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Drei Sachbücher aus dem Springer-Verlag zum Thema Nachhaltigkeit © cc

Rösselsprünge durch die Nachhaltigkeit

Hans Steiger /  «Nachhaltigkeit» hat vielerlei Facetten - auch in der Fachliteratur bei Springer Nature. Hier drei Beispiele und eine Empfehlung.

Springer – ohne Axel! – steht für Wissenschaft. «Verlagsexpertise seit 1842», verkündet die Website des heute weltweit vernetzt und zunehmend «online first» agierenden Konzerns: 2900 Zeitschriften, 300’000 Bücher, digital «mehr als zehn Millionen wissenschaftliche Dokumente». Eher zufällig stiess ich auf einen spannend klingenden Titel der Springer Nature-Gruppe, sah mich im Umfeld um und bestellte neugierig gleich drei Bücher. Dies deren Fragestellungen in zuspitzender Kurzform: Nachhaltigkeit managen wie irgendein Geschäft? Klimawandel mit medialer Dosierung? Ungleichheit als Kern der ökologischen Krise? Die höchst unterschiedlichen Fachpublikationen bescherten mir zwar nicht immer leichte, doch meist erhellende Sommerlektüren. Die letzte kann ich als Einstieg in den Wahlherbst empfehlen.
Für globale Umwälzungen rüsten
Im ersten Fall hatte ich zu wenig auf den Umfang geachtet. Für einen ersten Einblick in «Nachhaltiges Management» waren die fast 800 Seiten im Grossformat etwas viel. Doch das Vorwort betonte dessen enorme Bedeutung: «Bei den globalen Umwälzungen, die im ökologischen, ökonomischen und sozialen Bereich anstehen» könnte es Zukunft sichern. «Und zwar nicht nur die der nächsten Jahre.» Mit der «Agenda 2030» der UNO wird das Leitbild einer «nachhaltigen Entwicklung» abgesteckt. Es geht um nicht weniger als «die Lebensverhältnisse aller Menschen in lebenswerter Qualität» sowie um «den Schutz des Planeten». Also gilt es auch im Kleinen, bei jedem einzelnen Unternehmen, «einen Anfang zu machen», Umdenken anzuregen, ein Zeichen zu setzen, und die damit verbundenen Chancen zu nutzen. Die vielfältigen Beiträge sollten neben der Grundlageninformation praxistaugliche Konzepte und Strategien vermitteln. «Best Practices»-Beispiele aus verschiedenen Branchen könnten Ansporn sein.

