Zynischer Leitartikel der NZZ zum Bevölkerungswachstum
upg. Andreas Thommen, Geschäftsführer von Ecopop, hat uns zum Leitartikel auf der Frontseite der NZZ vom 26. November folgende Replik zugestellt.
Diese Schlagzeile auf der Frontseite verbreitete NZZ-Chefökonom Peter A. Fischer. Es kümmert ihn offensichtlich wenig, dass gegenwärtig 828 Millionen Menschen hungern und eine weitere Milliarde Menschen chronisch mangelernährt sind.
Fischers erstes Argument: Schon Malthus habe sich vor mehr als zweihundert Jahren getäuscht:
«Damals (1798) näherte sich die weltweite Bevölkerung gerade der Milliardengrenze. Seit Mitte dieses Monats wird die Erde laut den Schätzungen der Uno von mehr als acht Milliarden Menschen bewohnt. Das wäre Malthus wohl nicht im Traum eingefallen.»
Daraus folgert NZZ-Redaktor Fischer: «Die erste frohe Botschaft lautet, dass der blaue Planet viel mehr Menschen zu ernähren vermag, als sich das Malthus vorstellen konnte!»
Zur Einordnung: Zu Zeiten von Malthus lebten auf unserem Planeten rund eine Milliarde Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass damals etwa 300 Millionen Menschen hungerten. Heute hungern laut Schätzungen des Welt-Hunger-Indexes 828 Millionen Menschen. Zusätzlich leiden eine Milliarde Menschen an chronischer Mangelernährung. Das führt zu Auszehrung, Wachstumsstörungen und hoher Kindersterblichkeit.
Die frohe Botschaft, die laut Fischer Mut machen soll, war wohl folgende:
Es hungert heute nur noch ein Viertel, statt wie zu Malthus Zeiten ein Drittel der Menschheit. Doch von dieser relativen Verbesserung haben die Armen der Welt nicht gegessen. Die Erde kann heute vier Milliarden mehr schlecht als recht ernähren und gleichzeitig etwa zwei Milliarden gut bis überernähren. Die Zahl der Unter- und Mangelernährten ist heute mit 1,8 Mia Menschen mehr als sechsmal höher als zu Malthus’ Zeiten. Originalzitat der NZZ:
«Dem allergrössten Teil der Menschheit geht es heute sehr viel besser als vor 225 Jahren. Wir können uns wesentlich mehr leisten als unsere Vorväter und leben erst noch viel länger.»
Auf Kosten von anderen
Tatsächlich geht es zwei Milliarden Menschen materiell sehr gut. Allerdings bräuchte ihr Lebensstil, falls ihn die ganze Menschheit erreichen wollte, mindestens die Ressourcen von drei Planeten wie die Erde.
Wenigstens zwei Schattenseiten streitet auch Fischer nicht ab: «Die Übernutzung hat Umweltschäden verursacht und Urwälder dezimiert.» Und zweitens seien «nicht alle Lebensmittel nachhaltig produziert».
Vieles erwähnt Fischer nicht: Immer mehr Böden versauern, sind ausgelaugt, degradieren und erodieren. Weltweit gehen jedes Jahr 10 Millionen Hektar fruchtbares Ackerland verloren. Das Grundwasser ist mit Pestiziden belastet. Über 663 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 2,4 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Gleichzeitig sinken die Grundwasserspiegel weltweit. Tausende von Tier- und Pflanzenarten wurden ausgerottet.
Fast alle Probleme könne man lösen, meint jedoch Fischer, wenn man nur endlich «eine verantwortungsvoll gehandhabte Nutzung von Gentechnologie zulässt». Deshalb kommt Fischer zum optimistischen Schluss:
«Auch aus ökologischer Perspektive sollte die 8-Milliarden-Welt Mut machen». Die Zahl der Menschen auf der Erde werde ja «in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit gut zehn Milliarden ihren Höhepunkt erreichen und danach wieder langsam zu schrumpfen beginnen». Das werde dann «die Reduktion der Treibhausgasemissionen erleichtern».
