Olympia soll den Osten Londons zum Blühen bringen
Als ich vor fünf Jahren nach Ostlondon zog traf ich beim Jogging auf eine riesige blaue Wand. Ich lief ihr entlang und stellte fest, dass sie kein Ende hatte. Sieben Kilometer später war ich wieder am Ausgangspunkt. Ich hatte soeben das Olympische Gelände umlaufen. In den fünf folgenden Jahren sah ich von meinem Küchenfenster aus das Olympiastadion wachsen und hinter ihm der 115 Meter hohe rote Mittal Tower, das neue Wahrzeichen Ostlondons.
Doch auch ausserhalb der blauen Wand begann sich vieles zu verändern. In meinem Stadtkreis, dem westlich des Olympiastadions gelegenen Borough of Hackney tauchten immer mehr Baukräne auf. In den letzten Jahren schossen neue Cafés und Restaurants wie Pilze aus dem Boden. In einem jahrelang leer stehenden denkmalgeschützten Gebäude bei mir um die Ecke entstand ein Kino mit Konzertlokal und Restaurant, der neue Publikumsmagnet im Quartier.
»Everybody hates the Olympics»
Gelegentlich trifft man in Ostlondon auf den mit Schablone gesprayten Spruch: «Everybody here hates the Olympics» (alle hier hassen die Olympischen Spiele). Das stimmt so sicher nicht. Zwei Drittel aller Briten sind laut einer Umfrage der Meinung, die Olympischen Spiele seien eine gute Sache für Ihr Land. In meinem Quartier dürften es ähnlich viele sein.
Doch nicht wenige, wie der Schriftsteller Ian Sinclair, hassen die Spiele wirklich. «Ich bin gegen die Olympischen Spiele, weil sie so vieles zerstören, was die historisch gewachsene Kultur und den Geist von Ostlondon ausmacht», sagt Sinclair. Tatsächlich haben sich die Olympia-Bauherren kaum bemüht, die Umgebung in ihre Pläne einzubeziehen. Die Quartiere und die Menschen rund um die Stadien sind für die Olympia-Bosse eher ein Störfaktor. Deshalb ist das olympische Gelände auch abgeriegelt wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Und das ist keineswegs übertrieben.
Ostlondon hat einen schlechten Ruf
Dass die Olympia-Stadien ausgerechnet in Ostlondon gebaut wurden, ist natürlich kein Zufall. Die Gegend ist nicht nur der ärmste Teil der Stadt, sondern einer der ärmsten und gefährlichsten des ganzen Landes. Kurz: Ostlondon hat einen schlechten Ruf und eine schlechte Infrastruktur. Olympia soll beides verbessern. Die Infrastruktur hat bereits einen Quantensprung gemacht. Als ich nach Hackney zog, verlor ich manchmal morgens eine halbe Stunde am Bahnhof, weil die alle 15 Minuten eintreffenden S-Bahn-Züge so voll waren, dass ich nicht rein kam und auf den nächsten oder übernächsten warten musste. Jetzt kommt alle 8 Minuten ein Zug und in die neuen Wagen passen fast doppelt so viele Passagiere.
Ob der Grossanlass auch den schlechten Ruf von Hackney verbessern, bleibt abzuwarten. Die Gegend ist berüchtigt für seine hohe Kriminalität. Meine 88-jährige Nachbarin erzählte mir, wie es so weit kam. Ostlondon und sein Hafen waren früher das ökonomische Herz des British Empire. Fast alle Waren aus den Kolonien kamen per Schiff über die Themse in den Docklands an, dort, wo heute die Bankentürme der Canary Wharf in den Himmel ragen. Im Zweiten Weltkrieg bombardierten die Deutschen die Docklands. Meist flogen sie ihr Ziel von Süden her an. Wenn sie dann noch Bomben an Bord hatten wurden sie beim Abdrehen über Hackney abgeworfen.
Als in den sechziger Jahren Jamaica, Trinidad & Tobago und Barbados unabhängig wurden, strömten Tausende von Immigranten aus diesen Staaten nach London. Um sie unterzubringen wurden auf den Trümmerbergen von Hackney eilig billige und unwirtliche Sozialwohnungs-Blocks hochgezogen. Sie sollten der Boden werden, auf dem die Kriminalität zu florieren begann.
Mordopfer zur falschen Zeit am falschen Ort
Hackney hat bis heute eine der höchsten Mordraten der Stadt. Ich lebte noch kein Jahr im Quartier, als am 30. August 2008 hundert Meter von meiner Wohnung entfernt der 14-jährige Shaquille Smith erstochen wurde. Dass es ihn traf war reiner Zufall. Er war einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort als eine sechsköpfige Bande durchs Quartier zog. Der Vorfall schockierte mich, aber er machte mir erstaunlicherweise keine Angst, dass ich selber eines Tages zum Opfer zu werden könnte.
Es mag zynisch klingen, aber fast immer wenn in London ein Mensch auf offener Strasse ermordet wird, dann ist sowohl der Täter, wie auch das Opfer, ein junger schwarzer Mann. Oft handelt es sich um ein sogenanntes «postcode killing» (Postleitzahl-Mord). Dabei bringen jugendliche Gang-Mitglieder andere Jugendliche um, die es wagen aus einem benachbarten Quartier mit anderer Postleitzahl in ihr Revier einzudringen. Die Opfer sind dabei oft völlig ahnungslos. Es ist eine krude Machtdemonstration, die dem Täter ermöglicht in der internen Hierarchie seiner Gang aufzusteigen.