«Nachhaltiges Management». Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Hrsg. von Marco Englert und Anabel Ternès. Springer Gabler, Berlin 2019, 75.00 CHF.
Einem gewissen Grundmisstrauen zum Trotz begann ich interessiert zu lesen, liess mich auf den mit Anglizismen gespickten Management-Jargon ein, wollte an die gute Absicht glauben, nach der «Unternehmen eine komplette Neuorientierung durchlaufen» sollten, um künftig das Beste für Umwelt und Gesellschaft zu bewirken. «Nachhaltigkeit sollte dabei in alle Aktivitäten des Unternehmens integriert werden» und müsste «entlang der gesamten Wertschöpfungskette vorhanden sein». Eine entsprechende «Unternehmensethik» ist im Dialog mit allen «Anspruchsgruppen» zu entwickeln. Mitarbeitende sind einzubeziehen, denn sie müssen ja danach ihr gemäss handeln.
Voll grün(neo)liberalem Zeitgeist
Wiederholt wird auf Modelle verwiesen, die in St.Gallen entwickelt wurden. Die dortige Wirtschafts-Uni gilt als neoliberale Kaderschmiede, einzelne Professoren und studentische Gruppierungen setzten aber früh alternative Akzente. Das von Co-Herausgeber Marco Englert vorgestellte Business-Coaching klingt eher klassisch. Untertitel des Beitrags: «Kompetenz, Qualitätsmanagement, Systemik und Trends als Erfolgsfaktoren» Dabei geht er von der «modernen VUKA-Welt» aus; dieses Kürzel steht für volatil, unsicher, komplex, ambivalent. «Ursprünglich wurde der Begriff im US-Militär genutzt.» Angesichts der heute allgemeinen Verunsicherung «lässt sich die steigende Nachfrage der Führungskräfte nach Coaching erklären». Ihnen werden denn auch gleich dutzendweise Angebote gemacht. Oft peinlich penetrant. Schon die Kurzporträts der Autoren sowie – überraschend vielen – Autorinnen wirken wie Anpreisungen. Marco Englert selbst «steht für ein Excellenz-Mindset», welches Menschlichkeit, «Gleichgewicht bzw. Balance» und besonders digitale Innovation fördert. Dort sieht er «die zentralen Treiber für nachhaltig profitables Wachstum». Andere geben gleich Referenzen an. Gina Schöler, die belanglos lustig «Glückskompetenz» vermittelt, zählt etwa die Deutsche Bahn, Mercedes, Roche Diagnostics und Lotto Baden-Württemberg «zu ihren begeisterten Kunden».
Immer wieder kam das Gefühl auf: Das tust du dir nicht weiter an. Nur noch überfliegen! Vieles wiederholte sich; x-mal ähnlich oberflächliche Nachhaltigkeits-Definitionen. Dann las ich mich doch wieder fest, gab es Annäherungen: Die oder der meint es wirklich ernst, sieht das Problem, vor dem wir stehen. Auch die Suffizienzstrategie kommt ins Spiel, es werden Sinnfragen, gar Systemfragen gestellt. Pia-Johanna Schweizer und Ortwin Renn, die aus dem soziologischen Bereich kommen, beleuchten am Ende der ersten Abteilung den vom Menschen verursachten Klimawandel als das Paradebeispiel der «systemischen Risiken». Sie bedrohen alle, erzeugen aber für die meisten Menschen keine unmittelbare Handlungsrelevanz. Auch die Kommunikation darüber bleibt wirkungslos; einschneidende Verhaltensänderungen sind kaum zu erwarten und der Druck zur «Risikoregulierungen durch die Politik» ist gering. Nötig wären neue Institutionen und Verfahren…
«Nachhaltigkeit» gut fürs Geschäft
Im zweiten Teil werden dann aber nur «neue Konzepte aus Wissenschaft und Praxis in den einzelnen Managementdisziplinen» gesichtet. Bald gerät das Ganze wieder aus dem Blick. «Ökoeffizienz und Wettbewerbsvorteile» rücken ins Zentrum. Richtig schlimm ist das Finale. Zu den dort vorbildhaft präsentierten Unternehmen gehören zwar mit Weleda und dem seit 60 Jahren auf Bio setzenden Babynahrungshersteller Hipp plausible Pioniere. Als aktuelle Vorreiterin kommt aber vorab die Deutsche Telekom. Sie liefert «Technologien für eine bessere Welt». Wer das von Birgit Klesper, dort als Journalistin tätig, gepriesene «We Care»-Magazin konsultiert, wird mit Propaganda für «das neue Giganetz» bedient, welches ja all die digitalen Wunder erst ermöglicht. Smart Farming etwa, das weltweit den «Hunger beenden» wird, oder Telemedizin für alle. Das letzte Wort hat Stefan Haver von der Evonik Industries AG aus Essen. Der im Kohlegeschäft wurzelnde Mischkonzern setzt jetzt auf Spezialchemie und Hochleistungsmaterialien, was dem Ruhrgebiet nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch vielfältige Risiken beschert. Doch der «Perspektivwechsel»-Text plädiert für positives Denken, gegen eine «reine Verzichtslehre», die nur Dinge aufliste, von denen es sich angesichts knapper Ressourcen zu verabschieden gelte. Nachhaltigkeit müsse «vom limitierenden Faktor zum Wachstumstreiber werden». Dies rundet die aufschlussreiche Dokumentation geschäftstüchtiger Gesundbeterei perfekt!
Klimawandel – medial nach Mass?
Szenenwechsel: Kommunikationswissenschaft. «Klimawandel im Kopf» liefert die Bilanz eines von 2009 bis 2015 in Deutschland durchgeführten Forschungsprojekts. Interessant fand ich den einleitenden Bezug auf Debatten der 1980er-Jahre: Damals wurde über die Zulassung privater Radio- und TV-Angebote gestritten, dazu kamen Visionen ganz neuer Medien, die als Chance zur Demokratisierung oder Gefährdung der Gesellschaft galten. Trotzdem wurde beim Ausleuchten der aktuellen Medienlandschaft dieser Online-Aspekt erst nachträglich einbezogen. Es zeigte sich, dass die sogenannten Sozialen Medien die Auseinandersetzung mit der Klimafrage zunehmend beeinflussten und tendenziell fragmentierten. Jede und jeder findet dort seine gewünschte Interpretation.