«Wir» sind längst nicht alle
Fischers mutmachende Sätze bekommen einen weiteren Dämpfer «Wir», die wir uns materiell mehr leisten können, sind lediglich eine Minderheit: Sowohl in Südasien als auch in Afrika südlich der Sahara ist die Hungerlage ernst. Südasien verzeichnet die weltweit höchste Auszehrungs- und Wachstumsverzögerungsrate bei Kindern. Afrika südlich der Sahara hat die weltweit höchsten Raten von Unterernährung und Kindersterblichkeit. Und alles andere als erfreulich: Diese Zahlen sind wieder am Steigen.
Das Ziel der UN-Development Goals, bis ins Jahr 2030 den Hunger weltweit zu besiegen, rückt mit Corona- und Ukrainekrise in weite Ferne. Ebenso die Klimaziele, denn diese Menschen wollen, bzw. müssen ihren Lebensstandard massiv verbessern, dies haben sie an der Klimakonferenz in Sharm el Sheikh klar gemacht. Dies führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr CO2-Ausstoss.
Wären wir jetzt nur halb so viele Menschen, müsste niemand hungern
Malthus hat sich in seinem Kenntnisstand von 1798 wohl geirrt. Aber Fischer behauptet, dass das Bevölkerungswachstum auch noch im Jahr 2022 kein Problem sei: «Aber das ändert nichts daran, dass dank technologischem Fortschritt sehr viel mehr möglich geworden ist, als die Propheten der Grenzen des Wachstums wahrhaben wollen».
Falls wir aber damals auf Malthus gehört hätten, dann wären wir jetzt vielleicht nur halb so viele Menschen und niemand würde hungern! Zudem wäre es wohl einiges einfacher, die Klimaziele zu erreichen.
Sinkende Geburtenraten und das Problem ist gelöst
Fischer weiter: «Die zweite, mittelfristig noch wichtigere frohe Kunde der 8-Milliarden-Welt lautet, dass die Weltbevölkerung nicht immer weiterwächst, wenn sich die Lebensgrundlagen verbessern.»
Ja, «wenn». Wieso setzt sich Ökonom Fischer nicht dafür ein, dass das Menschenrecht auf Familienplanung weltweit durchgesetzt wird und damit 121 Millionen ungeplanter Schwangerschaften vermieden werden? Damit liessen sich die Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen einiges einfacher verbessern.
China sei Dank
Mut macht laut Fischer auch, dass «Hunderte Millionen von Menschen in den vergangenen Jahrzehnten in den Entwicklungs- und Schwellenländern aus bitterer Armut befreit» wurden.
Als langjähriger China-Korrespondent weiss Fischer wohl, dass der mit Abstand grösste Teil dieser aus der Armut befreiten Millionen aus China stammt. Das staatskapitalistische China hat gezeigt, wie es geht. Zuerst die Geburtenrate senken und dann die sogenannte demografische Dividende abschöpfen. Der Fachbegriff demografische Dividende bedeutet: Geburtenstarke, vollbeschäftigte Jahrgänge, die selber wenig Nachkommen haben und dann stattliche Vermögen vererben.
Ob Afrika oder Indien diese Wende auch schaffen, steht noch in den Sternen. Es bräuchte Ausbildungsplätze (z.B. Schulen und Lehrstellen) und Arbeitsplätze in enorm kurzer Zeit. Den Ländern im armen Süden läuft schlicht die Zeit davon. Ägypten wächst jährlich um eine Million Menschen. Das Land müsste also jedes Jahr etwa 500’000 neue Arbeitsplätze schaffen. Dies schafft nicht mal das Wirtschaftswunderland Deutschland.
Malthus und Marx?
Malthus hatte insbesondere die Armen aufgefordert, weniger Kinder zu bekommen. Das war sein grösster strategischer Fehler. Dies war schon damals den (fast) Zeitgenossen Marx und Engels sauer aufgestossen.
So stand Malthus seit Beginn weg in der Kritik, dass er den Armen verbieten wolle, Kinder zu haben, während die Reichen machen dürften, was sie wollen. Der Punkt war aber schon damals: Die Reichen hatten relativ wenig Kinder, während die Armen sich wegen kinderreicher Familien nicht aus der Armutsspirale befreien konnten. Dies stimmt leider weitgehend noch heute.
