Apfel

Makellose Früchte: Meist entscheidet das Aussehen, ob ein Apfel gekauft wird. © Smileus/Depositphotos

Mit Wachstumshormonen zum «perfekten» Apfel

Anand Chandrasekhar – swissinfo.ch /  Viele Bauern besprühen Obstbäume mit Hormonen, damit sie grosse, makellose Früchte ernten können. Die Risiken sind kaum erforscht.

Äpfel sind in der Schweiz so beliebt wie keine andere Frucht – entsprechend oft landen sie in den Einkaufskörben. Rund hundert Äpfel verspeisen Herr und Frau Schweizer im Durchschnitt pro Jahr. Das sagen die Zahlen des Schweizer Obstverbands, der Branchenorganisation der Schweizer Obstbäuerinnen und -bauern.

Was viele Apfelfans aber nicht wissen: Ihre Lieblingsfrucht ist wahrscheinlich mit potenziell schädlichen Pflanzenhormonen besprüht worden, damit sie schön gross wird und die perfekte Farbe hat.

Ungefähr 300 Kilogramm dieser Chemikalien, auch als Wachstumsregulatoren oder kosmetische Pestizide bezeichnet, werden jedes Jahr auf Schweizer Obstplantagen versprüht. Die Menge reicht aus, um 83 Prozent der gesamten Anbaufläche für Äpfel zu behandeln. Die Hormone dienen auch einem Verfahren der Erntesteuerung, das als «chemisches Ausdünnen» bekannt ist: Trägt ein Baum weniger Früchte, werden diese dafür umso grösser.

Lucca Zachmann beschäftigt sich an der ETH Zürich wissenschaftlich mit Agrarökonomie und sagt: «Im Supermarkt entscheidet das Aussehen eines Apfels darüber, ob er gekauft wird oder nicht. Preis, Sorte, Herstellungsmethode und Herkunft können den Kaufentscheid zwar ebenfalls beeinflussen, aber viel mehr Informationen hat man als Käufer:in nicht.»

Risiken unbekannt

Während die Auswirkungen herkömmlicher Pestizide auf die menschliche Gesundheit gut erforscht sind, hat der Einsatz von Wachstumsregulatoren praktisch unbemerkt zugenommen – ohne dass man die Substanzen und ihre Wirkung auf den Menschen genauer untersucht hätte.

Ein Überblick über die wissenschaftliche Literatur legt nahe, dass einige Wachstumsregulatoren endokrine Disruptoren sind, also hormonaktiv wirken, und so die Produktion von Geschlechtshormonen und damit die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen könnten. Die Substanzen lassen sich auch in Nahrungsmitteln und menschlichem Urin nachweisen. Das wirft die Frage auf, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit des landwirtschaftlichen Personals und auf Konsument:innen haben.

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärmedizin (BLV) erklärt gegenüber SWI swissinfo.ch per E-Mail, dass «zugelassene Pflanzenschutzmittel, einschliesslich Wachstumsregulatoren, bei vorschriftsgemässer Verwendung (d.h. gemäss den Bedingungen und Anwendungsvorschriften der entsprechenden Zulassung) keine schädliche Wirkung auf die menschliche Gesundheit haben sollten».

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Wie in der Europäischen Union werden Wachstumsregulatoren in der Schweiz als Pflanzenschutzmittel eingestuft und unterstehen einem behördlichen Zulassungsverfahren, das die Auflagen bezüglich Kennzeichnung und Höchstgehalte von Rückständen festlegt. Und wie alle Pflanzenschutzmittel stellen Wachstumsregulatoren eine potenzielle Gefahr für die menschliche Gesundheit dar.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet im «Global harmonisierten System für die Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS)» 25 Wachstumsregulatoren auf, die auf Grundlage der tödlichen Dosis für Ratten (einem Standardverfahren zur Bestimmung der Toxizität einer Substanz) ein Risiko darstellen.