«Klimawandel im Kopf». Studien zur Wirkung, Aneignung und Online-Kommunikation. Hrsg. von Irene Neverla u.a. Springer VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2019, 63.00 CHF.
Irritierend ist das Vorwort des Meteorologen Hans von Storch, der Anmerkungen «zum öffentlichen Diskurs über den Klimawandel» beisteuert. Er glossiert die «Herrschaft der Naturwissenschaften», einen dort von «Hütern der Wahrheit und Propheten der Zukunft» gepflegten «Klimadeterminismus», und er möchte «eine alternative Klimawissenschaft» befördern, aber ein Leugner will von Storch nicht sein. Er betont, «dass es sich im Falle des Klimawandels um eine reale Herausforderung handelt». Zur offenen Diskussion gehörten «Skeptische», jede Autorität sei zu hinterfragen. «Diese kritische Distanz findet sich merkwürdigerweise kaum in Bezug auf die Klimaforschung, weder in der Öffentlichkeit noch in den Sozial- und Kulturwissenschaften.» Dass die Kolleginnen aus der Kommunikationswissenschaft bei ihren Untersuchungen auch die Rezeption des naturwissenschaftlichen Wissens durch «Normalmenschen» thematisierten, sei löblich. Nun bliebe nur noch zu klären, inwieweit mediale Berichterstattungen ihrerseits die Naturwissenschaften beeinflusst hätten…
Tatsächlich zeigen die Befragungen diffuse Diskrepanzen zwischen den transportierten Informationen und dem, was daraus in den Köpfen wurde oder hängen blieb. Die bei der Präsentationen neuer Klimaberichte oder im Umfeld von Gipfeln massive mediale Präsenz des Themas sorgte für ein auf- und abschwellendes «Grundrauschen», hinterliess jedoch wenig Spuren. Relevanter für die Meinungsbildung waren Bücher und dokumentarische Filme. Für die journalistische Zunft mag eine breit angelegte Online-Befragung tröstlich sein, die immerhin zeigte, «dass professionelle und etablierte Instanzen wie traditionelle Massenmedien einen einflussreichen Deutungsrahmen im Twitter-Diskurs zum Klimawandel stiften».
Leider enden die Betrachtungen im eben ausgelieferten Buch alle 2015, als das Projekt auslief. Nichts zu dem, was nach «Paris» geschah, kein Wort zum letzten Jahr, wo sich punkto Klima doch einiges bewegt hat – nicht nur in einzelnen Köpfen. Wenigstens eine aktuelle Anmerkung zu den Schulstreiks und ihrer medialen Resonanz hätte ich erwartet. Das vorwiegend mit Frauen besetzte Untersuchungsteam meldet bei etlichen Punkten weiteren Forschungsbedarf an. Bitte zieht die Analyse des «Greta-Effekts» vor!
Grün ohne Rot wäre hoffnungslos
Davide Brocchi, ein in Köln lebender Sozialwissenschaftler und «Transformationsaktivist», setzt in seiner Schrift über «Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit» ebenfalls beim Klima an: bei der «Katastrophe von Kopenhagen» sowie der gefeierten Wende in Paris, die leider in der Realität bis jetzt keine ist. «Der Klimaschutz gehört bereits zu einer langen Reihe gebrochener Versprechen der internationalen Entwicklungspolitik.» Das als knappes Zitat aus der Einleitung.

