Kommentar

«Börse gut – alles gut»

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Die «Analyse» von Politgeograf Michael Hermann ist typisch. Eine wirtschaftspolitische Grundsatzdebatte findet kaum statt.

Volkswirtschaftliches Denken ist mühsam. Doch der dramatische Zerfall Griechenlands und die anhaltende Misere der EU-Südländer schreien nach einer ökonomischen Grundsatzdebatte.
Einbruch des Inlandkonsums
Wenn je eine wirtschaftspolitische Doktrin Schiffbruch erlitten hat, dann die der Euroländer seit Beginn der Weltfinanzkrise. Hier die Bilanz: 31% Wohlstandverlust (gemessen an der Inlandnachfrage pro Kopf) für Griechenland, 22% für Zypern, 15% für Irland, je 14% für Portugal, Spanien und Slowenien, 11% für Italien, 5% für Holland. Dabei handelt es sich um Durchschnittwerte. Weil die Ungleichheit weiter steigt, hat die ärmere Hälfte der Bevölkerung noch viel grössere Verluste erlitten.
Die Liste der Gewinner führt Deutschland mit 6 Prozent Wachstum an. Das sind magere 1% pro Jahr.
Ökonomische Debatte verweigert
Was also läuft falsch mit Europas Wirtschaftspolitik? Diese Frage hat im achten Krisenjahr endlich eine Regierung eines EU-Mitglieds zu stellen gewagt. Ihr Finanzminister Yanis Varoufakis hat vor seinen europäischen Amtskollegen aufgezeigt, warum die Griechenland auferlegten Sparprogramme seiner Meinung nach nicht funktionieren und welche humanitären Folgen sie bisher schon gehabt haben. Gegenargumente gab es nicht. Man ging ohne Diskussion zur Tagesordnung über: Griechenland soll sich an «seine vertraglichen Verpflichtungen halten». Juristerei versteht man. Die ökonomische Debatte hingegen fand nicht statt.
Wohlstand an den Börsenkursen gemessen
Sie wird auch in den Medien nicht (oder höchstens in homöopathischen Dosierungen) geführt. Nehmen wir den Tages-Anzeiger vom 28. Juli: In seiner Kolumne zieht der Politgeograph Michael Hermann seine Lehren aus dem Fall Griechenland. Erst ganz am Schluss seines Textes erkennt er: «Die EU erfüllt keinen Selbstzweck, sondern hat nur eine Existenzberechtigung, wenn sie dazu beitragen kann, Wohlstand und Sicherheit in Europa zu schaffen

Und? Hat die EU mit ihrer Wirtschaftspolitik Wohlstand geschaffen? Es gibt immerhin eine ganz kurze Passage, in der Hermann auf diese Frage eingeht. Sie lautet so: «Das griechische Fieber hat den Euro nicht angesteckt. Trotz gewaltiger öffentlicher Debatten hat es an den Aktien und Devisenkursen Europas kaum Spuren hinterlassen.» Das ist typisch für das ökonomische Halbwissen der europäischen Intelligenzia: Jede ökonomische Erwägung gerät irgendwie zum Börsenkommentar. Man bleibt an der Oberfläche des aktuellen Finanzmarkt kleben und denkt lieber schon gar nicht über deren Bezüge zur Realwirtschaft nach. Menschen kommen in Hermanns politgeographischer Analyse nicht vor. Börse gut, alles gut. Das hat man bei der Tagesschau gelernt. Auch dort wird jedes Ereignis danach beurteilt, wie es von «den Märkten» aufgenommen worden ist.

NZZ-Gujer vernachlässigt ökonomische Überlegungen
Oder nehmen wir den Leitartikel der NZZ vom vergangenen Samstag. Auch da geht es um die Rolle Deutschlands in Europa, bzw. um «das Zerrbild eines Landes, das im Namen der Austerität den Kontinent kujoniert und schurigelt». Mit dieser sarkastischen Formulierung ist für die NZZ das Problem schon abschliessend behandelt: Es gibt keinen Anlass auf die überrissene Kritik einzugehen. Wie Hermann kommt auch Chefredaktor Eric Gujer zum Schluss, dass Deutschland bzw. Europa zu recht hart geblieben seien. Beide argumentieren – und das ist hier der Punkt – rein politisch. Ökonomische Überlegungen werden bestenfalls auf Stammtischniveau abgehandelt. So sagt etwa Gujer etwa, dass Deutschland «bloss seine eigenen Interessen vertritt» und dies auch dürfe. Das versteht jeder und lenkt von der Frage ob, ob denn die Austeritätspolitik wirklich in Deutschlands Interesse liegt. Um diese Frage zu beantworten, müsste man ökonomische Überlegungen anstellen. Doch das wäre mühsam.

Wenn ich mit Politikern oder Journalistenkollegen über Wirtschaftspolitik diskutiere, kommt oft schnell das Killerargument, das sei ja alles «Glaubensfrage» – bei der man eh nicht weiterkomme. Zugegeben. In Fragen der Ökonomie gibt es unterschiedliche Expertenmeinungen. Aber das darf kein Vorwand sein, das Denken einzustellen bzw. gar nicht erst damit anzufangen. Zumindest über die einschlägigen Fakten könnte man sich ja mal kundig machen.
Wenn die im wesentlichen gleiche makroökonomische Politik in 15 von 19 Euro-Ländern über bald acht Jahre hinweg miserable und in vier weiteren unterdurchschnittliche Ergebnisse gebracht hat, ist vermutlich etwas falsch daran.
Zwar kann man nicht ganz ausschliessen, dass im neunten Jahr plötzlich alles besser wird. Und theoretisch denkbar ist auch, dass eine an sich richtige Politik immer schlecht umgesetzt wurde. Trotzdem müssten zumindest gewisse Zweifel an der Weisheit der Austeritätspolitik aufkommen.
Was muss denn noch geschehen, bis wenigstens eine ökonomische Debatte beginnt?


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Keine

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Eine Meinung zu

  • am 30.07.2015 um 14:36 Uhr
    Permalink

    EU in der Krise: Südeuropa mit einem Marshallplan auf die Beine helfen!

    Das Vertrauen in die Länder und die Unternehmungen in Südeuropa ist erschüttert. Damit wird eine Abwärtsspirale der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Gang gesetzt, welche nur durch eine konzertierte Aktion der EU aufgehalten werden kann. Statt lediglich Hilfskredite an die darbenden Länder und Banken zu vergeben, sollte die EU die führenden Industrie- und Handelsbetriebe Europas mit Gesprächen und Anreizen dazu anhalten, Produktionsanlagen in Südeuropa weiter zu betreiben, auszubauen oder neu anzusiedeln sowie die Exporte dieser Länder in den Norden zu unterstützen. Gleichzeitig haben die Regierungen Südeuropas dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen für die Unternehmungen in ihren Ländern denjenigen der erfolgreichen Länder Europas angeglichen werden.

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