«Echte Liberale müssen das Tierwohl höher gewichten»
Red. Der Autor doziert in Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Luzern – Wirtschaft und forscht unter anderem am Schweizerischen Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung der HSG St. Gallen an der Schnittstelle zwischen Umwelt, Ökonomie und Ethik. Er vertritt hier seine unabhängige Ansicht.
Die Volksinitiative gegen Massentierhaltung will Tierfabriken verbieten, um die Lebensqualität der Tiere zu verbessern. Liberale Stimmen kritisieren, dass die Initiative die Konsumentinnen und Konsumenten bevormunde. Doch die gleichen Stimmen stört es nicht, dass sich die Schweiz durch internationale Handelsverträge bevormunden lässt. Denn diese Verträge verbieten es der Schweiz – so argumentieren diese Stimmen – für den Import von ausländischem Fleisch Tierhaltungsvorschriften zu machen.
Liberale Stimmen kritisieren zudem, das Fleisch werde auf Kosten der wirtschaftlich Schwachen teurer. Sie stören sich aber nicht daran, dass der unterbleibende Tierschutz einer ökonomisch unsinnigen Subvention gleichkommt. Es gibt bessere Umverteilungsmassnahmen.
Im Abstimmungskampf werden zentrale Aspekte, die für die Initiative sprechen, ignoriert. Darunter insbesondere die Eigenschaft von Tierschutz als öffentlichem Gut, welche für politische Mindeststandards bei inländischen Tierprodukten und Importen spricht.
Soll die informierte Wahl in den Läden über die Produktionsart entscheiden?
Die Gegner der Initiative erklären, zahlreiche Labels böten eine ausreichende Entscheidungsgrundlage beim Kauf. Die Initiative entspreche einer unangebrachten Entmündigung der Konsumenten.
Die Initianten dagegen sagen, Konsumentinnen und Konsumenten seien ungenügend informiert, um die richtige Wahl zu treffen.
Tatsächlich könnte der interessierte Konsument im Internetzeitalter leicht erkennen, wie schlimm es um das Tierwohl sehr oft auch in der Schweiz bestellt ist. Dank Labels könnte er schon heute tierfreundlicher einkaufen.
«Wir Hühner hacken uns aus Dichtestress gegenseitig zu Tode»
Es wäre hilfreich, klarere Deklarationspflichten einzuführen. Die Gegner der Initiative würden aber Deklarationen wie bei den Zigaretten kaum befürworten, wie etwa: «Tierfabriktiere leiden», «Mein Hühnerschnabel wurde qualvoll getrimmt, weil wir massengehaltene Hühner uns sonst aus Dichtestress gegenseitig zu Tode hacken».
Doch selbst provozierende Informationen würden den Nutztieren nicht genügend helfen. Denn viele Einzelne würde weiterhin zu den billigeren Angeboten greifen.
Falls Informationen genügen würden, hätte man schon bisher auf gesetzliche Mindeststandards bei der Tierhaltung verzichten können. Doch das fordern auch die Gegner der Initiative nicht.
Es braucht eben Mindeststandards, selbst wenn Konsumentinnen und Konsumenten dank Labels die Wahl haben.
Das Tierwohl ist ein öffentliches Gut
Die meisten von uns missbilligen Tierleid unabhängig davon, ob das entsprechende Tier auf dem eigenen Teller landet. Damit erfüllt Tierwohl das «nicht-Ausschliessbarkeitsprinzip», das für öffentliche Güter charakteristisch ist. Werden Tiere an einem Ort unnötig gequält, beklagen dies nicht nur diejenigen, welche die Schweinerei direkt mitansehen oder das produzierte Fleisch selbst konsumieren, sondern wir als Gesellschaft.
Auch aus liberaler Sicht bedürfen öffentliche Güter politischer Regulierung, weil diese die Situation für alle verbessern kann. Es ist unökonomisch und anarchistisch, wenn jeder frei tun kann, was andere natürlicherweise stört. Stellt die Einzelperson individuell auf tiergerechte Herkunft um, bezahlt sie den vollen Preis, verbessert dabei aber nur das Leben der selbst verspiesenen Tiere, während es den restlichen Millionen Schweizer Nutztieren nicht bessergeht. Entsprechend bleiben viele gleich beim zweifelhaften Standardprodukt.