Davide Brocchi: «Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit». Warum es keine Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit geben kann. ‹essentials›-Reihe bei Springer VS, 2019, 74 Seiten, 23.90 CHF, eBook 5.00 CHF.
Brocchi selbst zitiert meist ausführlicher. Er will nicht nur auf Quellen verweisen oder mit Worthäppchen eigene Belesenheit vorführen. Hier werden ganze Argumentationen vermittelt. Etwa jene von Brand/Wissen zur «imperialen Lebensweise», die auch Linke im globalen Norden zu direkt Beteiligten der kritisierten kapitalistischen Ausbeutung macht. Davor kommt Wolfgang Sachs zu Wort, der 1998 mahnte, das «Zeitalter der Entwicklung», an die fast alle ein halbes Jahrhundert lang glaubten, sei wohl bald endgültig vorbei. Die von der UNO proklamierte «nachhaltige Entwicklung» bringe keine Rettung der schönen Idee, dass die «Grenzen des Wachstums» mit fortwährender Innovation zu überwinden wären. Armut muss durch mehr Gerechtigkeit beseitigt werden! Wenn die Strukturen der sozialen Ungleichheit bleiben, dann scheitern auch unsere Versuche, der Klimakrise so wirksam zu begegnen, dass sie nicht für alle auf diesem Planeten lebenden Menschen katastrophal endet. Das kommt ohne lauten Alarmismus daher, aber unmissverständlich: «Gibt es nicht einen sofortigen und radikalen Kurswechsel, wird unsere Zivilisation in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich kollabieren.»
Nach dieser Analyse der Lage, die wahrscheinlich nur wenige von uns wirklich überrascht, folgen zwei zwingende Fragen: «Wie kann soziale Ungleichheit trotzdem bestehen?» – also entgegen den Interessen der Mehrheit. Da werden die verschiedenen Formen der Gewalt, aber auch kulturelle Prägungen sowie unsere Verführbarkeit beleuchtet. Und: «Wie kann es ein richtiges Leben im Falschen geben?» Wir hätten mit konsequenterem Tun sowie mit neuen, unkonventionellen Allianzen durchaus Aussichten auf gemeinsame Erfolge. Denn ein radikaler Wandel findet auf jeden Fall statt, die Frage ist nur, in welche Richtung dieser gehen wird. Ausführlich zitiert wird im Schlussabschnitt trotz dem Titel nicht etwa Adorno, sondern Elinor Ostrom, die 2009 in ihrer Nobelpreis-Rede als Ökonomin für mehr Vielfalt, Dezentralisierung und Regionalisierung eintrat, ohne sich vor einem Chaos zu fürchten. Patentrezepte gebe es nicht; lokale Regelwerke scheinen die besten.
Mein subjektives Fazit: Ein überzeugendes sozialökologisches Strategiepapier, das sogar als Wahlempfehlung dienen könnte. Lieber kein Grün ohne rote Grundierung! «Umwelt und Soziales gehören so fest zusammen, wie die Natur zum Menschen und der Mensch zur Natur.» Ein guter Rat – und zumindest in der digitalen Form nicht teuer. Verwundert las ich nochmals, was auf dem Vorsatzblatt über den Anspruch der «essentials»-Reihe steht. In den Publikationen werde nicht nur «aktuelles Wissen in konzentrierter Form» geliefert, sondern jeweils «die Essenz dessen, worauf es als «State-of-the-Art» in der gegenwärtigen Fachdiskussion oder in der Praxis ankommt». Träfe die Einschätzung zu, dass der Autor den aktuellen Debattenstand dieses Wissensbereichs wiedergibt, würde ich mir bezüglich Zukunft weniger Sorgen machen. Noch hat «Nachhaltigkeit» offensichtlich viele Facetten; selbst Springer hat im Klima-Schach mehrere Figuren im Spiel.

Dieser Text erscheint auch als Politeratour-Beitrag im P.S.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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