Fünf nach zwölf, na und? Weltuntergangsgespräch 3
Red. Die Angst geht um. Auch in diesen Tagen. Die Angst, dass Kinder und Kindeskinder keine Zukunft mehr haben könnten. Die Angst vor Krieg und Vertreibung, ökologischen und ökonomischen Zusammenbrüchen, vor dem «Big Bang», wie das in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts genannt wurde. Die Angst vor Weltuntergängen war damals für «Infosperber»-Redaktor Jürgmeier Anlass für die Herausgabe des Buches «Fünf nach zwölf – na und? Sind wir die Endzeit-Generation?» (Nachtmaschine-Verlag, Basel). In dem Jahr, 1983, in dem dieser Sammelband erschien, trat Bundesrat Willy Ritschard zurück und starb kurz darauf, in Deutschland zogen die Grünen erstmals ins Parlament ein, Kanzler war Helmut Kohl, US-Präsident Ronald Reagan, sowjetischer Staats- und Parteichef Jurij Wladimirowitsch Andropow. Es war die Endphase des Kalten Krieges, noch trennte die Mauer Ost und West, ein südkoreanischer Jumbo-Jet wurde auf dem Flug von New York nach Seoul mittels russischer Raketen abgeschossen, US-amerikanische Elitetruppen besetzten die Karibikinsel Grenada, und der Stern blamierte sich mit der Veröffentlichung gefälschter Hitler-Tagebücher.
«Was halten Sie von den Prognosen, die besagen, dass die Lebensgrundlagen auf unserer Erde in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten durch Umweltzerstörung oder Krieg zerstört werden?» Mit dieser Frage eröffnete Jürgmeier 1983 eine Reihe von Gesprächen mit bekannten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen für dieses Buch. Wir veröffentlichen einen Teil von ihnen in loser Folge. Als Erinnerungen an die Zukunft.
Heute: Gret Haller. Zum Zeitpunkt des Gesprächs war sie Anwältin, gelegentlich publizistisch tätig, SP-Stadträtin in Bern und in einzelnen Projekten der Frauenbewegung aktiv, aber nicht formell organisiert (ausser in der SP-Frauensektion). In den folgenden Jahren wurde sie bekannt als Nationalrätin (1987 – 1994), ständige Vertreterin der Schweiz beim «Europarat» (1994 – 1996), Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina (1996 – 2000) sowie Publizistin (ab 2001). 2006 – 2013 war sie Mitglied der «Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht des Europarates» («Venedig-Kommission»). Seit 2014 ist sie Präsidentin der «Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE».
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Jürgmeier: Was hältst Du von den düsteren Zukunftsprognosen, die besagen, dass ökologische oder kriegerische Zerstörungen dieser Welt nächstens ein Ende bereiten werden?
Gret Haller: Ich bin überzeugt, dass die Gefahr sehr gross ist, aber ich bin nicht überzeugt, dass es hundertprozentig passieren muss.
«Ein Krieg ist in diesem Ausmass zum ersten Mal möglich.»
Es wird ja gesagt, Weltuntergangsprophezeiungen habe es schon immer gegeben, und wir lebten ja immer noch – haben wir heute eine qualitativ neue Bedrohung?
In diesem Ausmass ist es völlig neu – erstens wegen der Rüstung, zweitens ökologisch. Ökologisch gesehen möglicherweise schon länger, aber ein Krieg ist in diesem Ausmass zum ersten Mal möglich.
Diese Zukunftsperspektiven sind ja nicht gerade rosig – wie gehst Du persönlich mit der Resignation um?
Ich resigniere nicht, weil es sich beispielsweise nicht mehr lohnte, etwas zu machen. Wenn’s erst in dreissig Jahren passiert, dann lohnt es sich, für diese dreissig Jahre noch etwas zu machen.
Für mich haben die Themen Ökologie, Rüstung, Dritte Welt massgeblich mit dem Thema Mann/Frau zu tun. Das Grundmuster der Zerstörung des Menschen und der Natur ist die Unterjochung der Frau durch den Mann. Ich bin überzeugt, dass man in den Zeitaltern, in denen das Patriarchat nicht herrschte, generell mit Mensch und Natur anständiger umgegangen ist, und zwar nicht etwa, weil die Frauen bessere Fähigkeiten hätten als die Männer, sondern weil sich das zerstörerische Prinzip nicht durchsetzen konnte.
