Foto Wolf Karte

Selbst die Wölfe heulen über die mathematischen Künste der Bündner: Die angeblich von den Herdenschutzhunden überwachte Fläche wurde gezielt in Richtung Rissort ausgedehnt. © Wikimedia Commons, Retron/Urteil BVG

Wolfs-Abschuss: Justiz pfeift Bündner Mathematiker zurück

Kurt Marti /  Um die Zahl der gerissenen Schafe für einen Wolfsabschuss zu erreichen, greifen die Kantone zu immer neuen Tricksereien.

Die Regierungskonferenz der Gebirgskantone forderte in einer Medienmittteilung vom 10. März 2022 «klare Kriterien» für die Zumutbarkeit von Herdenschutzmassnahmen. Was das konkret heisst, zeigt ein neustes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das den Kanton Graubünden ziemlich brüsk zurückpfiff.

Zwar senkte der Bund letzten Sommer die Zahl der gerissenen Schafe für einen Wolfsabschuss von 15 auf 10. Doch damit gab sich der Kanton Graubünden nicht zufrieden und übte sich in geometrischen Tricksereien.

Graubünden gab ungeschützte Schafe als geschützte aus

Im Sommer 2021 wurden auf der Bündner Alp Lavaz elf Schafe von Wölfen gerissen, und zwar an zwei verschiedenen Tagen. Darauf reichte der Kanton Graubünden beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) ein Gesuch für den Abschuss von drei Jungwölfen ein. Das Bafu lehnte das Bündner Gesuch mit der Begründung ab, dass nur acht der elf Schafe angerechnet werden können, weil drei Schafe ungeschützt ausserhalb des Nachtpferchs gerissen wurden.

Eines der drei Schafe erkannte auch der Kanton als ungeschützt an, die anderen beiden Schafe hingegen wollte der Kanton unbedingt als geschützt anrechnen lassen, um die für den Wolfabschuss vorgeschriebene Zahl von zehn gerissenen Schafen zu erreichen.

Neue Mathematik: Aus einem Kreis wurde ein Rechteck

Gemäss Vorschrift des Bundes müssen die Herden eine kompakte Einheit bilden, damit der Herdenschutz durch Hunde wirksam wird. Am Tag beträgt die vorgeschriebene Fläche, auf der sich die Herde verteilt, 20 Hektaren (ha) und in der Nacht 5 ha.

Die beiden gerissenen Schafe wurden 320 m (am 4. Juli 2021) beziehungsweise 200 m (am 9. Juli 2021) ausserhalb des Nachtpferchs gefunden. Gemäss den Regeln der traditionellen Mathematik ergibt das eine Kreisfläche (π x r 2) mit Mittelpunkt im Nachtpferch von rund 32 ha beziehungsweise 13 ha – was die erlaubte Fläche von 5 ha deutlich überschreitet.

Deshalb griffen die Bündner Kantons-Mathematiker zu einem Trick (siehe die beiden Abbildungen unten): Statt die erlaubte Fläche mit einem Kreis um den Nachtpferch festzulegen, dehnten sie ein Rechteck in Richtung des toten Schafs aus. Sie kamen so auf eine geschützte Fläche von nur 3,8 ha (für die Distanz 320 m) beziehungsweise 2,5 ha (für die Distanz von 200 m), so dass der Perimeter von 5 ha erfüllt und die Bedingung für den Abschuss der Wölfe gegeben schien.

Der Kanton Graubünden hatte also nur die rechteckige Fläche in der Richtung der beiden gerissenen Schafe gezählt und den Rest des Umkreises einfach weggelassen.

Riss vom 4. Juli 2021: Distanz vom Nachtpferch 320 m (Quelle: Urteil BVG)
Riss vom 9. Juli 2021: Distanz vom Nachtpferch 200 m (Quelle: Urteil BVG)

Das Bundesverwaltungsgericht zeigte kein Verständnis

Für diese mathematische Lösung hatte das Bundesverwaltungsgericht in Übereinstimmung mit dem Bafu kein Verständnis und wies die Beschwerde des Kantons Graubünden ab. Wolfsangriffe seien nicht nur an einer Stelle möglich, sondern aus verschiedenen Richtungen, begründete das Bundesverwaltungsgericht seinen Entscheid.

Deshalb könne «die geschützte Fläche nicht nur in Richtung des effektiv eingetretenen Schadensereignisses ausgedehnt werden», sondern im gesamten Umkreis des Nachtpferchs. Denn die Wolfsangriffe seien «aus verschiedenen Richtungen möglich».

Mit anderen Worten: Laut den Berechnungen des Kantons Graubünden wären die Herdenschutzhunde völlig überfordert, denn sie müssten nicht eine Fläche von 5 ha, sondern von 32 ha beziehungsweise 13 ha bewachen.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist noch nicht rechtskräftig und kann beim Bundesgericht innert 30 Tagen angefochten werden.

