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Schafe im freien Weidgang. 60 Prozent der Walliser Schafalpen sind unbehirtet. © ktm

Die Schafe werden dem Wolf oft auf dem Silbertablett serviert

Kurt Marti /  Das Tierschutzgesetz erlaubt, dass Schafe im Sommer auf der Alp unbewacht sich selbst überlassen werden. Das muss ändern.

«Grossraubtiere: Wegen Rissen beim Emosson-Stausee: 400 Schafe vorzeitig von Alpe geholt», lautete die Schlagzeile im Walliser Boten vom 21. August. Zehn Schafe hatte der Wolf aus der 400-köpfigen Schafherde von insgesamt 13 Schafhaltern aus dem Oberwallis gerissen. Nur beiläufig wurde im Artikel erwähnt, dass die Herde im sogenannten «freien Weidgang» gealpt wurde, also ohne Hirt und ohne Herdenschutz.

Einer der betroffenen Schäfer begründete den fehlenden Herdenschutz lapidar wie folgt: «In den vergangenen 16 Jahren hatten wir in dieser Region noch nie Schäden zu beklagen.» Ein Blick auf die Wolf-Karte der Stiftung «Raubtierökologie und Wildtiermanagement» KORA hätte genügt, um sich des Wolf-Risikos in diesem Gebiet bewusst zu werden und Massnahmen zum Herdenschutz zu ergreifen, denn seit 2005 sind Wölfe auch in dieser Region unterwegs.

60 Prozent der Walliser Schafalpen sind ungeschützt

Während der Alpsaison sterben gemäss einer Studie von 2012 (es gibt keine neueren Zahlen) schweizweit jährlich rund 4200 Schafe an Krankheiten, Absturz, Wolfsrissen, Stein- und Blitzschlag oder sie gehen verloren. 2019 riss der Wolf laut dem Jahresbericht von Herdenschutz Schweiz 425 Nutztiere (mehrheitlich Schafe und Ziegen).

Die meisten Tiere riss der Wolf 2019 laut der kantonalen Statistik im Wallis, wo insgesamt 205 Wolfsrisse von Nutztieren (mehrheitlich Schafe) zu verzeichnen waren, davon 87 Prozent (179) in ungeschützten Herden. Laut Auskunft der Walliser Dienststelle für Landwirtschaft wurden im Jahr 2018 rund 60 Prozent der Walliser Schafalpen (91 von 151) im freien Weidgang betrieben. Schweizweit sind es 52 Prozent (422 von 800).

Besonders ausgeprägt zeigen sich die Auswirkungen des freien Weidgangs laut KORA im Vergleich der Wolfsrisse im Wallis und in Graubünden. Obwohl es in Graubünden zwischen 2016 und 2018 doppelt so viele Wölfe (GR: 37 / VS: 18) und mehr Schafe (GR: 41’000 / VS: 36’000) gab, riss der Wolf im Wallis doppelt so viele Nutztiere wie in Graubünden. Die KORA führt dies unter anderem darauf zurück, dass im Wallis im gesamtschweizerischen Vergleich mehr Schafe unbehirtet gesömmert werden.

Der frühere Jagdinspektor sprach Klartext

Dass mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des Wolfes über die Hälfte der Schafherden immer noch unbewacht den Sommer auf der Alp verbringen, ist ein Skandal. Nicht nur sind die Tiere schutzlos dem Wolf ausgeliefert, sondern die Schafe leiden auch bei alltäglichen Verletzungen tage- oder wochenlang. Zudem schaden Schafe im freien Weidgang auf Grat- und Hochalpen der Vegetation.

Bereits vor 21 Jahren schrieb der damalige eidgenössische Jagdinspektor Hansjörg Blankenhorn im Bulletin des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL/heute Bundesamt für Umwelt BAFU): «Die Rückkehr des Wolfs (…) zwingt die Schafhalter dazu, ihre Tiere besser zu überwachen.» Und er forderte, dass eine bessere Behirtung und eine sorgfältige Weideplanung «zur zwingenden Voraussetzung für den Bezug von Förderungsbeiträgen werden».

Ein verletztes Schaf liegt am Boden, von einem Hirt keine Spur

Was ist 21 Jahre später aus Blankenhorns Forderungen geworden? Dazu ein Fallbeispiel: Ein schöner Sommertag Ende Juli in den Walliser Bergen auf 2500 Meter über Meer. Ein Schwarznasenschaf liegt reglos bei einem Stein, 200 Meter abseits der anderen Schafe.

Das verletzte Schwarznasenschaf auf einer unbehirteten Walliser Alp Foto: ktm

Bei Annäherung hebt das Schaf nur den Kopf. Erst als es fast berührt werden kann, quält es sich auf die Beine und humpelt langsam davon, ein Bein in der Luft. Es ist am hinteren linken Bein verletzt, das möglicherweise gebrochen ist.

