Kommentar

AHV: Ewiger Drohfinger mit den Arbeitsplätzen führt in die Irre

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsPeter Brotschi ist CVP-Kantonsrat im Kanton Solothurn und Gemeinderat (Exekutive) von Grenchen. Er kämpft politisch gegen ©

Peter Brotschi /  Die Steuer- und AHV-Vorlage fördert eine fragwürdige Wachstumspolitik, welche das ganze Mittelland zu einem Los Angeles macht.

Red. Der Solothurner CVP-Politiker Peter Brotschi beleuchtet einen Aspekt der Steuerreform- und AHV-Vorlage, der in der Diskussion bisher wenig Beachtung fand.

Eigentlich wissen wir alle, dass es im Jahr 2019 nicht mehr an der Zeit ist, wirtschaftliches Wachstum zu propagieren. Wir wissen, dass es mit diesem Tempo nicht weitergehen kann, dass wir sogar drosseln sollten. Dass wir eigentlich gar nicht mehr zusätzliche Arbeitsplätze und damit ein weiteres Bevölkerungswachstum benötigen. Aber stets, wenn eine konkrete politische Frage im Raum steht, wie jetzt mit der Steuer- und AHV-Vorlage, dann bleiben die meisten politischen Akteure in aller Regel im alten Denkschema des Wirtschaftswachstums behaftet.

Eine Tiefsteuerstrategie, wie es beispielsweise der Kanton Solothurn nach dem Willen von Regierung und Parlament mit 13 Prozent der Gewinnsteuer am 19. Mai anstrebt, heizt den Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen massiv an. Das ist nicht nur umweltpolitisch äusserst fragwürdig, sondern für den Kanton und für sehr viele Gemeinden auch finanzpolitisch nicht tragbar. Der Solothurner SVP-Kantonsrat Richard Aschberger rechnete aus, dass in Grenchen 1750 neue Arbeitsplätze nötig wären, um bei Annahme der Steuer- und AHV-Vorlage die Steuerausfälle der juristischen Personen zu kompensieren. Selbst wenn solche Ansiedlungen in Grenchen möglich wären, was höchst unwahrscheinlich ist, stellt sich die Frage: Wollen wir überhaupt ein solches Wachstum? Wollen wir das wertvollste verbleibende Kulturland zubetonieren? Mit der Zerstörung von Kulturland und der zunehmenden Einwohnerzahl steigen die Kosten für Infrastruktur und Bildung weiter und der Autobahnanschluss in Grenchen kollabiert endgültig.

Befürworter drohen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, falls die Vorlage abgelehnt wird. Es ist der übliche Drohfinger der Wirtschaft, wenn es um die Interessen ihrer Vorlagen geht. Selbstverständlich können Arbeitsplätze verloren gehen, was schmerzhaft ist. Man kann aber mit der Angstmacherei vor Arbeitsplatzverlusten nicht laufend neues Wachstum fordern.
Der Drohfinger ist unredlich, denn in den letzten Jahrzehnten ging es in der Schweiz mit den Arbeitsplätzen und den Beschäftigten unter dem Strich nur nach oben. Ein Blick in die Statistik genügt: Seit 1991 ist die Zahl der Arbeitsplätze um über eine Million gewachsen (von rund vier auf fünf Millionen, Quelle: BfS). Um unser überbordendes Wachstum möglich zu machen, holten wir unzählige Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz. Heute müssen wir für fünf Millionen Beschäftigte Arbeitsplätze sichern. Das sind über eine Million mehr als noch vor 20 Jahren. Wollen wir wirklich stets an dieser Spirale weiterdrehen?
Die Frage drängt sich auf: Haben wir nie genug – oder wann sind es genug? Hat man genug bei sechs, sieben oder acht Millionen Beschäftigten? Wenn das ganze Mittelland zu einem Singapur oder zu einem Los Angeles geworden ist?
Was haben wir dann erreicht? Nichts, ausser dass dannzumal unsere Nachkommen in der überfüllten Grossstadt Schweiz leben müssen mit horrenden Boden- und Wohnungspreisen, übernutzten Naherholungsgebieten im Jura und einem Reservat für den globalen Tourismus in den Alpen.
Jetzt geht es um die Steuer- und AHV-Vorlage: Sie soll die Spirale des Wachstums weiter beschleunigen. Wir bleiben mit der Lupe auf unser lokales Wachstum fixiert und merken nicht, dass gleichzeitig die Erde unter unseren Füssen wegbrennt.
Es ist tatsächlich die Zeit, wieder an blühende Landschaften zu denken. Aber an Natur, die blüht. Nicht an „blühenden“ Beton.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Peter Brotschi ist CVP-Kantonsrat im Kanton Solothurn und Gemeinderat (Exekutive) von Grenchen. Er kämpft politisch gegen die Zersiedelung der Schweiz. Brotschi ist Autor mehrerer Bücher. Das letzte ist ein Roman mit dem Titel «Biders Nacht», der sich u.a. mit der Zersiedelung beschäftigt.