Aber offensichtlich müssen noch Abermillionen zur Welt kommen, die dann hungern, bevor auch der Chefökonom der NZZ begreift, dass ein so schnelles Bevölkerungswachstum niemandem hilft.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Agronom Andreas Thommen ist Geschäftsführer von Ecopop.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bei solchen Überbevölkerungsartikeln wie in der NZZ wird am Schluss immer gern der Segen der Gentechnik beschworen: nur verzögert diese die fatalen Folgen höchstens. Sie baut keine Böden auf, lagert keine Humusschicht an, hält kein Wasser zurück oder Erosion auf, pflanzt keine Bäume, baut keine Schulen, Krankenhäuser, Strassen, unterstützt nicht bei der Geburtsmedizin usw. Außerdem hat es etwas Koloniales. Man empfiehlt den Armen und Hungernden ein Mittel was man selbst bei sich nicht haben möchte.
Das Problem scheint mir nicht, dass die NZZ solch einen Wahnwitz verbreitet, sondern dass diese Haltung – wie in den Schlaraffenländern üblich – wahrscheinlich auch einer Mehrheit der (wohlstandsverwahrlosten) Menschen in der Schweiz entspricht.
Der Titel «Die acht Milliarden machen Mut» auf der Frontseite der NZZ war wohl als Provokation gedacht. Er ist aber vor allem eine Dummheit. Leider ist Ecopop die einzige Organisation in der Schweiz, die sich dem Thema «Bevölkerungswachstum» sachlich und politisch ernsthaft annimmt. Immerhin gibt es seit gut einem Jahr auch eine europäische Organisation, die European Alliance for a Sustainable Population.
Etwas anderes können die Adepten des ewigen Wachstums ja gar nicht sagen, sonst müssten sie ihre ideologische Weltanschauung in Frage stellen und durch etwas anderes ersetzen. Solange die Bevölkerung wächst, kann die NZZ auch auf Wachstum bezüglich der Anzahl Abonnenten hoffen. Die Behauptung, es gehe heute ‹dem grösseren Teil der Menschheit besser als im 18 Jahrhundert bleibt unbewiesen. Damals hatte niemand den Verschleiß an Ressourcen, oder produzierte Abfälle in dem Ausmaß, wie der heutige Mensch – die Frage ist also, leben wir auf ‹Pump› und kriegen irgendwann mal die Rechnung dafür, dass es uns heute (angeblich) so gut geht. Dass das System Erde bisher nicht kollabiert ist, beweist auch nicht, dass die acht Milliarden Menschen ‹kein Problem› sind – es belegt lediglich, wie gut das System Erde konstruiert ist und wie viele Eingriffe es vertragen kann. Die Frage ist, wird es sich auch weiterhin so gut halten, wie bisher. Die Anzeichen deuten eher auf Nein.
Danke, dass die verblendeten «Hohepriester» der Verschleisswirtschaft von der Falkenstrasse hier kompetent kritisiert werden. Mit Malthus (in diesen Debatten stets ein Totschlagargument) sollte man aber aufhören. Er war ein übler Sozialdarwinist, der nur Menschen ein Lebensrecht zugestand, welche «die Wirtschaft braucht» – also «rentieren». Das ist die verquere Ideologie der NZZ: Der Mensch soll nicht wirtschaften um zu leben, sondern leben, damit die Wirtschaft läuft – und Profite sprudeln. Für diese Wachstumswirtschaft ist klar: Je mehr Menschen – desto besser. Und niemand stellt ernsthaft, die Frage, wieviele Leute denn auf der Welt maximal «gut und nachhaltig» (T.Hondrich) leben könnten (es dürften so 3 Mia sein). Noch nicht einmal die Grünen. Deren Präsident ist überzeugt: «Eine 10-Millionen-Schweiz ist machbar.» Dümmer gehts nimmer. Und Hoffnung gibts keine: Die Wachstums-Menscheit zerstört sich selbst. Die Welt wird weiterleben. Krokodile ebenso – wie seit 93 Mio. Jahren schon.