Keiner der Wachstumsregulatoren auf der Liste gehört in die Kategorien «sehr hohes Risiko» oder «hohes Risiko», allerdings werden acht Substanzen als «mittleres Risiko» (Stufe 3 von 5) eingestuft. Von diesen acht Wirkstoffen sind vier in der Schweiz zugelassen (Chlormequatchlorid, Mepiquat, Naphthylessigsäure und Paclobutrazol), in der EU jedoch nur deren zwei (Paclobutrazol und Mepiquat).

Der Schweizer Umweltverband Pro Natura führt bisher keine spezifische Kampagne gegen Wachstumsregulatoren, betrachtet sie aber sehr wohl als Teil des Problems mit Schadstoffen, die in die Umwelt freigesetzt werden. Der Verband fordert, dass die Verwendung solcher Substanzen eingeschränkt wird. «Die Aufnahme chemischer Wirkstoffe durch die Umwelt und unsere Körper muss unbedingt reduziert werden. Deshalb ist es kontraproduktiv, Kundinnen und Kunden an perfekt aussehende Früchte und Gemüse zu gewöhnen», sagt Sprecher Nicolas Wüthrich.

Die europäische NGO Foodwatch setzt sich dafür ein, dass in der Europäischen Union bis 2035 sämtliche Pflanzenschutzmittel und damit auch Wachstumsregulatoren vom Markt verschwinden. Begonnen werden soll mit Kulturpflanzen wie Getreide oder Mais, wo der Pestizideinsatz am stärksten verbreitet ist und am schnellsten und günstigsten gestoppt werden kann. Auch Früchte sind auf dem Radar von Foodwatch, wobei der Prozess dort etwas länger dauern könnte.

«Wein- und Obstanbauende brauchen eine längere Übergangsfrist, da bei ihren Nutzpflanzen bestimmte Schädlinge und Krankheiten eine besondere Herausforderung darstellen», sagt Sprecherin Sarah Häuser. «Aber auch bei diesen Agrarprodukten kann langsam auf pestizidfreie Produktion umgestellt werden. Erst recht, wenn die Pflanzenschutzmittel lediglich der Ästhetik dienen.»

Optischer Klassenkampf

Lucca Zachmann hat im Mai eine Studie veröffentlicht, die den Einsatz von Wachstumsregulatoren bei Schweizer Äpfeln zur Verbesserung ihres äusseren Erscheinungsbilds untersucht. Als Teil der Studie wurde unter Obstbäuerinnen und -bauern eine Umfrage durchgeführt. 200 haben geantwortet, sie bewirtschaften zusammen in der Schweiz ein Viertel der Anbaufläche für Äpfel. Die Umfrage ergab, dass 23,5 Prozent kosmetische Pestizide nur verwenden, um die Optik der Früchte zu verbessern, während 59,2 Prozent sie zum Ausdünnen einsetzen.

Aus den Antworten ging zudem hervor, dass Wachstumsregulatoren nicht einheitlich verwendet werden. Bäuerinnen und Bauern, die an Zwischenhändler liefern, setzen eher Chemikalien ein als solche, die direkt an ihre Kundschaft verkaufen. Bei der ersten Gruppe war es zu 29,6 Prozent wahrscheinlicher, dass sie Wachstumsregulatoren für ästhetische Zwecke einsetzen und zu 23,9 Prozent wahrscheinlicher, dass sie ihre Obstbäume chemisch ausdünnen, um Grösse und Farbe der Früchte zu optimieren. Der Hauptgrund für diesen Unterschied ist finanzieller Art.

«Bäuerinnen und Bauern, die ihre Ernte über Zwischenhändler verkaufen, erleiden einen grösseren wirtschaftlichen Verlust, wenn es ihre Äpfel nicht in die beste Kategorie schaffen», sagt Zachmann. Seine Berechnungen haben ergeben, dass Bäuerinnen und Bauern, die über den Zwischenhandel verkaufen, für Äpfel der Klasse II mit leichten optischen Mängeln nur 41 Prozent des Preises für Äpfel der Klasse I erzielen, die strengere Kriterien erfüllen müssen. Verkauft jemand Äpfel der Klasse II jedoch direkt an Konsument:innen, kann ein Verkaufserlös von immerhin 67 Prozent der Klasse I erzielt werden.

