Arm und Reich

Die Unterschiede der Portemonnaies von Reichen und von Armen nehmen zu - auch wenn Statistiken anderes glauben machen. © Depositphotos

So ungleich verteilt sind unsere Einkommen

Werner Vontobel /  Die Ungleichheit in der Schweiz ist grösser, als wir glauben sollen. Und sie nimmt zu.

Die Denkfabrik Avenir Suisse sagt es immer wieder: «Von einer sich stetig öffnenden Schere bei den Einkommen kann nicht die Rede sein.» Und die Economiesuisse doppelt nach: «Die neusten Daten des Bundesamts für Statistik BFS bestätigen den langjährigen Trend einer stabil tiefen Ungleichheit in der Schweiz.» In einem «Faktencheck» hat die Sonntagszeitung (SZ) diese Aussage neulich bestätigt. Sie beruft sich dabei auf die Swiss Inequality Database (SID) wonach der Anteil der reichsten 10 Prozent seit 1933 «weitgehend stabil» geblieben sei. Sie verdienen aktuell 33,84 Prozent aller Einkommen.

Die SZ hätte ihre Aussage auch mit der Statistik der verfügbaren Äquivalenzeinkommen belegen können. Danach hatte das reichste Fünftel schon 2008 genau wie heute 4,7 Mal soviel Einkommen wie das ärmste. Also auch hier: stabile Verhältnisse. Doch diese Statistik hat den Nachteil, dass sie auf Befragungen beruht, mit denen die ganz hohen Einkommen sehr schlecht erfasst werden. Das ist auch der Grund, warum die SZ die Zeitreihen der SID verwendet hat. Diese – so die SZ – «beruhen auf den vollständigen Steuerdaten und sind somit zuverlässiger».

Doch stimmt das Narrativ von einer stabilen Einkommensverteilung wirklich? Die Intuition weckt Zweifel: Wenn in einem reichen Land der Mittelstand immer mehr Mühe hat, über die Runden zu kommen, muss das BIP entweder gesunken sein – was nicht der Fall ist – oder es wird ungleichmässiger verteilt. Schauen wir uns also diese Steuerdaten, auf die sich nicht nur die SZ beruft, etwas genauer an.

Eine Lücke von 170 Milliarden

Erster Check: Wir multiplizieren das in der Statistik ausgewiesene Durchschnitteinkommen von 86’000 mit den 3,9 Millionen steuerpflichtigen Haushalten und kommen auf 336 Milliarden deklariertes steuerbares Einkommen. Gemäss der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung VGR haben die Haushalte 2020 aber ein Primäreinkommen von 506 Milliarden kassiert. Da klafft eine Lücke von 170 Milliarden.

Doch halt: Die Zahlen der VGR und die der Steuerverwaltung sind nur bedingt vergleichbar. Wenn alle rund 1,4 Millionen Wohneigentümer gleich viel Eigenmietwert deklarieren mussten wie der Autor, müssen wir noch rund 30 Milliarden zum Primäreinkommen dazuzählen. Auch die nicht ausgeschütteten Gewinne sind nicht enthalten. Wenn ein Selbständiger zwei Millionen Franken Gewinn erwirtschaftet und sich je eine halbe Million Dividende und Lohn ausschüttet, steigt sein in der Firma investiertes Vermögen um eine Million, die aber im Primäreinkommen nicht aufscheint. Aus der VGR lässt sich ableiten, dass dadurch das Vermögen aller Privathaushalte um rund 75 Milliarden geäufnet wird. Das Primäreinkommen würde dadurch auf 611 Milliarden steigen – 275 Milliarden mehr als die steuerlich erfassten.

Wie ist der grosse Rest verteilt?

