53 Wochenstunden Haus- und Betreuungsarbeit anfallen.

Wenn wir also mit 1,5 Normalpensen Erwerbsarbeit, sprich mit 194 monatlichen Arbeitsstunden rechnen, dürfte das eher an der oberen Belastungsgrenze liegen. Um mit diesen 194 Arbeitsstunden 7050 Franken Ausgaben zu finanzieren, bräuchte es einen Stundenlohn von 36 Franken. Berücksichtigt man die Teuerung und die Tatsache, dass der statistische Haushalt mit 3,8 Personen etwas zu klein ausgefallen ist, kommt man auf eine Grössenordnung von 40 Franken pro Stunde. So viel müsste ein fair geregelter Markt auch für die «einfachen» Arbeiten bezahlen.

Könnte sich die Schweiz Mindestlöhne von 40 Franken überhaupt leisten? Oder ist vielleicht schon der vom Stadtzürcher Stimmvolk verabschiedete Mindestlohn von 23.90 Franken – wie die Vertreter der Arbeitgeber behaupten – viel zu hoch?

Natürlich: Eine abrupte Erhöhung würde zu schwer abseh- und beherrschbaren Reaktionen führen. Aber aus verteilungspolitischer Sicht stünde dem wenig entgegen. Zwar gingen diese Lohnerhöhungen zulasten der Reichen, aber diese müssten noch nicht einmal ihre Gürtel enger schnallen. Es würde – rein rechnerisch – vollauf reichen, wenn die Oberschicht nur noch gleich viel sparen würde wie das zweitreichste Fünftel.

Zu viel Ungleichheit macht krank

Aus historischer Perspektive muss man sich vielmehr fragen, ob wir uns eine derartig einseitige Verteilung von 2 zu 1 für den Konsum oder gar 4 zu 1 für das verfügbare Einkommen leisten können. Hätten unsere Vorfahren die Beute derart einseitig verteilt, wäre die Menschheit längst ausgestorben.

Doch auch heute lebt die Unterschicht ungesund. Das betrifft insbesondere die Männer, die nicht nur eine um rund fünf Jahre tiefere Lebenserwartung haben, sondern auch rund neun Jahre länger krank sind (hier).

Dies wiederum führt zu erheblichen Kosten für die Allgemeinheit. Die dadurch nötig gewordene Umverteilungsbürokratie kostet auch. Unter dem Strich dürfte unsere zu einseitige Einkommensverteilung auch für die grosse Mehrheit zumindest mit finanziellen Einbussen verbunden sein.

Bleibt die Frage, warum unsere Einkommensverteilung schiefer ist, als uns allen lieb sein kann: Gut 80 Prozent aller bezahlten Arbeit wird von Schweizern für Schweizer geleistet. In diesem Bereich des Binnenmarktes entsprechen die für diese Leistungen bezahlten Löhne im Bereich von etwa 40 bis 120 Franken in etwa den BIP-konformen Lebenshaltungskosten.

Doch die Schweiz betreibt auch Handel und freien Personenverkehr mit Ländern, deren Lebensstandard viel tiefer ist. Bauarbeiter, Kinderbetreuerinnen, Pfleger et cetera aus diesen Ländern sind bereit, für viel tiefere Löhne zu arbeiten. Sie können ihre Lebenshaltungskosten auch dadurch drücken, dass sie ihre Familien zuhause lassen, indem sie als Grenzgänger arbeiten oder als Kurzarbeiter in Baracken wohnen. Damit drücken sie auch die Löhne ihrer direkten Schweizer Konkurrenten.

Am fetten Ende der Wertschöpfungsketten

Doch da ist auch noch die Sache mit den weltweiten Wertschöpfungsketten, an deren fetten Enden schätzungsweise zehn Prozent der Schweier Arbeitsstellen angehängt sind. Das Problem ist hier Folgendes: Etwa 95 Prozent der Arbeit steckt in Erzeugnissen, die in Ländern mit tiefen Lebenshaltungskosten hergestellt werden. Verkauft werden die Produkte aber in hochpreisigen Ländern. Dies verhilft den wenigen, die diese Produkte als Financiers, Designer, Werbeträger und so weiter noch verfeinern, zu einem enormen Hebel. Sie erreichen damit Löhne, die den Rahmen der Volkswirtschaften, in denen sie leben, bei weitem sprengen.