Einzig als am 26. September 2009 in der Amhurst Road der 29-jährige Eddie Thomson erschossen wurde, bekam ich ein mulmiges Gefühl. Zum einen war Thomson weisser Hautfarbe, zum andern handelte es sich um einen Auftragsmord und die beiden Täter hatten irrtümlich den falschen Mann erschossen. «Nicht mal die Killer verstehen ihren Job in Hackney», hatte damals mein Nachbar gesagt.
Unterschiede wie in einem Entwicklungsland
Doch auch jene, die nicht ermordet werden, haben statistisch gesehen eine tiefe Lebenserwartung. Kate Adams ist Ärztin in der Poliklinik Shoreditch Park Surgery. Für sie sind Armut und schlechte Bildung der Hauptgrund für die tiefe Lebenserwartung in ihrem Stadtteil. «Vergleicht man das Quartier mit der höchsten Lebenserwartung in Westlondon, mit jenem mit der tiefsten in Ostlondon, dann findet man einen Unterschied von 12 Jahren», erzählt sie. Das seien Unterschiede wie in einem Entwicklungsland.
Kate freute sich über die Olympischen Spiele, doch sie weiss von ihren Patienten, dass die Folgen des Grossanlasses den Leuten mit schwachen Einkommen schwer zu schaffen machen. Gentrification heisst das Phänomen. Wird in einer Gegend so massiv investiert, steigen die Wohnungspreise. Das führt dazu, dass die Ärmsten sich die Wohnungen nicht mehr leisten können und über kurz oder lang der Mittelschicht Platz machen muss. «Viele Vermieter nutzen die olympische Gelegenheit, um die Mieten zu erhöhen», wie es der Schriftsteller Ian Sinclair umschreibt.
Einzigartiger Spirit, reiche Kultur
Natürlich ist Ostlondon viel mehr als Armut und Kriminalität. Die Gegend hat einen einzigartigen Spirit und eine reiche Kultur. Bloss ist es nicht die etablierte Kultur. Schon bevor London 2005 zur Olympia-Stadt gewählt wurde, waren Teile des Eastends trendig. Shoreditch etwa wurde schon zur Jahrtausendwende zum kreativen Zentrum der Metropole. Banksy etwa, einer der einflussreichsten Kreativen der letzten Jahre, sprayte seine Kunstwerke in Hackney. Hunderte von Künstlern und Trendsettern leben in der Gegend. Und wer freitags oder samstags zu später Stunde durch die unansehliche Kingsland Road geht, trifft auf lange Schlangen vor Insider-Clubs, in denen die Star-DJs von morgen ihre Musik auflegen.
Ein anderer kreativer Hotspot ist seit kurzem Hackney Wick. Das Quartier liegt unmittelbar neben dem Olympiastadion ist die wohl hässlichste Gegend Londons und besteht im Wesentlichen aus stillgelegten Fabriken und Sozialwohnungen. Aber in den alten Fabriken haben sich in den letzen Jahren wegen der billigen Mieten Dutzende von Künstlern niedergelassen. Viele von ihnen klagen indes immer lauter über steigende Mieten und die Ankunft von «Artist-Wannabees» (Möchtegern-Künstlern).
Boris Johnson: das wird eine Wachstums-Region[]
Überaus optimistisch gibt sich dagegen Bürgermeister Boris Johnson. Als ich ihn kürzlich für unseren Dokumentarfilm «Rapper, Rasenmäher, Royalisten» interviewte sagte er: «Ostlondon wird sich jetzt massiv verändern. Die Gegend ist verwüstet durch Arbeitslosigkeit. Jetzt wird daraus wieder eine Wachstumsregion.» Sein Plan: Nach den Spielen sollen im 450 Millionen Franken teuren olympischen Medienzentrum Computer- und Internet-Firmen angesiedelt werden. So sollen 8000 hochwertige neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Doch diese Woche enthüllte die Lokalzeitung «Hackney Gazette», dass sich bisher kaum Interessenten finden und sogar der Abriss des High-Tech-Gebäudes nach den Olympischen Spielen diskutiert wird. Es wäre die unglaublichste Geldvernichtung in der Geschichte Londons seit der UBS-Banker Kweku Adoboli sechs Kilometer entfernt zwei Milliarden Franken verzockte.
Der Bauboom hält an
Immerhin: Der Bauboom rings um die Olympia-Stadien hält an. Auch das nagelneue Einkaufszentrum Westfield auf dem Olympia-Gelände hat Hunderte neuer Arbeitsplätze geschaffen. Deshalb sagte der Stadtpräsident von Newham (auf dessen Gebiet Westfield liegt) kürzlich: Hätte ich die Wahl zwischen den Olympischen Spielen und dem Einkaufszentrum, ich würde das Einkaufszentrum und seine Arbeitsplätze wählen.
Kein ausgesprochener Olympia-Fan ist auch der Schweizer Photograph Michael von Graffenried. Er hat für die Shorditch Park Surgery ein halbes Jahr lang Menschen aus Ostlondon in deren Wohnungen fotografiert. Seine Bilder zeigen intime Porträts von Menschen aus aller Herren Länder. An seiner Vernissage sagte er zu mir: «Die Politiker erzählen jeden Tag, die Olympischen Spiele würden die Menschen aus aller Welt in Ostlondon zusammenbringen. Schau doch, sie sind ja alle längst hier.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine. Peter Balzli ist SF-Korrespondent für Grossbritannien mit Sitz in London. Sein Text erschien stark gekürzt zuerst im "Sonntag".