Das heisst: Die offiziellen Aussagen zur Einkommensverteilung beruhen nur auf gut der Hälfte aller Einkommen. Bleibt die Frage: Wie ist der grosse Rest verteilt? Genaueres wissen wir nicht. Doch nachdem die Lohneinkommen fiskalisch gut erfasst werden, liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei weitgehend um Kapitaleinkommen handelt. Die bürgerliche Mehrheit hat es immer wieder geschafft, Kapitaleinkommen der Steuer zu entziehen. So sind etwa allein im Verlaufe von 2023 Ausschüttungen von 67 Milliarden Franken ganz legal als steuerfreie Kapitalrückzahlungen deklariert und ausbezahlt worden, wovon vermutlich ein rechter Teil an Schweizer (Nicht-)Steuerzahler ging. Grosse Wertschriftenbestände können zudem in eine Holding eingebracht und so der Steuer weitgehend entzogen werden.

Diese Rechnung müsste von Denkfabriken noch genauer überprüft werden. Aber nehmen wir zum Zweck der Veranschaulichung einmal an, dass es sich bei den ganzen 275 Milliarden um Kapitaleinkommen handle. Laut der Statistik der Vermögensverteilung gehören 77,8 Prozent der Reinvermögen dem reichsten Zehntel. Da grosse Vermögen bekanntlich rentabler angelegt werden als kleine, können wir davon ausgehen, dass das reichste Zehntel auch mindestens 80 Prozent der Vermögenserträge kassiert. Bezogen auf 275 Milliarden wären das rund 220 Milliarden. Dazu kommen noch 114 Milliarden (der Anteil von 33,84 Prozent an den erfassten 336 Milliarden). Woraus folgt: Von den 611 Milliarden, die den Haushalten 2020 zugeflossen sind, gehen 389 Milliarden oder fast 64 Prozent an das reichste Zehntel.

Privatvermögen steigt zunehmend schwächer

Wie gesagt: Diese Zahl müsste noch von Spezialisten genauer überprüft werden und ist wohl zu hoch gegriffen. Aber das Rechenbeispiel zeigt, dass sich die Einkommensverteilung ganz anders präsentiert, wenn wir auch die nicht versteuerten Einkommen mit einbeziehen. Auch wenn wir die nicht versteuerten Kapitaleinkommen mit bloss 100 Milliarden beziffern, steigt der Anteil des reichsten Zehntels immer noch von 33,84 auf 41,4 Prozent

Doch mit diesen Überlegungen haben wir noch nicht die Behauptung widerlegt, wonach die Einkommensverteilung seit langem stabil sei. Dazu müssten wir glaubhaft machen können, dass der Anteil der sehr einseitig verteilten Kapitaleinkommen in letzter Zeit stark angestiegen ist. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass der jährliche Anstieg der Privatvermögen von 2009 bis 2014 rund ein Zehntel betrug des Anstiegs in den letzten zehn Jahren. Seither ist das Privatvermögen im Jahresmittel um 154 Milliarden Franken (!) gestiegen. Dafür ist vor allem der rasante Anstieg der Immobilien- und Bodenpreise verantwortlich – was erhebliche Auswirkungen auf die Verteilung der Kaufkraft hat.

Ein Beispiel: Laut ZKB ist ein Einfamilienhaus im Kanton Zürich heute 690’000 Franken mehr wert als noch 2018. Das sind fast acht durchschnittliche Jahreslöhne mehr Kaufkraft für den Verkäufer und entsprechend weniger für den Käufer. Die Mieter werden monatlich zur Kasse gebeten. Vor allem Neumieter müssen nicht selten mehr als 20 Prozent ihres Einkommens allein für die Benutzung des Bodens abtreten, auf dem ihre Wohnung steht. Die wenig beachtete Kehrseite dieser Entwicklung ist ein starker Einkommensanstieg der Bodenbesitzer, darunter auch der Pensionskassen und ihrer Rentner.

Können wir mit der Ungleichheit nicht gut leben?

Noch sind die Auswirkungen der Explosion der Bodenpreise auf die Kaufkraft nicht seriös untersucht worden. Insgesamt sprechen aber doch sehr viele Indizien dafür, dass die Einkommensverteilung in der Schweiz ungleicher ist als bisher angenommen und dass wir einen starken Trend zu mehr Ungleichheit haben. Doch so what? Können wir nicht auch mit einer ungleichen Verteilung der Einkommen gut leben? Kommt es, wie Marco Salvi von Avenir Suisse argumentiert, letztlich gar nicht auf die Einkommen und Vermögen an, sondern nur auf den Konsum? Zitat: «Alles deutet darauf hin, dass die Konsumdisparitäten noch geringer sind als jene von Einkommen und Vermögen.»

