Medizinischer Notfall

Wenn ein Patient mit einem Blutgerinnsel in der Lunge, im Herz oder im Hirn schnell ins Spital gebracht wird, hat er bessere Chancen – falls im Spital die nötigen Medikamente vorhanden sind. © HayDmitriy / Depositphotos

Lieferprobleme bei zwei lebenswichtigen Medikamenten

Martina Frei /  Wer 2022 oder 2023 einen Schlaganfall oder eine Lungenembolie hat, kann nur hoffen, dass der Hersteller genügend Wirkstoff liefert.

«Wie konnte das passieren?», fragt das «arznei-telegramm», eine Fachzeitschrift für Ärztinnen und Ärzte. Ende April hatte der Pharmahersteller Boehringer Ingelheim deutsche Ärztinnen und Ärzte informiert, dass bei zwei lebenswichtigen Medikamenten ab Mai ein «Lieferengpass bis hin zu vorübergehender Lieferunterbrechung» bevorstehe. Die Versorgungslage bleibe voraussichtlich «in den nächsten zwei Jahren weltweit angespannt». Am 10. Mai setzte Boehringer Ingelheim auch Schweizer Mediziner von temporären Lieferunterbrüchen in Kenntnis.

«Das ist relativ ungemütlich», sagt Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler Frutigen-Meiringen-Interlaken und Vizepräsident des Schweizerischen Apothekerverbands Pharmasuisse. Die beiden Medikamente namens «Actilyse» und «Metalyse» sind laut der WHO essentiell. Sie werden benötigt, um notfallmässig Blutgerinnsel, die zu Lungenembolien oder zu Schlaganfällen geführt haben, aufzulösen. Auch durch Blutgerinnsel verstopfte Venenkatheter, beispielsweise bei Patienten mit Nierenschwäche oder während einer Chemotherapie, können mit einer kleinen Dosis von «Actilyse» unter Umständen wieder frei bekommen werden. Doch diese kleine Dosis fehlt nun voraussichtlich bis Januar 2024.

«Dann stirbt der Patient im schlimmsten Fall»

In Deutschland wurden 2019 und 2020 etwa 430’000 Menschen wegen eines Schlaganfalls infolge eines Blutgerinnsels stationär behandelt. Die Behandlung mit «Actilyse» ist nur unter bestimmten Voraussetzungen geeignet, etwa 16 Prozent der Betroffenen wurden dem «arznei-telegramm» zufolge damit behandelt. Bei Komplettausfall von «Actilyse» würden pro Jahr 35’000 Patienten mit Schlaganfall und 7’000 bis 8’000 mit akutem Herzinfarkt oder Lungenembolie «nicht gemäss aktuellem Standard behandelt werden können», rechnet das «arznei-telegramm» vor. Würden diese Wirkstoffe fehlen, «dann stirbt der Patient im schlimmsten Fall», sagt Martinelli. Im weniger schlimmen Fall bliebe er behindert zurück, was sich mit Behandlung möglicherweise hätte vermeiden lassen.  

Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) kam in einem Bericht vom Dezember 2020 zum Schluss, dass bei beiden Medikamenten ein «mittleres bis hohes Versorgungsrisiko» und ein hoher medizinischer Bedarf bestehe: «Die Medikamente gehören […] zu den lebensrettenden Massnahmen nach […] einem Schlaganfall und sind deshalb für den behandelnden Arzt als wichtig zu beurteilen. […] Da der Markt sehr unausgeglichen ist, sind Substitutionen im Falle von Ausfällen durch andere Produkte nicht realistisch.» Die Lagerbestände hätten anlässlich einer Momentaufnahme für 1,5 bis 3,5 Monate gereicht. Das BWL unterstellte «Actilyse» daraufhin der Melde- und Lagerpflicht, «Metalyse» nur der Meldepflicht. Das heisst, das Bundesamt für Statistik muss informiert werden, wenn die Medikamente zum Einsatz kommen. 

Boehringer Ingelheim erwartet gemäss dem Schreiben an deutsche Ärzte «eine vorübergehende Unterbrechung der Versorgung mit beiden Substanzen in den Jahren 2022 und 2023 in mehreren Ländern, darunter auch in Deutschland». In dem Brief ist – anders als im Brief an die Schweizer Ärzteschaft – auch von Lieferproblemen bei den Dosierungen die Rede, die zur Behandlung von Menschen mit «akuter massiver Lungenembolie» oder Schlaganfall benötigt werden.

Viel Zeit bleibt in solchen Momenten nicht, denn die Blutgerinnsel müssen rasch aufgelöst werden. Ist das Medikament vor Ort nicht da, wird es kaum noch von irgendwo beschafft werden können. Von Mai 2022 bis Dezember 2022 werde es da in Deutschland Lieferengpässe geben, «bis hin zu einer Lieferunterbrechung am Ende des Jahres 2023», teilte der Hersteller mit. Ab Januar 2023 seien die benötigen Dosierungen wieder «eingeschränkt lieferfähig».