Zum Infosperber-Dossier:

Senioren Paar.monkeybusiness.Depositphotos

Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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8 Meinungen

  • am 2.05.2019 um 11:38 Uhr
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    Mein NEIN ist sowohl zur solothurnischen Kantonslösung wie zur eidg. Abstimmung bereits unterwegs!
    Es ist eine Mogelpackung, auf die ich nicht eingehe. Die Steuersache wird dann alleine wieder aufs Tapet gebracht und die AHV wieder auf die längere Bank geschoben.
    Und allen denjenigen, welche beklagen, dass die AHV-Revision wieder auf der Strecke bleibt, sei gesagt, dass es auf ein weiteres Jahr auch nicht ankommt. Ein neu bestimmtes Parlament muss die Sache neu angehen und es liegt an uns allen, im Herbst ein Parlament nach Bern zu senden, welches für die Anliegen des Volkes für einmal ein bisschen mehr Gehör hat als für die Anliegen der Superreichen und der Unternehmen…

  • am 2.05.2019 um 13:36 Uhr
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    Erstaunliche Einsichten für einen CVP-Politiker!

  • am 2.05.2019 um 17:52 Uhr
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    Prafo Herr Brotschi! Viele Bewohner haben jetzt schon genug von der Verdichtung der Immobilienblase nach innen Betrifft ja meistens die Mieter. Scheint mir, dass Sie der einzige unabhängige Paramentarier in der Schweiz sind.

  • am 3.05.2019 um 00:53 Uhr
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    Es ist höchste Zeit, diese vorherrschende Wachstums-Manie zu hinterfragen.
    Wo führt das alles letztlich hin? Wir unterliegen dem fatalen Irrglauben, dass Wachstum zu mehr Lebensqualität führt. Materieller Wohlstand bedeutet nicht mehr Lebensqualität.

  • am 3.05.2019 um 08:43 Uhr
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    Das Problem ist richtig erkannt! Nun brauchen wir Lösungen. Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Mikrosteuer-Initiative, mit dem Verein für monetäre Modernisierung? Ist eine Aufklärungskampagne denkbar mit anschliessender Initiative? Wir, die friedenskraft.ch, wären dabei!

  • am 3.05.2019 um 12:27 Uhr
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    Kein einziges realistisches Argument, wasfür eine neue Vorlage mit dem Nein auf Bundesebene kommen würde. Die Blockade muss endlich gelöst und der Kompromiss akzeptiert werden. Das international stossendste Konzernschlupfloch muss jetzt weg. Weil die Steuervorlage vor allem neue kant. Spielräume regelt, bin ich einverstanden mit dem kantonalen Nein. Bern hat es übrigens schon erfolgreich vorgemacht. – Die letzte auf Bundesebene abgelehnte Lösung scheitert u.a. an der fehlenden sozialpolitischen Abfederung. Die 2 AHV-Milliarden – aus der Bundeskasse und mit sozial sehr umverteilend wirkenden minimal erhöhten Lohnbeiträgen – bringen diese am dafür sehr geeigneten Ort und wo dringend nötig. Insofern erachte ich ein Nein als kurzsichtig und verantwortungslos.

  • am 5.05.2019 um 12:39 Uhr
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    @Rolf Zimmermann
    Das «Konzernschlupfloch» muss weg. Aber ohne gleichzeitig neue Schlupflöcher zu öffnen! Der internationale Druck wird problemlos dafür sorgen, dass die Schweiz das von ihnen genannte Konzernschlupfloch schliesst. Dazu braucht es diese Vorlage nicht.
    Apropos Blockade: Die eidgenössischen Räte mit ihren aktuellen bürgerlichen Mehrheiten sind offensichtlich nicht willens, die Konsequenzen aus der Ablehnung der USR III zu ziehen. Die Wahlen im Herbst werden diese Blockade lösen 🙂

  • am 5.05.2019 um 17:04 Uhr
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    Richtig, Herr Zimmermann, die Tiefsteuern, mit denen Bundesbern Konzerne wie Rohstoffhändler u.a. in unser Land geholt hat, müssen weg. Aber nicht, indem man via allgemeine Unternehmensteuer-Senkung Bund und Kantonen ihre nötigen Mittel entzieht. Sollen doch die Unternehmen unser Land verlassen, die nur auf tiefe Steuern aus sind. Samt ihren aus dem Ausland geholten Arbeitskräften.
    Wir sollten nicht alles den Bedürfnissen der Wirtschaft unterordnen, sondern von den Menschen in diesem Land ausgehen.
    Aber leider geht es den meisten Parlamentariern vor allem um Macht und Geld, deshalb gehen auch immer weniger Leute wählen und abstimmen.

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