Es scheint nicht bloss so. Es ist natürlich so. Und zwar schon deshalb, weil man so hohe Einkommen gar nicht verkonsumieren kann. Gemäss der Statistik der Haushaltsausgaben von 2016 verdient das reichste Fünftel der Paarhaushalte zwar gut viermal so viel wie das ärmste, konsumiert aber nicht einmal doppelt so viel. Für das ärmste und reichste Zehntel ist die Diskrepanz zwischen der Ungleichheit des Konsums und der des Einkommens noch viel grösser – und das hat seinen Preis: Einerseits wird der Konsum der ärmeren Schichten trotz staatlichen Zuschüssen auf ein Niveau gedrückt, das ihrer Gesundheit und Lebenserwartung schadet. Andererseits müssen die Grossverdiener ihr Geld teils mit volkswirtschaftlich nutzlosem Luxuskonsum verschleudern, zum grossen Teil legen sie es aber auf die hohe Kante und blähen dadurch die Kapitalmärkte weiter auf, deren Verwaltung, Sicherung und Umschichtung einen immer grösser Teil des Volkseinkommens beanspruchen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten haben die Steuerdaten die Einkommensverhältnisse wohl ziemlich akkurat widerspiegelt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir müssen die Verteilungsdiskussion auf eine neue solidere Grundlage stellen. Economiesuisse und Avernir Suisse hätten dazu vermutlich das nötige Knowhow, aber ihnen fehlt wohl die Lust und das materielle Interesse, diese Debatte auch zu führen.


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4 Meinungen

  • am 29.03.2024 um 11:58 Uhr
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    Der Reichtum befeuert noch was ganz Anderes: die Entstehung von Dynastien (via Erbschaft). Der Reichtum befeuert (Zeit Lebens) die Philanthropen, die nicht mehr wissen was mit ihrem Geld machen; der führt zu Mäzenatentum und zu kleinen Königen – wie im Mittelalter. Es blühen Zustände auf, die wir mit der Einführung der modernen westlichen Verfassungen (nach der Französischen Revolution) nicht mehr haben wollten.
    Und wie bekommt die Entwicklung korrigiert? Mit bezahlen von Steuern, simpel einfach.

    • am 30.03.2024 um 17:14 Uhr
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      Eben! Und schon wäre das Problem mit der Finanzierung der 13. AHV-Rente gelöst.
      Unsere Politiker kommen natürlich nicht auf sowas. Warum ist das so…………?

    • am 30.03.2024 um 18:24 Uhr
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      Sie haben recht Herr Wieland. Und: Die meisten Ökonomen sind reich und deshalb werden sie nur Studien produzieren, die bestätigen, dass die Unterschiede zwischen reich und arm in der Schweiz kein Problem sind. So wie damals, als die Zigarettenproduzenten Studien publizierten, rauchen sei nicht schädlich. Und es ist diese Rendite geleitete Wissenschaft (und auch die Profite orientierte Politik), die viele lieber an «meine Meinungen» glauben lässt als an überprüfte Daten. Oder an die Vernunft. Kombiniert mit dem wissenschaftlichen Durcheinander.

  • am 30.03.2024 um 18:09 Uhr
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    Danke für den Artikel! Die Einkommen gemäss Steurererklärung zeigen bei den Reichen meist nur die halbe Wahrheit.
    Vermögen lassen sich vermutlich präziser erfassen als Einkommen. Und anhand der Vermögensunterschiede lässt sich der Graben zwischen Arm und Reich genauso gut beschreiben.
    Vermögen könnten auch zuverlässiger von den Steuerbehörden erfasst werden als Einkommen. Deshalb wäre eine zusätzliche Progressionsstufe für ganz hohe Vermögen sicher keine schlechte Option, wenn die Staatsschulden aus dem Ruder zu laufen drohen.

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