Aber es kommt noch viel schlimmer: Weil diese Oberschicht nicht zehn-, sondern höchstens fünfmal so viel konsumieren kann wie die Normalbürger, kann sie entsprechend mehr sparen – und diese Ersparnisse investieren. Am besten in Liegenschaften. Siehe Roger Federer am Zürichsee.

Das betrifft aber nicht nur die Top-3-Prozent der Schweiz, sondern im Prinzip alle, die sehr reich und mobil sind und gerne in die Schweiz ziehen. Inzwischen sind es jährlich fast 100’000. Das treibt die Bodenpreise nicht nur an den Hotspots hoch, sondern überall. Sogar auf dem Albispass bei Zürich werden jetzt Tiny-Houses mit 27 Quadratmetern Wohnfläche für 2150 Franken vermietet. Vermutlich an Expats, die am Wochenende in ihre «Homebase» nach London fliegen.

Steigende Bodenpreise spalten das Land

Die Inflation der Bodenpreise sprengt den Rahmen unserer Binnenwirtschaft mit ihrer natürlichen beziehungsweise BIP-gegebenen Kaufkraft von 40 bis 120 Franken pro Arbeitsstunde. Sie teilt die «Eingeborenen» in zwei Klassen: Hier die Bodenbesitzer, die von der globalen Kaufkraft profitieren. Dort die «Landlosen», die einen immer grösseren Teil ihrer Einkommen an ihre «Landlords» abtreten müssen. Die Preise und Mieten, die diese verlangen können, hängen allein von der Kaufkraft und von der Leidensfähigkeit der Wohnungssuchenden ab.

Der Spielraum ist beträchtlich: Wenn etwa das reichste Fünftel – immer bezogen auf die Paarhaushalte mit Kindern – seinen Konsum auf das Niveau des mittleren Fünftels senkt, könnte es sich eine um rund 3000 Franken teurere Miete leisten und dennoch 25 Prozent seines Bruttoeinkommens sparen. Dank ihrer finanziellen Potenz haben die Reichen aber auch die Möglichkeit, eine Eigentumswohnung zu kaufen und auf die Seite der Sieger zu wechseln.

Das hält die Schweiz nicht mehr lange aus. Konkret halten es die ärmeren 20 oder gar 40 Prozent nur so lange aus, bis ihr Vermieter seine Liegenschaft für die globale Kundschaft renoviert. Statt 1500 müssten sie dann schnell einmal 2500 oder gar 3000 Franken zahlen – was ihr Budget bei weitem sprengt, ihre Gesundheit gefährdet und sie in die Sozialhilfe treibt.

Wohnen ist billig – eigentlich

Dabei müsste Wohnen aus Sicht der Binnenwirtschaft eigentlich billig sein. Die Löhne im Bau, im Unterhalt und bei der Verwaltung von Wohnungen liegen insgesamt am unteren Rand der binnenwirtschaftlichen Lohnskala, zumal in diesen Branchen oft billige Kräfte aus dem Ausland beschäftigt werden. Maurer, Fliesenleger und Hauswarte verdienen zwischen 35 und 45 Franken.

Das erklärt, warum Genossenschaften auch heute noch Wohnungen von 100 Quadratmetern kostendeckend für 1400 Franken oder weniger vermieten können. Wer stattdessen die heute üblichen 3000 Franken oder mehr kassiert, steckt eine fette Beute ein – die er oder sie mit dem Bodenbesitzer teilen muss.

Die soziale Zeitbombe tickt, doch auch die Medien, die eigentlich hellhörig sein müssten, hören nicht hin. Sie haben zwar schon zur Kenntnis genommen, dass Wohnraum für Normalverdiener unerschwinglich wird, aber sie schaffen es nicht, das gesamtwirtschaftlich einzuordnen.

Sie haben sich offenbar mit der «neuen Realität» abgefunden und werfen stattdessen – auf vielen seitenlangen Artikeln – die Frage auf, ob die «Privilegien» der schweizweit vier Prozent Genossenschaftsmieter noch gerechtfertigt seien. Die Gewinne der Vermieter und der Bodenbesitzer hingegen werden nicht hinterfragt. Das sei halt der Markt.


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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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