Regulierung erlaubt das Missverhältnis zu korrigieren: Bei einem allgemein verbesserten Tierschutz profitieren vom Gesichtspunkt des Einzelnen von den eigenen Zusatzkosten nicht nur eine Handvoll glücklichere Tiere, sondern deren 50 Millionen. Da beginnt es sich zu lohnen. Im Slang der Volkswirtschaftslehre: Regulierung löst das Dilemma der sonst individuell unwiderstehlichen Trittbrettfahrerei.
So hilft die Massentierhaltungsinitiative zu respektieren, dass die artgerechte Tierhaltung ein öffentliches Gut ist. Davon wollen die Initiativgegner nichts wissen, indem sie eine weitere Regulierung ablehnen und die Kunden selbst entscheiden lassen wollen.
Es steht die Frage im Zentrum, wie viel uns eine artgerechtere, weniger traumatische Haltung der Tiere als Gesellschaft wert ist.
Nicht nur Haustiere verdienen Schutz
Angesichts des im Wettbewerb um billige Produktion entstandenen Race-to-the-bottom bei der Lebensqualität in Tierfabriken ist das von der Initiative geforderte Verbot nachvollziehbar. So behauptet kaum jemand, dass sich physiologische und psychische Bedürfnisse beispielsweise von Schweinen von denen gängiger Haustiere wie Hunde und Katzen fundamental unterscheiden. Trotzdem ist der Unterschied bei der Haltung enorm. Nutztiere können nach der heute bestehenden Regulierung ihr ganzes Leben dicht zusammengedrängt mit anderen Tieren fristen und dürfen so überzüchtet werden, bis sie nicht mehr auf ihren eigenen Beinen stehen können. Demgegenüber sind beispielsweise für Wohnungskatzen «erhöhte Ruheflächen und Rückzugsmöglichkeiten, Kletter- und Kratzgelegenheiten sowie ein Klo pro Katze» vorgeschrieben.
Aussenhandel: Wichtige Importfrage
Schon heute ist die Aussenhandelssituation bezüglich Tierschutz widersprüchlich: Batteriehühnereier dürfen in der Schweiz nicht produziert, aber importiert und bei uns verkauft werden. Man kann dies im besten Fall als pragmatischen Kompromiss zwischen Tierschutz und der von der WTO angestrebten Handelsfreiheit interpretieren.
Nach der Annahme der Initiative würden sich in- und ausländische Tierhaltungsbedingungen noch stärker unterscheiden und die Preise zwischen Schweizer und importiertem Fleisch noch mehr auseinanderklaffen. Wird deshalb vermehrt auf ausländische Produkte ausgewichen, untergräbt dies den Nutzen der strikteren schweizerischen Tierschutzgesetzgebung. Theoretisch könnte die Initiative sich dann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch für die Tiere kontraproduktiv auswirken.
Allerdings sollte diese Hürde zu überwinden sein. Schon heute gibt es Importzölle und Kontingente für Fleisch aus dem Ausland. Auch eine sinngemässe Anwendung des Massenhaltungsverbotes auf Importfleisch könnte das Problem lösen. Die Initiative verlangt denn auch «Vorschriften über den Import von Tieren und Tierprodukten», um dem Verbot Rechnung zu tragen.
Helvetischer Rechtsimperialismus?
Die Gegnerseite bezeichnet begleitende Importvorschriften allerdings als einen zu verhindernden «helvetischen Rechtsimperialismus». Diese Interpretation hält einer nüchternen Analyse kaum Stand. Aus Tierwohlperspektive kommt es nicht darauf an, ob ein Tier in der Schweiz oder im Ausland leidet. Wenn wir als Gesellschaft entscheiden, bestimmte Arten der Tierhaltung nicht mehr zu dulden, hat es nichts mit Rechtsimperialismus zu tun. Das Ausland hat keinen Anspruch darauf, der Schweiz Fleisch zu verkaufen, das tierquälerisch produziert wurde.
