Pestizidvorwürfe: Tiroler Apfelbauern wehren sich
Es war ein aussergewöhnlicher Datensatz und seine Analyse erregte einiges Aufsehen: Ende Januar veröffentlichte das Umweltinstitut München eine Analyse darüber, wie oft Apfelbauern im Vinschgau in Südtirol ihre Äpfel mit Pestiziden behandeln. Daten von 681 Betrieben gaben erstmals einen detaillierten Einblick in den europäischen Apfelanbau.
Bei der Analyse springt vor allem die sehr häufige Behandlung der Apfelkulturen mit insgesamt grossen Mengen giftiger Pestizide ins Auge. In der Saison 2017 wurde an jedem einzelnen Tag gespritzt, im Schnitt 38 Mal pro Plantage.
Die Studie wurde von der «Süddeutschen Zeitung» (SZ) und dem «Bayerischen Rundfunk» (br) aufgenommen. Auch Infosperber hat die Ergebnisse im Artikel «Pestizidbombe Apfel» zusammengefasst.
Vinschgauer Obstbauernverband kritisiert die Pestizidstudie
Das Bild, das vom Umweltinstitut München, der SZ und dem br gezeichnet werde, stimme so nicht, wehrt sich der Verband der Vinschgauer Produzenten für Obst und Gemüse (VIP). Der VIP zweifelt an der Seriosität der Analyse sowie der Darstellung der SZ und des br. Das führt er in einer E-Mail an den «Infosperber» aus.
Im VIP, der sieben Genossenschaften umfasst, sind nach VIP-Angaben alle Apfelbauern und -bäuerinnen im Vinschgau organisiert, einschliesslich der Bio-Betriebe. Derzeit hat der Verband 1700 Mitglieder. In ganz Südtirol gibt es rund 7000 Apfelproduzenten.
Der VIP kritisiert im Einzelnen:
1. Die Daten zur Pestizidanwendung wurden nicht repräsentativ ausgewählt
Hauptsächlich kritisiert der VIP Auswahl und Auswertung der Spritzdaten. Der Teil, den das Umweltinstitut München ausgewertet habe, sei nicht repräsentativ für Südtirol, nicht einmal für den Vinschgau.
Öffentlich verfügbar sind Spritzdaten sonst nicht, eine detaillierte Aufstellung stand der Wissenschaft bisher nicht zur Verfügung. Die Daten, die das Umweltinstitut München ausgewertet hat, waren im Zuge eines Gerichtsverfahrens erhoben worden. In diesem hatte der Südtiroler Landesrat Arnold Schuler gegen Karl Bär, Agrarreferent des Umweltinstituts, geklagt. Hauptsächlich, weil Bär von «Pestizid-Tirol» gesprochen hatte.
Die «Spritzhefte» von 1300 Bauern, die die Klage unterstützten, wurden nicht freiwillig übergeben, sondern von der Staatsanwaltschaft Bozen beschlagnahmt. Aus diesen 1300 Aufzeichnungen wählte das Umweltinstitut 681 aus.
Diese Auswahl begründet das Umweltinstitut München mit der Qualität der enthaltenen Daten. Die Forschenden werteten nur die digital vorliegenden Spritzhefte aus, um Fehlerquellen wie schlecht lesbare Handschrift zu vermeiden. Auch der Aufwand der Analyse habe eine Rolle gespielt, gibt das Institut in seiner Auswertung an. Die Daten deckten die Hälfte der Apfelanbaufläche im Vinschgau und rund 40 Prozent der im VIP zusammengefassten Betriebe ab.
2. Die Auswertung folgte gesetzlichen Richtlinien nicht und wurde nicht unabhängig überprüft
Weiter kritisiert der VIP die vom Umweltinstitut München verwendete Methodik, die sich nicht nach «europäischen und nationalen gesetzliche Richtlinien» richte. Die Ergebnisse seien auch nicht von unabhängigen Experten überprüft worden. Gemessen daran, woher die Spritzdaten stammen, ist das eine bedenkenswerte Kritik. Im «Pestizidstreit» vor Gericht war Umweltreferent Bär als Agrarreferent des Umweltinstituts Beklagter und damit Partei.
