Eine Welt ohne Hunger ist möglich – aber politisch chancenlos
Die Welternährung hat in den vergangenen Jahrzehnten kaum noch Fortschritte gemacht – noch immer hungern viel zu viele Menschen. 2022 litt jeder elfte Mensch unter chronischem Hunger. Durch Konflikte und Klimakrise droht die Situation sich weiter zu verschlechtern, während die Weltbevölkerung wächst.
Derzeit leben etwa 8 Milliarden Menschen auf der Erde. Bis 2036 werden es nach Prognosen der UN 9 Milliarden und bis 2057 10 Milliarden sein. Durch die Klimaveränderung brechen dazu Produktionsflächen weg. Viele landwirtschaftliche Gebiete sind bereits ökologisch überlastet.
Dennoch sei es möglich, auch 10 Milliarden Menschen ausgewogen zu ernähren, ohne die Erde zu überlasten, sagt der Wissenschaftler Dieter Gerten vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Dazu müsste sich aber einiges ändern. Und politisch wäre sein Modell chancenlos.
Stand der Dinge: Wir steuern auf den Ökozid zu
10 Milliarden Menschen, das bedeutet, dass 50 bis 70 Prozent mehr Lebensmittel erzeugt werden müssen – wenn wir sie nach gegenwärtigen Standards produzieren.
Langfristig wird ein «Weiter so» relativ sicher zum Zusammenbruch der Ökosysteme führen. Sechs von neun sogenannten planetaren Grenzen sind bereits überschritten.
Gerten ging bei seiner 2020 in «Nature Sustainability» publizierten Forschungsarbeit noch von vier überschrittenen Grenzen aus: der Integrität der Biosphäre, der Landnutzung durch den Menschen, unserem Süsswasserverbrauch und dem der Zustand der biogeochemischen Kreisläufe, besonders des Stickstoffkreislaufes. Stickstoff ist ein wesentlicher Bestandteil von Düngemitteln.
Die Hälfte der globalen Lebensmittelproduktion beruht auf der Überschreitung einer planetaren Grenze, legte das Forschenden-Team dar. In Gebieten mit intensiver Landwirtschaft sind es bis zu 70 Prozent. Wir nutzen zu viel Wasser, düngen zu viel und zerstören dabei die Artenvielfalt.
In einigen Teilen der Welt waren 2020 gleich mehrere planetare Grenzen überschritten, fanden Gerten und sein Team.
Sehr kritisch ist die Situation beispielsweise im Nahen Osten und in Ostasien, wo mehrere planetare Grenzen überschritten werden. Die grösste Bedrohung ist der Klimawandel, durch den ein Drittel der globalen Lebensmittel-Produktion ausfallen könnte.
Dazu gibt ein riesiges Verteilungsproblem. Während ein Teil der Weltbevölkerung unter Über- und Fehlernährung leidet, lebt ein anderer mit dauernder Ernährungsunsicherheit.
Mit aktuellen Methoden bekäme man nur 3,4 Milliarden nachhaltig satt
Mit Hilfe von Computersimulationen berechneten die Forschenden, wie sich die Verhältnisse ändern könnten. Hielte die globale Lebensmittel-Produktion die vier oben erwähnten planetaren Grenzen ein, halbierte sich die globale Lebensmittelmenge. Ernähren könnte man dann noch 3,4 Milliarden Menschen – nicht einmal die Hälfte derer, die jetzt auf der Erde leben.
Dennoch sei es möglich, auch 10 Milliarden ausgewogen zu ernähren und dabei die Belastungsgrenzen der Erde einzuhalten. Dazu müsste sich allerdings einiges ändern, agrarwirtschaftlich wie kulturell.
Durch eine intelligente Verschiebung läge die Lebensmittelproduktion sogar um 53 Prozent über dem derzeitigen Level. Die für Landwirtschaft genutzte Fläche würde dabei um 16 Prozent schrumpfen, die benötigte Wassermenge um 7 Prozent und der Stickstoffverbrauch um satte 38 Prozent.
Die Studie setzt vor allem auf bekannte und umsetzbare technologische und kulturelle Massnahmen wie
- eine Änderung und Verbesserung der globalen Wassernutzung,
- eine Änderung der Bodenbewirtschaftung und des Einsatzes von Dünger,
- die Umverteilung der landwirtschaftlichen Produktionsflächen weltweit,
- weniger Lebensmittelverschwendung,
- eine globale Ernährungsumstellung.
Was von den vorgeschlagenen Massnahmen am wirkungsvollsten ist, unterscheidet sich in verschiedenen Weltgegenden.
Für Europa und Nordamerika beispielsweise zeigte sich die Änderung der Konsumgewohnheiten als am effektivsten. In tropischen Gegenden sind es Massnahmen gegen die Zerstörung der Biosphäre, in den Subtropen die Kontrolle und Optimierung des Wasserverbrauchs.
