Kommentar
Ukrainekrieg: Russland ruiniert gerade seine Zukunft
Ein Waffenstillstand im Ukrainekrieg? Konkret ist er noch lange nicht, aber immerhin wird seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hinter den Kulissen offensichtlich verstärkt darüber geredet. Historisch gesehen wäre es aber ein Novum, wenn es «innerhalb von 24 Stunden nach Amtsantritt» zu einer Lösung käme – wie Trump während des Wahlkampfes vollmundig versprochen hatte.
Auf dieser Grundlage tut Russlands Präsident Wladimir Putin derzeit nach Einschätzung von Experten alles, um mit seiner Armee kurzfristig möglichst viel Fläche zu gewinnen und um möglichst grossen Schaden an der verbliebenen ukrainischen Infrastruktur anzurichten. Die Ukraine dagegen hinterlässt angesichts der schon seit Monaten anhaltenden massiven Attacken auf breiter Front einen angeschlagenen Eindruck, da seine Ressourcen begrenzt sind und da es vor allem auch an Personal mangelt.
Das menschliche Leid ist enorm
Der Verschleiss an Material ist enorm und das menschliche Leid ist hoch. Das gilt aber nicht nur für die Ukraine selbst, sondern auch für Russland. Zahlen der Datenbank Oryx und des ukrainischen Verteidigungsministeriums zeigen, dass die Russen tausende Panzer verloren haben und dass die personellen Verluste (Verwundete und Tote) auf russischer Seite im Trend immer weiter zunehmen. Demnach sind im Oktober täglich 1354 Personen getötet oder schwer verletzt worden – so viel wie nie seit dem Beginn des Überfalls im Februar 2022.
Das fühlt sich schon beim Lesen schrecklich an. Wer jedoch die ganze Brutalität realisieren möchte, schaut sich Videos darüber an, wie es in russischen Leichenhäusern zugeht. Dort herrscht Hochbetrieb – wie allgemein in der russischen Wirtschaft, wie zum Beispiel die Weltwoche berichtete. Die Konjunktur in Russland boome und hänge den Westen ab. Die wirtschaftlichen Restriktionen des Westens hätten versagt, da das Land durch den Verkauf von Öl und Gas immer noch beachtliche Einnahmen erziele. Russland sei die Konjunkturlokomotive in Osteuropa, schrieb zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch im Oktober mit Verweis auf das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.
Sie sehen grosszügig darüber hinweg, dass die russische Wirtschaft seit Kriegsbeginn zwar deutlich gewachsen sein mag. Aber ob das die Konsumenten erfreut und ob das den Wohlstand verbessert hat, lässt sich stark bezweifeln. Schliesslich werden die knappen Ressourcen in diesen Tagen vor allem dazu verwendet, um Waffen und Munition für den Krieg in der Ukraine herzustellen. Der Staat greift immer stärker dirigistisch in das Geschehen ein, was ein sicheres Rezept für die Fehlallokation von Ressourcen und massive Verschwendung ist.
Notenbankchefin Elwira Sachipsadowna Nabiullina erklärte erst in den vergangenen Tagen im Parlament, dass fast alle Ressourcen der russischen Wirtschaft erschöpft seien. Die Arbeitslosenquote sei auf einen historischen Tiefstand von 2,4 Prozent gefallen, und mehr als 70 Prozent der Firmen klagten über Personalmangel. «Wenn die Wirtschaft an die Grenzen ihrer Produktionskapazität stösst, die Nachfrage aber weiterhin stimuliert wird, kommt es zu einer Stagflation», sagte sie wörtlich,
Die Kriegswirtschaft verzerrt die Massstäbe
Faktisch verzerrt die einseitige Ausrichtung die Wirtschaftsstruktur, sorgt für verschiedenste Engpässe und treibt Preise sowie Zinsen nach oben. Ein Kilogramm Kartoffeln koste im November 2024 rund 73 Prozent mehr als Anfang des Jahres, die Zinssätze hätten im vergangenen Monat 21 Prozent erreicht, und für eine Hypothek müsse man 28 Prozent berappen, beklagen Nutzer in den Sozial Media. Der stellvertretende Leiter des staatlichen Eisenbahnunternehmens Russlands fürchte sogar, das russische Eisenbahnsystem breche bald zusammen – unter anderem, weil wegen der Sanktionen qualitativ hochwertige Kugellager westlicher Provenienz fehlten.
Tatsächlich kostet die Kriegswirtschaft viel Geld, das an anderen Stellen schmerzlich fehlt. Zum Beispiel beim Unterhalt der zivilen Infrastruktur, für den Betrieb des Bildungs- und des Gesundheitssystems oder auch für die Forschung an und der Entwicklung von Zukunftsvisionen. Pessimisten denken, Russland werde auf einen Moment wie im Februar des Jahres 1917 zusteuern. Damals hatte die Herrschaft der Zaren ihr Ende gefunden, weil die Bevölkerung wegen Mangelversorgung und politischer Desorganisation aufbegehrte.
Das ist eine traurige Entwicklung. Schliesslich hätte Russland eigentlich alles, was das Land prosperieren lassen könnte. Ähnlich wie die USA verfügt es über jede Menge natürliche Vorteile: Meereszugang, enorme Landreserven, üppige Energie- und Rohstoffvorkommen und eine beachtliche Bevölkerung von 144 Millionen Personen im Jahr 2023. Ohne seine teuren geopolitischen Abenteuer sollte es sich einem anderen politischen Umfeld gut entwickeln können.
Russland stirbt aus, wenn es so weiter macht
Leider ist die Geburtenrate in Russland in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund veränderter Lebensumstände und abnehmendem Glauben an eine prosperierende Zukunft deutlich zurückgegangen, und die Sterblichkeit war schon vor dem Ukrainekrieg grösser als die Geburtenrate. Nun fallen im Ukrainekrieg auch noch viele junge Männer im reproduktionsfähigen Alter, viele andere sind aufgrund des Konfliktes ausgewandert. So verschlechtert sich die demografische Entwicklung merklich und überschattet selbst optimistische Zukunftsvisionen.
Die mag es zwar geben, falls die kriegerischen Aktivitäten aufgegeben werden sollten, falls man innovative Kräfte sich entfalten liesse, falls die Gelder des nationalen Wohlfahrtsfonds nicht weiter verschwendet würden und falls sich wieder mehr junge Familien formieren würden. Schliesslich wird das Bruttoinlandprodukt eines Landes wesentlich bestimmt von der Entwicklung der Bevölkerung und ihrer schöpferischen Leistungsfähigkeit.
Im Moment ist jedoch nicht einmal ein Waffenstillstand konkret absehbar. Dabei hat Russland seine materiellen und menschlichen Ressourcen in den vergangenen Monaten enorm strapaziert und einen solchen genau so dringend nötig, wie die Ukraine und der Rest der Welt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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