Graubünden und Wallis: Die Tricksereien haben Tradition

Es ist nicht das erste Mal, dass der Kanton Graubünden mit solchen Tricksereien aufwartet. Im Sommer 2020 behauptete der Kanton Graubünden in den Medien, die Hälfte der vom Wolf gerissenen Nutztiere sei geschützt. Infosperber-Recherchen hingegen zeigten, dass beispielsweise im August 2020 bloss 6 Prozent geschützt waren. Der Kanton Graubünden hatte zahlreiche ungeschützte Schafe ausserhalb der Nachtpferche als geschützt deklariert.

Nach demselben Muster versuchte der Kanton Graubünden im September 2020 eine Abschussbewilligung zu erwirken, die das Bafu jedoch verweigerte, weil vier Schafe nicht geschützt waren. Der Kanton Graubünden hatte sie als geschützt deklariert.

Dasselbe im Kanton Wallis. Wie Infosperber-Recherchen zeigten, waren 16 von 65 gerissenen Schafen, die der Kanton in einer Medienmitteilung vom Dezember 2020 als «geschützt» deklarierte, nicht geschützt, weil sie sich «aus verschiedenen Gründen nicht im Nachtpferch befanden», wie der Kanton Wallis auf Anfrage von Infosperber nachträglich einräumen musste.

Somit waren im Jahr 2020 nur 16 Prozent (49 von 302) der gerissenen Schafe im Wallis geschützt. Im folgenden Jahr 2021 war besonders das Oberwallis von Wolfsrissen betroffen. Kein Wunder, denn die Schutzquote war miserabel: Nur 15 von 207 gerissenen Schafen, also 7,25 Prozent, waren geschützt.  

Und im Frühjahr 2020 wurde der Kanton Wallis vom Kantonsgericht zurückgepfiffen, weil der Walliser Staatsrat kurzerhand schützbare in «nicht schützbare» Alpen verwandelte, um eine Wolf-Abschussbewilligung zu ergattern.

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Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 20.03.2022 um 10:53 Uhr
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    Weshalb hassen die Bündner und die Walliser den Wolf dermassen ? Es kann nicht an den 500 Wildrisse liegen wenn in einem Jahr 5000 Tiere durch andere Gründe sterben. Sind die Verantwortlichen dermassen irre geleitet ?

  • am 20.03.2022 um 12:14 Uhr
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    Der hier geschilderte Einzelfall mit der Wolfsproblematik mag ja – isoliert betrachtet – nicht wirklich weltbewegend sein. Er ist aber total SYMPTOMATISCH für das „trickreiche“ Verhalten dieser sog. Bergkantone GR und auch VS. Da werden Vorschriften des Bundes systematisch, trickreich unterlaufen und ausgetrickst. Zweitwohnungen, Baubewilligungen, Steuerprivilegien usw. usw. Anstatt konsequent durchzugreifen, hat man in Bern nur ein mildes, teilweise halbwegs verständnisvolles Lächeln übrig. „Ach ja, die Bündner und die Walliser halt“. Allerdings: Beim Bezug des Finanzausgleichs stehen sie dann ganz vorne an: VS schweizweit auf Platz 2 mit satten 800 Mio./Jahr, GR auf Platz 6 mit 268 Mio. Wobei: Ohne die EMS Chemie (grösster Arbeitgeber/Steuerzahler) lägen sie noch viel weiter hinten.

  • am 20.03.2022 um 22:47 Uhr
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    Wie auch immer. Ein Nachtpferch aus Elektronetzen, ein Zaun aus Knotengitter der nicht sehr stabil gebaut ist, wird nie ein wirklicher Schutz vor Wölfen sein. Zum einen haben Wölfe die Möglichkeit den Zaun zu überwinden, zum anderen reissen in Panik versetzte Schafe den Zaun nieder.

  • am 21.03.2022 um 19:21 Uhr
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    Danke Herr Marti, dass Sie sich hier immer wieder für Transparenz bezüglich medialer oder politischer Übergriffe AUF Wölfe einsetzen.
    Es ist schon seltsam, dass gerade in den reichen, deutschsprachigen Ländern Europas immer noch so ein regelrechter Wolfshass Nischen findet. In ärmeren Regionen, wo Wölfe nie ausgerottet worden waren und Menschen oft noch in viel größerer Abhängigkeit von der Weidetierhaltung leben, habe ich nie solchen Hass erlebt.
    Ein wahrer Leuchtturm ist für mich diesbezüglich Tschingis Aitmatov, der leider schon verstorbene große kirgisische Autor (und Politiker), der in jungen Jahren Tierzüchter war. In seinem Roman ‚der Richtplatz‘ lässt er uns gefühlvoll teilhaben an einem Blick auf die Welt aus Sicht einer Wölfin. Eine Perspektive, die uns völlig fremd sein dürfte.
    Hat ein Wolf nicht das gleiche ‚Recht‘ auf Schafe wie der Mensch?
    Ohnehin dienen ja Abschüsse, auch legale, oft mehr der Vergeltung, als dass sie zur Verbesserung einer Situation beitragen würden.

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