3. Die Zahlen sind nicht aussagekräftig
Statt der 38 Pestizid-Anwendungen pro Plantage und Saison, wie vom Umweltinstitut München errechnet, kommt der Verband aufgrund eigener Erhebungen auf 20 Anwendungen im integrierten Anbau und 21 für Bio-Betriebe.
Professioneller Apfelanbau sei ohne Behandlung der Plantagen auch schlicht unmöglich, argumentiert der Verband. Auch in Biobetrieben würde nicht weniger gespritzt, tendenziell eher mehr. Bei gezielterem Vorgehen gegen Krankheiten und Schädlinge könne es sein, dass die Anzahl der Spritzeinsätze eher steige. Die Zahl der Pestizidanwendungen sei also wenig aussagekräftig.
4. 2023 ist nicht 2017
Im sogenannten integrierten Anbau verzichten die Obstbauern freiwillig auf eine ganze Anzahl erlaubter Pestizide. Konventioneller Apfelanbau gebe es im Vinschgau ohnehin nicht mehr. Seit 2017 habe sich auch vieles verbessert.
Seit 2017 hat sich tatsächlich einiges geändert. 14 der 83 Pestizidwirkstoffe, die Bauern 2017 im Vinschgau ausbrachten, sind inzwischen EU-weit nicht mehr zugelassen, beispielsweise Thiacloprid und Bromadiolon.
Dem nach der AGRIOS (Arbeitsgruppe für integrierten Obstanbau in Südtirol) eingesetzten integrierten Modell folgen nach Einschätzung des Umweltinstituts München alle konventionell anbauenden Betriebe im Vinschgau. Das AGRIOS-Modell wird von einer Reihe Ärzten und Tierärzten als gesundheitsschädlich kritisiert.
Was richtig ist: Ohne Behandlung wäre Obstanbau im grossen Stil nicht möglich – auch nicht bei Bio-Äpfeln. Der Obstbauern-Verband weist nochmals darauf hin, dass alle untersuchten Pestizideinsätze im Vinschgau den 2017 geltenden Gesetzen und Vorschriften genügten. In Apfelanbaugebieten in Deutschland sei im Vergleich mehr gespritzt worden als in Südtirol, zeigt der VIP in einer Grafik auf.
Der Hauptkritikpunkt bleibt
Der Hauptkritikpunkt des Umweltinstituts München bleibt: Im Obstanbau – nicht nur in Südtirol – werden zu viele, zu giftige Pestizide ausgebracht, zu denen es oft Alternativen gebe. Von einer umwelt- und gesundheitsschonenden Pestizidbehandlung könne nicht die Rede sein, sagt das Umweltinstitut.
Stattdessen gebe es im Vinschgau eine «andauernde Pestizidbelastung mit teilweise hochgefährlichen Wirkstoffen und Mischungen», die das Institut auch durch Luftmessungen nachgewiesen hat. Transparenz fehle. Es gebe keinen vergleichbaren Datensatz, da die EU Daten über Pestizid-Anwendungen zwar in anonymisierter Form sammelt, aber nicht veröffentlicht.
Was bedeutet die Entwicklung für Konsumentinnen und Konsumenten?
Neben den Auswirkungen vor Ort im Vinschgau lässt sich die Situation vielleicht am besten mit den Auswirkungen auf die Konsument:innen erfassen. Das Umweltinstitut München verweist auf die Ergebnisse des jährlichen Rückstandsmonitorings. Dabei werden Tafeläpfel aus Südtirol vom Südtiroler Apfelkonsortium stichprobenartig auf Pestizidrückstände untersucht.
2020 fanden die Prüfer in 489 von 490 Proben konventionell angebauter Äpfel Pestizide, durchschnittlich 4,2 Wirkstoffe pro Apfelprobe. 2017 waren es im Schnitt noch 3,9 Rückstände von Pestiziden. Alle gefundenen Mengen lagen unter den erlaubten Rückstandhöchstwerten.