Also trotz der düsteren Prognosen keine Angst vor der Zukunft?
Natürlich habe ich Angst, aber Angst hat frau vor etwas, mit dem frau sich nicht befasst, und ich befasse mich sehr intensiv damit. Ich habe einen Radiowecker, und das erste, womit ich konfrontiert bin, das sind die Nachrichten. Da höre ich jeden Morgen, was weltweit passiert ist, und seit der Wahl von Reagan kommt mir dann immer der Gedanke «Aha, diese Nacht ist es nicht passiert, es gibt uns noch». Das ist für mich fast zu einem gedanklichen Ritual geworden. Die Nicht-Resignation ist sehr wichtig.
Mit Resignation bin ich eher da konfrontiert, wo jene, die das Problem nicht erfasst haben, sich als andere ausgeben, d.h., wenn die Patriarchen meinen, sie könnten die Friedensproblematik, die Dritt-Welt-Problematik oder die Ökologiefrage sinnvoll anpacken – da bin ich mit resignativen Tendenzen konfrontiert, weil ich mir denke: Um Himmels willen, wenn jetzt jene, die mit ihrem patriarchalischen Grundmuster an allem schuld sind, auch noch diesen Kampf an sich reissen, dann ist es wirklich bald zu Ende.
«Für mich ist nicht der Mann an sich das Böse
und auch nicht die Frau an sich das Gute.»
Wenn Du von Patriarchat sprichst, wen meinst Du damit?
Für mich wird das Patriarchat repräsentiert von sehr vielen Männern, aber auch von einigen Frauen, die Männer sein wollen und patriarchalische Machtstrukturen benützen. Ich habe eine Zeit lang ansatzweise auch zu diesen Frauen gehört, deshalb weiss ich, wie das läuft. Wenn ich Patriarchat sage, ist das für mich ein Herrschaftsprinzip, eine Seinsform (…oder ich müsste vielleicht sagen eine «Seins-Verhinderungsform»). Wenn ich Patriarchat sage, meine ich also nicht die Gemeinschaft aller Männer. Für mich ist nicht der Mann an sich das Böse und auch nicht die Frau an sich das Gute. Ich habe wichtige Erfahrungen mit dem Patriarchat in letzter Zeit in der Konfrontation mit Frauen gemacht, und seit ich diese Erfahrung mit Frauen gemacht habe, bin ich etwas weitergekommen.
Aber, echte Veränderungschancen siehst Du in der feministischen Bewegung?
Nicht nur in der Bewegung, sondern in der feministischen Idee. Die Überwindung des patriarchalischen Herrschaftsprinzips ist Voraussetzung dafür, dass die Friedens-, die Ökologie- und die Dritt-Welt-Bewegung überhaupt Erfolg haben können. Das Problem Frau/Mann ist das Grundproblem. Deshalb müssen die Leute in der Friedens-, Dritt-Welt- oder Ökologiebewegung versuchen, die Frauenthematik zu erfassen, sonst bleiben sie stecken. Aber wir sind ja so geprägt, auch die Frauen, dass es vorläufig nur ein Sich-Bemühen sein kann, auch die feministische Frage einzuschliessen.
Überhaupt habe ich das Gefühl, Leute, die sich bemühen, sind viel wichtiger als jene, die es scheinbar erreicht haben. Wenn wir diese Weltkrisensituation überwinden können, dann dank einer anderen Form, Probleme anzugehen, dank eines Experiment-Ansatzes, eines Ansatzes, an etwas heranzugehen und noch nicht genau zu wissen, wie man oder frau es macht, sich also in der Auseinandersetzung mit dem Problem ständig zu wandeln.
Dann wäre also auch die Frage nach einer feministischen Utopie nicht zu beantworten; gibt es eine Richtung, die Du andeuten könntest?
Aufhören mit dieser unterdrückerischen Mentalität. Die feministische Utopie besteht in der Abschaffung des Patriarchats, und Patriarchat heisst eben zerstörerischer Umgang mit Mensch und Natur. Auf der einen Seite ist das Leben. Auf der anderen Seite steht das Nekrophile, welches das Leben hasst, die Natur hasst, die Menschen hasst, die Kinder hasst, das Unerwartete hasst, die Anarchie hasst. Ich glaube, Leben hat sehr viel mit Anarchie zu tun. Nekrophil sind die, die alles strukturieren und in den Fingern haben müssen. Und die haben sich jetzt so stark entwickelt, dass es gefährlich geworden ist.