10 Milliarden satt machen – kleinteilig und global vernetzt
Gerten betont, dass alle Massnahmen zusammen eingeführt werden müssten, um ihr Potential zu entfalten, da die planetaren Systeme einander beeinflussen.
Ackerbau in kritischen Gegenden wie dem Mittleren Osten, Teilen Europas, Chinas oder Nordamerikas müsste eingestellt oder deutlich reduziert werden. Gleichzeitig müsste der globale Handel deutlich ausgebaut werden. Eine nachhaltige Landwirtschaft wäre gleichzeitig kleinteilig, regional angepasst und global vernetzt.
Tierfrei, gesünder und regional essen
Die Ernährung von 10 Milliarden Menschen wäre dabei nicht nur ausgewogener, sondern auch gesünder, sagt Claudia Bieling gegenüber «Science Notes». Die Professorin für Gesellschaftliche Transformation und Landwirtschaft orientiert sich dabei an der «Planetary Health Diet», die viel Gemüse und Hülsenfrüchte und wenig Fleisch, Milch und Eier enthält.
Die Professorin geht wie fast alle anderen Experten und Expertinnen davon aus, dass es der wichtigste und erste Schritt zu einer nachhaltigen Ernährung sein muss, deutlich weniger tierische Produkte zu konsumieren. Derselben Meinung sind auch Johan Rockström und Vera Heck vom Potsdam Institut. Dass es ökologisch unsinnig ist, in Europa Chia-Samen und Goji-Beeren zu verzehren, wenn ein regionales Lebensmittel ein ähnliches Nährstoffprofil hat, leuchtet ebenfalls ein.
Die satte Welt ist politisch chancenlos
Nachhaltige Landwirtschaft bedeutet auch, dass in einigen Gegenden nicht mehr das wächst, was dort traditionell angebaut wird. Asien ohne Reis also? Das allein wäre schon schwer zu verdauen. Weit schwieriger ist aber: Das Computermodell betrachtet die Welt als Ganzes und kennt keine Nationalstaaten.
Viele Länder müssten den Anspruch auf Selbstversorgung aufgeben, wenn sie die planetaren Grenzen nicht überschreiten wollen. Der internationale Handel müsste gleichzeitig zunehmen und nach neuen Gesetzen funktionieren. Landnutzung würde sich an globalen Bedürfnissen orientieren.
Subventionen, Lobbys, Nationalismus: politische Hindernisse
Politisch ist das kaum denkbar. Eine weltweit nachhaltige Landwirtschaft wird derzeit sogar eher unwahrscheinlicher. Zunehmender Nationalismus erschwert die internationale Verständigung, Kriege und Konflikte behindern Bewirtschaftung und Handel. Nahrung wird als Waffe eingesetzt, zum Beispiel im Ukrainekrieg.
Nationalstaatlich oder im Rahmen von Organisationen wie der EU müssten grosse Veränderungen geschehen. Subventionen, die regionale Wirtschaftsinteressen schützen, stünden einer agrarwirtschaftlichen Umstellung im Weg. In vielen Ländern haben landwirtschaftliche Interessenverbände und Lebensmittelkonzerne grossen Einfluss auf die Politik. Auch juristisch gibt es Hürden. Eigentumsrechte würden teilweise relativ. Und ein nachhaltiges Handelsmodell würde zahlreiche internationale Abkommen verletzen.
Das alles bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine weltweit nachhaltige Ernährung und Landwirtschaft unmöglich sind. Aber es macht es sehr unwahrscheinlich, dass die Menschheit es demnächst schafft, den Hunger zu besiegen, ohne ihre Lebensgrundlagen dauerhaft zu schädigen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
So richtig die Modellüberlegungen im Grundsatz auch sein mögen, sie sind unpraktikabel, wie die Wissenschaftler selbst schlussfolgern. Vielleicht wäre ein anderer Ansatz, die Bevölkerungsentwicklung in nachhaltige, resiliente Bahnen zu lenken. Dann hätte die Menschheit allenfalls auch noch ein bisschen «Luft», wenn sich die Welt mal nicht ganz an die Modellprognosen halten sollte.
10 Milliarden Menschen (und mehr) wird es in Frieden und Demokratie nicht geben, das ist ökologisch und politisch chancenlos und für niemenden wünschbar. Seriöse Modellüberlegungen müssen nicht nur die Anzahl Menschen, die Futter benötigen, einbeziehen sondern alle Futter- und Sauerstoff-abhängigen Erdenbewohner.
Retour auf max. 7 Milliarden in den nächsten 50 Jahren. Die Natur wird uns das beibringen, wenn es die Menschheit nicht selber merkt.