Ich kann den Ärger von Herrn Thommen gut verstehen. Andererseits hätten alle genug zu essen, wenn wir unser Denken von der Konkurrenz auf die Kooperation lenken würden. Nicht nur China, sondern auch das kleine afrikanische Land Seychellen im Indischen Ozean hat unter einem Marxisten, Albert René, den Hunger im Land eliminiert. Er versprach all jenen Familien günstige Hypotheken – und er hielt sein Versprechen -, die nicht mehr als zwei Kinder bekamen. Innert weniger Jahre war die Geburtenrate massiv gesunken und das Land konnte alle ernähren.
Der Artikel Andreas Thommen ist sehr sachlich und gut begründet.
Herzliche Gratulation
von Markus Zimmermann
Was da in der NZZ geschrieben steht, ist eine rosarote Brille um den Lesern ein täuschendes, beruhigendes Gefühl zu vermitteln. Was die Gentechnologie anrichten kann, erfahren wir gerade. Bald werden wir womöglich durch die Gentechnik der letzten 2 Jahre wieder weniger sein als 8 Milliarden. Der Arzt meines krebskranken Freundes hat mir erklärt, er hätte noch nie so viele Turbokrebs-Patienten in seiner Praxis gehabt wie zur jetzigen Zeit. Die Umwelt ist toxisch schwer belastet, die Weltbevölkerung ist gespalten in Arme, Kranke und Reiche sowie 3% Supermilliardäre mit mehr Macht als jede einzelne Nation. Diese Supermilliardäre haben uns als Global Players an diesen Punkt geführt. Sie prahlen mit Errungenschaften welche nicht existieren von einer neuen Welt zu dessen Ruin sie die Weichen mit gestellt haben. Nicht Geld, sondern demokratische Kompetenz sollte die Welt regieren.
Erschreckend kurzsichtig.
Schon in wenigen Generationen wird sich der Ressourcenverbrauch weltweit anpassen müssen. Je grösser die Menschheit, desto dringlicher. Und dann ist fertig lustig Demokratie und auch fertig lustig Soziale Marktwirtschaft.
Die weit über dem Durchschnitt Konsumierenden werden nie freiwillig massive Selbstbeschränkung wählen und die an der Armutsgrenze weiter nach relativem Wohlstand streben.
Krieg um die Ressourcen – naheliegend – ist selber die wohl sinnloseste Verschwendung von Ressourcen und damit extrem kontraproduktiv.
Mehr Menschen wird also eine globale Ressourcenzuteilung und damit Planwirtschaft bedingen. Und das lässt sich nur mit autokratischen Regierungen durchsetzen.
So ist es.
Damit der Leser dennoch bei den Daumen eine Auswahl hat, sei noch in den Raum gestellt:
Ist China dem Westen eventuell Jahrzehnte voraus?
Sie haben recht, Herr Weissenrieder! Nur mit ihrer Zeitachse nicht . Es wird nicht «Generationen» dauern, bis der Krieg um den Rest der Weltresourcen losgeht. Dieser Krieg tobt bereits. Und die USA, die ihre (vermeintliche) Herrschaft über die Welt schon verloren haben, versuche nun mit allen Mitteln noch ihre Kontrolle über den «Wertewesten» zu konsolidieren. Demokratie, Selbstbestimmung, Menschenrechte sind dabei nur verlogene Vorwände. Die primitive Parole aus Washington lautet: Bist Du für oder gegen uns? Afghaninnen, Kurden oder Palästinenser und Saudiarabierinnen können davon ein grässliches Lied singen: Sie alle wurden von den USA verraten und verkauft. Denn: Boykottiert und mit Krieg überzogen wird nicht, wer Frauen- oder Völkerrecht missachtet – sondern nur, wer die Plünderer der US-Petrol-Companies nicht ins Land lassen will – wie Iran, Russland oder Venezuela. Nur dumme und schwache Regierungen glauben dem US-Gerede von Demokratie und Menschenrecht – und laufen hinterher.