Kaum Alternativen

Alternativen gibt es laut Boehringer Ingelheim nur wenige. «Für die Behandlung einer Hoch-Risiko-Lungenembolie […] steht keine zugelassene medikamentöse Alternative zur Verfügung», schreibt die Firma. Dasselbe gelte für die Behandlung des Schlaganfalls. Nur «unter ausgewählten Bedingungen» bleibe die Möglichkeit, das Blutgerinnsel chirurgisch oder mittels Katheter zu entfernen. Und verstopfte Venenkatheter müssten ausgetauscht werden. Das bedeutet für den Patienten unter Umständen eine kleine Operation.

Auch das «arznei-telegramm» sieht keine medikamentösen Alternativen. Alle in Frage kommenden drei Medikamente seien entweder ausser Handel, für die entsprechende Krankheit nicht zugelassen und überdies allesamt mangels Daten aus Studien nicht empfohlen.  

Profiteure der Notlage

Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft habe ihre Mitglieder bereits aufgefordert, den Entscheid, wann «Actilyse» eingesetzt werden solle, «sorgfältig» zu fällen, berichtet das «arznei-telegramm». Dem Artikel zufolge will der Hersteller die Lieferungen in einzelne Staaten kontingentieren. «Ein solcher Steuerungsversuch birgt jedoch unseres Erachtens die Gefahr, dass er durch finanzkräftige Akteure aus reichen Ländern unterlaufen werden kann», schreibt das «arznei-telegramm». 

«Es gibt Leute, die aus solchen Notsituationen Profit schlagen wollen. Das erleben wir immer wieder», bestätigt Martinelli. Diese Leute würden Restbestände auf- und dem Meistbietenden weiterverkaufen.

Die Schweiz ist noch gut dran

Verglichen mit Deutschland sind die Schweizer Patienten derzeit noch gut dran. Bis jetzt ist nur die Dosierung von «Actilyse» für die verstopften Venenkatheter betroffen, die laut Martinelli «zum Glück nicht so oft gebraucht wird». «Metalyse» zum Auflösen von Gerinnseln in Herzarterien ist ebenfalls betroffen, wird aber laut einem Schweizer Kardiologen kaum noch eingesetzt, weil heutzutage ganz überwiegend Katheterbehandlungen gemacht würden. 

Bei den Schlaganfall-Behandlungen werde es in der Schweiz zu keinen Lieferunterbrüchen kommen, habe Boehringer Ingelheim ihnen auf Anfrage mitgeteilt, sagen zwei Neurologen. Garantie habe der Hersteller aber keine gegeben und herausgeben werde man diese E-mail auch nicht.

Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Angiologie will keine Auskunft geben, ob und allenfalls wie ihre Fachkollegen Lieferengpässen begegnen werden. (Angiologen sind Spezialisten fürs Auflösen von Gerinnseln in Blutgefässen.)

Steigende Nachfrage, aber nur ein Produktionsstandort

Ausser in den USA, Japan und Kanada vermarktet laut dem «arznei-telegramm» ausschliesslich Boehringer Ingelheim die beiden Medikamente. Produziert würden sie an einem einzigen Standort in Deutschland. Dort kam es offenbar zu Einbussen bei der Qualität und der Produktionsmenge. Das sei aber nicht der einzige Grund für die Versorgungsprobleme, teilte der Hersteller den Ärztinnen und Ärzten mit. 

Als ersten Grund nennt Boehringer Ingelheim die stetig steigende Nachfrage nach diesen Medikamenten, bei begrenzten Produktionskapazitäten. Mehr alte Menschen, mehr Schlaganfälle, mehr Telemedizin mit Behandlungen an neuen Orten, neue Behandlungsempfehlungen – all das trage zum Engpass bei. 

«Unverständlich» und «nicht hinnehmbar»

«Für uns bleibt unverständlich, dass Boehringer im Wissen um eine weltweit einzige Produktionsstätte keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hat, solchen Engpässen zu begegnen. Einen unvorhersehbar plötzlich gestiegenen Bedarf können wir nicht erkennen», kommentiert das «arznei-telegramm». Die Informationspolitik und der Umgang der Firma mit den Lieferproblemen seien «nicht hinnehmbar». 

Während Lieferengpässe bei billigen Medikamenten an der Tagesordnung sind, «ist das bei einem so teuren Medikament etwas Neues», sagt Enea Martinelli. Eine Packung «Metalyse» kostet etwa 2’050 Franken.

Im August hatte «cash.ch» noch vom «soliden Finanzergebnis» bei Boehringer Ingelheim berichtet. Die Umsatzerlöse im Bereich Humanpharma seien um fünf Prozent auf 7,1 Milliarden Euro gestiegen. Die Firma gab damals bekannt, dass sie die Entwicklung von «Actilyse» als Behandlungsmöglichkeit für Covid-Patienten mit schweren Atemproblemen vorantreiben werde. 