Wer ist nun also schuld daran, dass unnatürlich perfekte Äpfel rentabler sind und sich Bäuerinnen und Bauern dazu genötigt sehen, Wachstumshormone einzusetzen?

Die Migros, die grösste Supermarktkette der Schweiz, hält fest, sie lege keine Richtlinien für Obstpreise aufgrund der Ästhetik fest. Migros-Sprecher Tristan Cerf stellt klar: «Beim Preis, den die Migros den Produzent:innen bezahlt, orientieren wir uns an den Richtpreisen der verschiedenen landwirtschaftlichen Branchenverbände.»

Die Richtpreise in der Obstbranche werden vom Schweizer Obstverband und vom Verband des Schweizerischen Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandels (Swisscofel) bestimmt. Der Schweizer Obstverband definiert in seinen Richtlinien drei Kategorien von Äpfeln (Klasse Extra, Klasse I und Klasse II), wobei die Einteilung ausschliesslich aufgrund des äusseren Erscheinungsbilds erfolgt.

  • Äpfel der Klasse Extra dürfen keinerlei äussere Mängel aufweisen, mit Ausnahme sehr leichter oberflächlicher Schalenfehler, sofern diese das allgemeine Aussehen der Erzeugnisses nicht beeinträchtigen.
  • Bei Äpfeln der Klasse I dürfen kleinere Fehler bis zu einer Gesamtfläche von 1 cm² vorhanden sein,
  • und Äpfel der Klasse II dürfen sogar Fehler bis zu einer Gesamtfläche von 2,5 cm² aufweisen, wobei immer noch gewisse Mindestkriterien erfüllt sein müssen.

Verbot wäre fatal

Trotz dieser strengen Anforderungen an das Aussehen der Früchte stellt der Schweizer Obstverband in Abrede, dass seine Richtlinien die Bäuerinnen und Bauern dazu animiere, sich die Äpfel schönzusprühen. Laut Vizepräsident Edi Holliger sollen Wachstumsregulatoren gewährleisten, dass unverkaufte Äpfel eine genügend hohe Qualität aufweisen, damit sie gelagert und später abverkauft werden können. «Die Früchte müssen äusserlich und innerlich von hoher Qualität sein, wenn sich der Obstanbau langfristig lohnen soll», sagt Holliger.

«Es braucht viel Fingerspitzengefühl, damit die Ernte nicht zu stark schwankt – viel zu wenige Früchte in einem Jahr und damit Früchte, die nicht eingelagert werden können und zu gross sind, und dann wieder viel zu viele Früchte im nächsten Jahr, die ohne Massnahmen viel zu klein würden. Ein Verbot von Wachstumsregulatoren oder deutliche Einschränkungen in ihrer Verwendung könnte für Obstbäuerinnen und -bauern finanziell fatal sein», ist er überzeugt. «Ohne Massnahmen seitens der produzierenden Bäuerinnen und Bauern würden ihre Betriebe bald nicht mehr rentieren, und die Produktion wäre nicht mehr nachhaltig. Die Risiken wären unabschätzbar hoch», warnt Holliger.

Trotzdem kommen Pestizide in der Schweiz zunehmend unter Druck. 2023 hat sich die Regierung selber das Ziel gesetzt, die schädlichen Auswirkungen von Chemikalien in der Landwirtschaft bis 2027 um die Hälfte zu reduzieren. Pro Natura verlangt, dass Wachstumsregulatoren in dieses Ziel mit eingeschlossen werden.

«Solange keine belastbaren Studien vorliegen, sollte das Vorsichtsprinzip gelten», sagt Pro-Natura-Sprecher Wüthrich. «Bei Produkten, die bereits verwendet werden, schliessen wir uns der Studie [von Lucca Zachmann] an und empfehlen eine Reduktion in der Verwendung. Wachstumsregulatoren sollten in den Pestizid-Reduktionsplan aufgenommen werden.»

Dieser Beitrag ist zuerst auf swissinfo.ch erschienen.
Editiert von Nerys Avery, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler


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