Es wird auch oft behauptet, die WTO lasse entsprechende Importbeschränkungen nicht zu: Einseitige Importvorschriften seien für die Qualität der Produkte, nicht aber für Herstellungsbedingungen zulässig. Das mag zwar erstaunen angesichts der heutigen schweizerischen Importkontingentierung für Fleisch, welche nicht einmal spezifisch an Herstellungsbedingungen geknüpft ist.
Dennoch ist die WTO-Kompatibilität von Importauflagen bezüglich Tierwohlstandards tatsächlich nicht abschliessend geklärt. Zwar verneint die WTO nicht die Notwendigkeit, den Umweltauswirkungen des inländischen Konsums auch im Ausland Rechnung zu tragen. Sie wägt dieses Bedürfnis aber bewusst gegen den ebenfalls wichtigen Schutz des Freihandels ab. Leicht könnten sonst als grüne Anliegen getarnte, in Wahrheit aber rein protektionistische Hemmnisse den Welthandel ins Stocken bringen.
Expertenberichte kommen zum Schluss, dass die rechtliche Situation bei Importauflagen für Umweltschutzbelange heute ein Graubereich bleibt. Auch wenn in der Diskussion um die Massentierhaltungsinitiative beide Seiten ihre eigene Antwort zu wissen glauben: Es lässt sich kaum genau vorhersagen, wie die verantwortlichen Gremien im Falle einer Klage entscheiden würden. Soll, wie von der Gegnerseite impliziert, diese rechtliche Ungewissheit ein Hauptgrund sein, gar nicht erst zu versuchen, den Tierschutz auf ein sonst angemessenes Niveau anzuheben?
Kein voreiliger Fatalismus
Man kann es gegenteilig sehen. Die Möglichkeit einer negativen Reaktion der WTO gilt als einer der Gründe für die relativ schwachen Tierschutzrichtlinien, beispielsweise auch in der EU. Die rechtliche Unklarheit ist damit mitverantwortlich für ein globales Race-to-the-bottom bei der Nutztierhaltung in einem Markt, in dem nur die am billigsten produzierenden Anbieter überleben. Wenn jährlich zig Milliarden Nutztiere damit auf rücksichtslose Art gemästet werden, so dass die Nutztierhaltung von Ethikern oft als eines der allergrössten gesellschaftlichen Probleme angesehen wird, ist es vielleicht an der Zeit, dass ein Land die Möglichkeiten im Rahmen der internationalen Handelsverträge genauer auslotet.
Anlass zur Hoffnung für eine sinnvolle Umsetzung der Initiative gibt auch, dass nicht unbedingt ein striktes Importverbot notwendig ist. Die Erfahrung zeigt, dass, begleitend zu einem inländischen Verbot, eine deutliche Deklarationspflicht für Importe genügend Konsumenten dazu bewegen kann, die tierfreundlichere Inlandproduktion vorzuziehen. So befürchtete man in der Schweiz bei der Einführung des Käfigverbotes für Hühner 1992 ein Umsteigen der Konsumenten auf billige Importkäfigeier. Bewirkt wurde das Gegenteil: Während 1992 noch 95 Prozent der Importeier aus Batterien stammten, nahm 2001 der letzte Grossverteiler Importkäfigeier vom Markt – niemand mehr kaufte die Schachteln mit Vermerk «aus in der Schweiz nicht zugelassener Käfighaltung».
Günstiges Fleisch als Sozialpolitik?
Tierfabriken sind so stark rationalisiert worden, dass insbesondere im Ausland, aber auch in der Schweiz extrem billig produziert wird. Für wirklich tierfreundliche Haltung müssten die Preise erheblich ansteigen. Die Gegnerschaft, mitunter Avenir Suisse, prangert an, dass sich bei Annahme der Initiative der ärmere Bürger Fleisch nicht mehr leisten könne.