«Ich kann auch mal sagen: Ich weiss, dass es so nicht geht,
und jetzt schauen wir mal, was sonst noch möglich wäre.»
Die Frage nach neuen Strukturen wäre also bereits eine veraltete Frage?
Das werden wir dann sehen. Jedenfalls gibt es heute – auch in der Linken – Strukturen, die das am Entstehen hindern, was heute entstehen sollte. Wir sollten den Mut haben, entstehen zu lassen, und sollten gleichzeitig ein Gespür dafür entwickeln, welches Fehlentwicklungen sind. Damit wir sagen können «So nicht!», ohne gerade sagen zu müssen «So». Den Ruf «Wenn Ihr das nicht wollt, bringt etwas anderes», den lasse ich mir nicht mehr entgegenhalten. Ich kann auch mal sagen: Ich weiss, dass es so nicht geht, und jetzt schauen wir mal, was sonst noch möglich wäre.
Aber, Voraussetzung dafür wäre ja eine Beseitigung der bestehenden Machtstrukturen – wie willst Du das erreichen?
Ich habe kein Patentrezept. Ich weiss nur, dass man die Bewegung von oben nach unten durch die Bewegung von unten nach oben ersetzen muss. Das versuche ich überall, wo es geht: nicht verhindern, sondern ermöglichen. Nur soweit strukturieren, wie es nötig ist, dass sich etwas entwickeln kann.
Die Mehrheit unserer Bevölkerung verhält sich häufig gegen ihre eigenen Interessen – wie ist es da möglich, überhaupt eine Bewegung von unten nach oben zu fördern?
Es gibt immer mehr Leute, die in irgendeinem Bereich zu zweifeln beginnen, ob das, was ist, gut ist. Ich erlebe immer häufiger, dass Leute – auch solche, die sich durchaus bürgerlich nennen – beginnen, eigenverantwortlich zu handeln und nicht mehr resigniert zu denken «Die wollen’s halt so». Ich glaube, das Bewusstsein, dass es zu Ende sein könnte, verbreitet sich ganz langsam, aber es verbreitet sich, und mit diesem Bewusstsein verbreitet sich auch die Frage, ob man etwas dagegen tun könnte. Wenn diese Frage bei jemandem auftaucht, wird auch der Überlebenswille geweckt. Ich glaube halt doch, dass der Mensch leben möchte.
Das heisst, das Bewusstsein verändert sich in den bestehenden Verhältnissen. Es braucht keine strukturellen Veränderungen, die beispielsweise ihrerseits wieder Bewusstseinsveränderungen bewirken könnten?
Ich habe nicht gesagt, man müsse sonst nichts machen. Natürlich sind auch die Aktivitäten der traditionellen Linken in diesem Lande sehr wichtig. Ohne diese wäre es noch viel schneller fertig. Aber die Strukturfrage kann innerhalb der traditionellen Linken kaum gestellt werden. Und diese Frage ist eben auch eine Überlebensfrage, sogar eine der wichtigsten.
«Wenn ich aus einer Struktur hinausgehe, gibt es sie ja immer noch.»
Keine organisierten Massenbewegungen mehr?
Da bin ich offen. Ich habe keine Vorstellung, was sein müsste. In vielen dieser alten Strukturen bin ich ja drin, in der SP zum Beispiel, obwohl ich mich ab und zu frage, ob es sich angesichts der strukturellen Reibungsverluste lohnt, da Kraft und Arbeit zu investieren. Aber wenn ich aus einer Struktur hinausgehe, gibt es sie ja immer noch. Und wenn ich die Möglichkeit habe, hineinzugehen, dann gehe ich mal. Es ist dann eine Frage der persönlichen Psychohygiene, ob oder wie lange ich das überstehe.
Wie siehst Du denn die neuen Formen des Politisierens?