Am häufigsten fanden die Prüfer Mittel gegen Pilzkrankheiten (Fungizide), der nach der Auswertung bei weitem am häufigsten verwendeten Pestizidklasse. Eine Untersuchung der Verbraucherzentrale Südtirol fand 2018 in 20 Apfelproben sieben pestizidfreie Äpfel, davon sechs aus biologischem Anbau.
Haushaltstipp: Obst in Natronlösung waschen
Dass man Obst vor dem Verzehr wäscht, sollte selbstverständlich sein. Noch besser, um Pestizide zu entfernen, sei die Reinigung von Äpfeln mit Natronhydrogenkarbonat (NaHCO3), fanden Forschende aus den USA. Eine verdünnte Lösung (10 Gramm pro Liter) mit dem Haushaltsmittel, das als Natron oder im Backpulver erhältlich ist, hatte im Versuch nach 12 bis 15 Minuten den grössten Teil der Rückstände zweier Pestizide entfernt. Darüber berichtete unter anderen die «Süddeutsche Zeitung».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Immer höher, immer schneller, immer weiter.
Mich würde mal interessieren ob vor dem Einsatz dieser zweifelhaften Pestizide die Obstbauern vor Hunger nicht in den Schlaf fanden oder ob es ihnen trotzdem gut ging und sie davon leben konnten?
Oder ob sie nun vom Anbau in Grossmengen besser leben?
Kostengünstiger kann es ja eigentlich wegen des Mehraufwandes mit Chemie und der zusätzlichen Arbeit damit ja nicht geworden sein.
Ich stelle mir immer öfter die Frage ob dann die Gier zum Auslöser der Vergiftung wurde und ob das wirklich Not getan hat. Aber das betrifft auch andere Bereiche der Industrialisierung, nicht nur dem Einsatz von Giften in der Landwirtschaft.
Die übliche Augenwischerei. Das sieht man beispielsweise beim Hinweis auf die Anzahl Spritzungen: 20 in der integrierten, 21 in der Bio-Produktion. Wie wenn es nicht darauf ankäme, WAS gespritzt wird. Glaubwürdiger sähe eine Reaktion aus, die auf eine gemeinsam veranstaltete Untersuchung (Südtirol/München) hinausläuft. Vor etlichen Jahren logierte ich zur Vorfrühlingszeit in einem Südtiroler Hotel, das direkt an eine Obstplantage angrenzte. Seither ist mir die Münchner Kritik sehr verständlich.
Zu diesem Thema gibt es den Film «Das Wunder von Mals»: http://wundervonmals.com/
Sehr empfehlenswert!
mit Interesse habe ich diesen Artikel gelesen. Letzten Spätsommer war ich am Kalterer See in den Ferien und viel Fahrrad gefahren. Was mir schnell aufgefallen ist dass man keine Bienen, keine Fliegen und keine Wespen zu sehen bekommt in dieser Gegend. Sind wir uns immer noch nicht bewusst dass ja nicht nur Menschen unter zu viel und verschiedenartigen Pestiziden leiden sondern auch unsere Insekten die uns eigentlich helfen dass es eine gute Obsternte gibt und wir davon profitieren können. Sollen wir diese Blütenpracht im Frühling jeweils händisch bestäuben wie dies zum Teil in China gemacht werden muss?
Ich wüsste gerne, was denn von den EU-Biobauern auf Äpfel gespritzt werden darf, da ich meine ein bis zwei täglichen Äpfel wirklich geniessen möchte. Wer die Plantagen im Südtirol schon mal gesehen hat, macht wohl um als Vinschgauer oder Südtiroler Bioäpfel deklarierte Früchte einen Bogen, da die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass der Nachbar gratis spritzt. Ein morgendliches Natron-Bad für den Tagesbedarf an Früchten und Gemüsen ist eine schräge Vorstellung, aber vielleicht bald nicht mehr zu umgehen.