Der Initiativtext geht allerdings nicht so weit, wie Tierschutzorganisationen eigentlich gerne würden, sondern fordert die Umsetzung breit akzeptierter Tierwohlaspekte von Bio Suisse. Bei einer pragmatischen Umsetzung dürften Preissteigerungen deshalb nicht exorbitant ausfallen. Zudem zeigen Studien ziemlich klar, dass gesundheitlich gesehen viel zu viel, nicht zu wenig Fleisch konsumiert wird.
Der wirklich springende Punkt ist aber: Einzelne Produkte wie Fleisch zu subventionieren, indem man das gesellschaftliche Anliegen des Tierwohls zu wenig reguliert, bedeutet eine illiberale Bevormundung der Konsumenten.
Finanzpolitisch ist es eine zweifach ineffiziente Umverteilungspolitik: Ineffizient wird ein bestimmtes Produkt – Fleisch – für alle verbilligt, statt Einkommen direkt umverteilt. Und zweitens erfolgt die Verbilligung ineffizient durch Unterregulierung eines öffentlichen Gutes anstatt durch direkte Subventionen. Der wahre Liberale würde sich im Grab umdrehen.
Unangenehme Empfindungsfrage
Wie viel Tierwohl gesellschaftspolitisch wünschenswert ist, bleibt eine subjektive Frage. Auf die Frage «wie viele Hühnerleben pro Menschenleben?» haben weder Volkswirtschaft noch Philosophie noch Neurowissenschaften schlüssige Antworten.
Daraus zu schliessen, eine Regulierung sei unnötig, wäre ein Trugschluss. Die kontinuierlichen Evolutionsschritte zwischen einzelnen Tierarten bis hin zum Menschen sowie die dem Menschen vergleichbaren emotionalen Ausdrucksweisen der Säugetiere deuten darauf hin, dass sich tierisches Empfinden in vielerlei Hinsicht nicht kategorisch vom menschlichen unterscheidet.
Beim Wetten unnötiges Risiko vermeiden
Gegenüber dem Leiden, das plausiblerweise mit der heutigen Nutztierhaltung einhergeht, scheint es nicht übertrieben vorsichtig, wenn die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Urne entscheiden, das öffentliche Gut der Tierwohlfahrt auf ein wenigstens ein bisschen artgerechteres Niveau zu heben. Schon wenn man agnostisch die Wahrscheinlichkeit von relevantem Tierempfinden bei nur fünfzig Prozent ansetzt, lässt sich in Anbetracht des enormen Tierelends, das wir im schlimmsten Fall verantworten, in Analogie zur Pascal’schen Wette, aber auch ohne besonderen Glauben oder Ideologie ein erheblicher Tierschutz begründen.
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In ausführlicher Version erschienen auch auf Ökonomenstimme und in Kurzversion in der NZZ am Sonntag vom 10.7.2018.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Gute Überlegungen, ich tendiere zu einem JA.
Eine Frage zum Bild, ich nehme an, dass dieses eine aussergewöhnlich schlechte Mast zeigt?
Es könnte verstanden werden, dass hier eine durchschnittliche Mast-Situation zu sehen ist.
Ob dieses Foto redlich informiert oder eher bewusst polemisiert, frage ich hier etwas besorgt.
Zu den gesundheitlichen Aspekten des Fleischkomsums sollten auch die Qualitäts-Unterschiede von Bio zu Intensiv beachtet werden, vom Antibiotika-Einsatz bis zum Adrenalin der gestressten Tiere.
Lieber Bio, dafür etwas weniger, das ergibt dann keine Mehrkosten im Konsum, ist gut für das Tierwohl und gut für die eigene Gesundheit.
Ein spannender Punkt ist das Thema der Subvention. Ein hoher Fleischkonsum ist ungesund, besonders wenn das Fleisch aus nicht artgerechter Haltung stammt. Wenn unserem Staat die Gesundheit des Volkes wirklich am Herzen liegen würde, müssten die Subventionen von der Fleisch- und Milchproduktion auf die Produktion von Bio-Gemüse umgelagert werden.