Ich frage mich manchmal, ob die Mitgliederorganisation nicht langsam überholt ist, jene Organisation, bei der ich sagen muss «Da gehöre ich dazu» oder «Da gehöre ich nicht dazu». Dieses eingezäunte Feld mit ein paar Eingängen, durch die Leute hineingehen oder draussen bleiben müssen. Ich glaube, die Mitgliederorganisation weicht ganz langsam einer Politik der Kristallisationspunkte: Da gibt es keinen Zaun und keine Tore mehr, sondern frau oder man schlägt einen Pflock ein, das zieht Leute an, sachgebunden, aktionsgebunden, und es lässt den Einzelnen die Freiheit, wie stark sie sich engagieren wollen, wie lange sie bleiben wollen – es ist dynamisch.
«Ein politisches Konzept, welches das Phänomen ‹Hausarbeit›
einfach links liegen lässt, ist kein Gesamtkonzept.»
Aus der Linken kommt diesen neuen Bewegungen gegenüber etwa die Kritik, die hätten kein Gesamtkonzept, sondern begnügten sich mit punktuellem Aktivismus…
Die traditionellen Linken haben auch kein Gesamtkonzept. Die haben einfach nach Vater Marx ein paar Punkte genommen, haben die als zentral erklärt und gesagt, das sei ein Gesamtkonzept. Gibt es da etwa eine Analyse und ein Konzept zur «Hausarbeit»? Ein politisches Konzept, welches das Phänomen «Hausarbeit» einfach links liegen lässt, ist kein Gesamtkonzept.
Du kritisierst ja an der traditionellen Linken, an den Mitgliederorganisationen überhaupt, dass sie hierarchisch strukturiert sind, nun gibt es aber auch in diesen neuen unstrukturierten Bewegungen immer wieder Leute, die dominieren, da fehlen aber institutionalisierte Kontrollmöglichkeiten…
Auch hierarchische Strukturen sind missbrauchsgefährdet. Sogar sehr, denn sie ziehen Leute an, die von ihrem Charakter her hierarchische Strukturen lieben, und die anderen stossen sie ab. Im Übrigen bin ich ja nicht für völlige Strukturlosigkeit, sondern für ein Gleichgewicht zwischen Bewegung und Struktur. Nur in diesem Gleichgewicht kann etwas entstehen und wachsen. Aber heute ist dieses Gleichgewicht verschoben, zulasten der Bewegung und zugunsten der Struktur. Deshalb ist es grundsätzlich eine gute Entwicklung, dass die Leute heute einen Widerwillen gegen Parteien, Organisationen und Strukturen haben, das werte ich als gesunde Reaktion.
Diese neuen Bewegungen sind auf das Engagement vieler angewiesen, dieses Engagement kann aber auch unliebsame Konsequenzen haben, Verlust des Arbeitsplatzes usw. Da wäre ein solidarischer Rückhalt notwendig…
Sicher. Ich bin überhaupt nicht gegen gewerkschaftliche Organisierung und Aktivität. Für die Belange des Arbeitsplatzes ist das richtig. Aber ich bin dagegen, dass man die sogenannten «Arbeitnehmerinteressen» als die Linkspolitik definiert. Denn wenn man das tut, dann fallen eine ganze Menge von Leuten zwischen Stuhl und Bank. Übrigens nicht nur die Frauen…
Zwar habe ich beruflich manchmal auch mit Männern zu tun, die von Frauen unterdrückt werden. Aber sehr viel häufiger sehe ich das Umgekehrte: Frauen, die von einem Mann, der Arbeit hat, abhängig sind. Sie leben in einem feudalistischen Eheverhältnis und müssen dafür, dass sie zu essen, zu schlafen und Kleider haben, unbezahlte Arbeit leisten und mit einem Mann im Bett liegen, der ihnen vielleicht gar nicht passt.
«Frauen sind weniger strukturkaputt.»
Dann würde sich aber die Solidaritätsfrage für die Frauen, die sich aus diesen Verhältnissen befreien wollen, erst recht stellen…
Also offenbar willst du mir à tout prix noch ein Bekenntnis zu irgendeiner Organisationsform entlocken! Also: Natürlich stellt sich diese Frage. Nicht nur bei den Frauen. Und eine Antwort habe ich nicht präsentationsbereit, höchstens selbst erlebte Versuche, die jedes Mal etwas weiter geführt haben. Sicher bin ich nur, dass Frauen im grossen Ganzen auf der Suche nach diesen neuen Formen etwas mehr beitragen können als durchschnittliche Männer. Denn Frauen – jedenfalls jene vielen, die nicht möglichst «Mann» sein wollen – sind weniger strukturkaputt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine