Viertage-Woche im Praxistest durchgefallen
Red. Dieser Artikel erschien zuerst auf hauptstadt.be. Die «Hauptstadt» will zur Medienvielfalt in Bern beitragen. Es gibt sie seit März 2022.
Im Keller seines Betriebs an der Seftigenstrasse in Wabern mischt Simon Joerin Farben an. Ein Kunde möchte einen Sockel nachstreichen und hat den Maler beauftragt, den hellgrauen Farbton mit dem Mischgerät neu zu erzeugen. Joerin, in Bern besser bekannt als «Simu dr Maler», ist Geschäftsführer, muss in letzter Zeit aber häufiger selbst die Malerhose anziehen. Denn ihm fehlt das Personal.
In diesem Jahr muss er gleich 3 von 18 Stellen neu besetzen. Und die Suche ist langwierig. Joerin sucht zum Beispiel eine*n Service-Maler*in. Diese Angestellten steuern ein Auto prall gefüllt mit Farben durch die Stadt und arbeiten autonom Kundenaufträge ab. Der 46-jährige Joerin ist bereits mit einer vielversprechenden Kandidat*in im Austausch. Die Krux allerdings: Zwei weitere Arbeitgeber*innen buhlen um sie. Sie kann sich die Stelle also praktisch aussuchen.
38 statt 40 Stunden
Für «Simu» ist deshalb umso wichtiger, sich von anderen Betrieben abheben zu können, den Angestellten ein «Zückerli» zu bieten, wie er es nennt. So kommt er Ende 2022 auf die Idee, die Viertage-Woche in seinem Betrieb einzuführen. Start Januar 2023.
Konkret bedeutet das: Die Beschäftigten arbeiten statt 40 Wochenstunden 38. Geleistet wird die Arbeit – wie der Name schon sagt – an vier Tagen, weshalb sich die Arbeitstage für die Maler*innen verlängern. Sie beginnen um 7 Uhr 30, und um 18 Uhr ist Schluss. Vorher war jeweils um 17 Uhr Feierabend. Joerin bildet zwei Teams: Eines hat am Mittwoch frei, das andere am Freitag. Der Lohn bleibt unverändert.
April 2023: Nach drei Monaten Testphase sitzt Joerin wieder mit der Belegschaft zusammen. Sie kommen gemeinsam zum Schluss, dass es nicht weitergehen soll mit der Viertage-Woche.
Zu wenig Support für Viertage-Modell
«Für Angestellte, die einen weiten Anfahrtsweg haben, war der späte Feierabend sehr ungünstig», erklärt der Firmenchef nun. Generell litt der soziale Austausch im Team, da alle nach Feierabend direkt nach Hause fuhren. Und da die Arbeitstage ohnehin schon bis 18 Uhr dauerten, wurde sehr selten Überzeit aufgeschrieben. Ein Manko für das Ferienkonto: Im alten System konnten die Beschäftigten so viel Überzeit ansammeln, dass zusätzlich zwei Wochen Ferien heraussprangen.
Ausserdem konnten Lehrlinge aufgrund der Präsenzzeiten in der Berufsschule nicht am Viertage-Modell teilnehmen und mussten so früher den Arbeitsort verlassen als die übrigen Angestellten. «Das fühlte sich nicht richtig für sie an», sagt Joerin.
Der Geschäftsführer selbst hätte gerne mit dem Viertage-Modell weitergefahren. «Die Arbeitsleistung liess nicht zu wünschen übrig», so Joerin. Auch wenn er das Viertage-Modell vorerst begraben hat, denkt der Maler schon über andere Anreizprogramme für Angestellte nach. Wie diese aussehen könnten, will er aber noch nicht verraten.
Vielleicht braucht es schlichtweg noch ein wenig Zeit, bis die richtige Mischung gefunden, die Ideen ausgehärtet sind. An der Seftigenstrasse in Wabern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Danke für diesen interessanten Erfahrungsbericht! Verstehe ich richtig, dass im Modell 2 Arbeitsstunden pro Woche «geschenkt» wurden, deren Bezug aber nicht frei wählbar war? Dies entspricht für das ganze Jahr ca. 100 Stunden, also ca. 12,5 Arbeitstage. Das heisst die zusätzliche Freizeit für einen Angestellten ist von 2,5 Tage, die, mit den 10 anderen freien Tagen, die er durch Überstunden bekommen würde, nicht frei wählbar sind. Vielleicht lassen sich freie Wahl der Tage und zusätzliche Ferien unabhängig voneinander denken. Toll, dass solche Überlegungen stattfinden. Schönen Gruss.
Ja, Sie haben das richtig verstanden.