«Der Patientenversorgung verpflichtet»

Angesichts der Lieferprobleme will sie nun Abhilfe schaffen, indem sie eine weitere Produktionsstätte in Österreich plant. Ein neues Produktionsverfahren, das zu höherer Ausbeute führe, soll ebenfalls helfen. Zudem beantrage Boehringer, dass die Laufzeit von «Metalyse» statt 24 neu 36 Monate betragen dürfe.

Um das Problem zu beheben, unternehmen «unsere Teams jede Anstrengung», teilt das Unternehmen in seinem Ärztebrief mit. Denn: «Boehringer Ingelheim ist der Patientenversorgung verpflichtet und bedauert diese Situation.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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5 Meinungen

  • am 25.06.2022 um 14:11 Uhr
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    Vielleicht sollten wir die Konzern-Diktatoren und die hegemonisch motivierten Grossmächte fragen, warum es so ist wie es ist. Ohne Trennung der Kräfte Medien, Politik, Wirtschaft und Bildung wird sich nur eines ändern. Die Demokratie wird untergehen und der Schwarzmarkt für Medikamente wird erblühen. Es geschieht nun weitgehend das, was der Philosoph Rudolf Steiner vor 110 Jahren vorher gesagt hatte. Die Diktatur der wenigen superreichen Grosskapitalisten wird den Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft vernichten. Sie können ausnahmslos jeden und jede Person kaufen. Wir sind im Ausnahmezustand und keiner merkt es. Eine gute Diktatur kann besser sein als eine schlechte Demokratie, aber was da auf uns zukommt, eingeläutet wurde mit Kriegen und vielen Toten Zivilisten, wird uns womöglich Kopf und Kragen kosten.

  • am 25.06.2022 um 16:00 Uhr
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    Mir fehlen Antworten zu ein paar Fragen: wie kann es sein, dass die Produktionskapazitäten von Boehringer an diesen einen Standort nicht mehr für die Bersorgung der Bevölkerung genügt?

    Wenn ich den Artikel richtig verstanden habe, geht es nicht darum, dass ein Produkt, der für die Herstellung dieser Medikamente nötig wäre, fehlt oder die Logistikwege nicht mehr funktionieren und deshalb keine oder sehr verspätete Lieferungen ankommen.

    Könnte es sein, dass man es als eine Erhöhung der Nachfrage verstehen könnte, die Böhringer nicht mehr erfüllen kann.

    Die Folgefrage könnte dann sein: wieso gibt es eine Erhöhung der Nachfrage? Haben denn mehr Menschen Gerinnselproblemen?

    Eine Mögliche Antwort zu dieser Frage wäre: ja, dank den Impfungen gegen Covid gibt es mehr Schlaganfälle, mehr Lungenembolien, mehr Gehirnembolien, mehr Tiefentrombosen, ….Jeder kann das in VAERS oder in Euravigilence prüfen.

    • Portrait Martina Frei 2023
      am 25.06.2022 um 18:02 Uhr
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      @ Frau Schwander: Eine andere Frage ist, ob Covid-Erkrankungen zum gestiegenen Bedarf beigetragen haben. Bekanntlich geht die Sars-CoV-2-Infektion mit erhöhtem Risiko beispielsweise für einen Schlaganfall oder eine Thrombose einher. Infosperber wird demnächst in einem Artikel darauf eingehen.

      • am 26.06.2022 um 20:16 Uhr
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        Man kann sich auch fragen, wieso es überhaupt soviele Covid Fälle gibt, da ca. 70% der CH Bevölkerung geimpft sind. Viele nicht nur zwei Mal sondern drei Mal oder jetzt noch einige vier Mal geimpft. Da frage ich mich wie wirksam diese Impfungen wirklich sind? Haben wir nicht gerade “eine risige Welle” an omicron Fälle gehabt? Die hätte es bei soviele geimpfte doch gar nicht geben sollen oder?

        In der Eudravigilence DB von ca. 1 mio Personen, die eine Impfnebenwirkung gemeldet haben, haben ca. 55’000 eine Erkrankung an Covid gemeldet und ca.1’500 sind an Covid gestorben. Und das sind nur die gemeldeten Fällen. Die Experten vom CDC sagen, dass nach Ihrer Erfahrung nur zwischen 1% und 5% der Impfnebenwirkungen gemeldet werden. Wenn ich diese Prozente anwende, dann landen wir bei zwischen 100 und 20 mio Menschen mit impfnebenwirkungen und bei zwischen 5.5 Mio. und 1.1 Mio. Covid erkrankten (als Impfnebenwirkung) und bzw. Zwischen 150’000 und 30’000 Covid Toten ( als Impfnebenwirkung).

  • am 28.06.2022 um 07:02 Uhr
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    Als Hausarzt überbringen mir viele ältere Patienten und vor allem Patientinnen die Klage: „der Mensch sollte nicht so alt werden!“

    Wir sollten das als Gesellschaft ernst nehmen und vermehrt eine Altersgrenze bei gewissen – auch ziemlich risikoreichen und teuren Therapien wie der Lyse setzen -wenn möglich keine absolute aber eine Empfehlung. Weniger wäre manchmal mehr!

    Das würde in einem zweiten Artikel zu diskutieren sein, danke!!!

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