Das Schaf braucht unbedingt Pflege. Doch weit und breit ist kein Hirt zu sehen. Die rund 200 weit verstreuten Schafe wurden im Frühsommer auf diese hochalpine Weide getrieben und bleiben bis im Herbst grösstenteils sich selbst überlassen. Der Besitzer der Tiere wohnt 60 Kilometer entfernt und sagt, die Herde werde einmal pro Woche besucht.

BLW, BAFU, BLV: «Der freie Weidgang ist explizit vorgesehen»

Infosperber hat die zuständigen Bundesämter für Landwirtschaft (BLW), für Umwelt (BAFU) und für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) mit diesem Beispiel konfrontiert und gefragt, wieso auch heute noch Schafe ohne ständige Aufsicht gesömmert werden dürfen. Die simple Antwort lautet: Das Gesetz erlaubt es.

Der freie Weidgang der Schafe ist nämlich laut der Stellungnahme der drei Bundesämter «in der Tierschutzgesetzgebung explizit vorgesehen (Art. 36 Tierschutzverordnung und Art. 6 + 7 Nutz- und Haustierverordnung)». Diese Art der Schafalpung sei aber nur dann gesetzeskonform, «wenn der Tierhalter alles Zumutbare unternimmt, um die Tiere in seiner Obhut vor ungerechtfertigten Schmerzen, Leiden, Schäden oder Überanstrengung zu schützen».

Laut der Stellungnahme gehören dazu «regelmässige Kontrollgänge (unter den Vollzugsbehörden herrscht Einigkeit, dass Sömmerungstiere mindestens alle 2 Tage kontrolliert werden müssen) und angemessener Schutz vor extremer Witterung und vor anderen Gefahren.» Ebenso müssen «kranke, verletzte oder anderweitig geschwächte Tiere unverzüglich adäquat untergebracht, gepflegt, behandelt oder (im Sinne der Leidensbegrenzung) getötet werden (Art. 5 TSchV)».

Tierhalter, welche diese Bestimmungen nicht berücksichtigen, verstossen laut den drei Bundesämtern «gegen die Tierschutzgesetzgebung (Vernachlässigen von Tieren bis hin zu fahrlässiger Tierquälerei) und machen sich strafbar». Es sei deshalb wichtig, «dass jede entsprechende Beobachtung dem zuständigen kantonalen Veterinärdienst gemeldet» werde. Der einzelne Bürger soll es also richten.

Lasche Vorschriften für die Sömmerung

Der Hauptgrund, dass auch 21 Jahre nach Blankenhorns Forderungen noch immer mehr als die Hälfte der Schafalpen unbehirtet sind, liegt also darin, dass der Gesetzgeber den freien Weidgang ausdrücklich erlaubt. Damit werden die Schafe dem Wolf per Gesetz auf dem Silbertablett serviert.

Zudem wurden die Vorschriften für die Schafhaltung auf den Alpen verwässert. So hält beispielsweise die Nutz- und Haustierverordnung (Art. 7, Abs. 1) grundsätzlich fest: «Der Gesundheitszustand und das Wohlergehen der Tiere sind täglich zu kontrollieren, insbesondere der Allgemeinzustand und das Auftreten von Verletzungen, Lahmheiten, Durchfall und anderen Krankheitsanzeichen.» Der Absatz 3 hingegen relativiert diese Vorschrift wieder: «Im Sömmerungsgebiet kann die Häufigkeit der Kontrollen angemessen reduziert werden.»

Schafschutz statt Beruhigungs-Pillen

Der Wolf deckt die Probleme der unbehirteten Schafsömmerung seit einem Vierteljahrhundert auf. Es wird Zeit, dass die Politik handelt und die Tierschutzgesetzgebung anpasst, statt Beruhigungs-Pillen für die Schafhalter in Form der Jagdgesetz-Revision zu präsentieren. Der freie Weidgang muss aus Gründen des Tier- und Naturschutzes sowie des Schutzes vor dem Wolf verboten werden.

Und vor allem müssen die nötigen Bundesmittel für die Umsetzung eines flächendeckenden Herdenschutzes bereitgestellt werden. Das wurde in der Wolf-Abschuss-Euphorie leider vergessen. Eine Leistung im Dienste des Natur- und Landschaftsschutzes muss entsprechend entschädigt werden, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie festhält. Es ist nicht akzeptabel, dass die Schafhalter für die Kosten des Herdenschutzes teilweise selber aufkommen müssen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Kuh

Landwirtschaft

Massentierhaltung? Bio? Gentechnisch? Zu teuer? Verarbeitende Industrie? Verbände? Lobbys?

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5 Meinungen

  • am 28.08.2020 um 12:38 Uhr
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    Wenn Älpler ihre Schafe vor Wölfen schützen, bleiben sie auf der Hälfte der durch diese Massnahmen verursachten Kosten sitzen. Schweizweit dürften sich diese ungedeckten Kosten auf 3,8 Millionen Franken belaufen. In Graubünden hat der Wolf gelernt, Schutzmassnahmen zu umgehen und zum Beispiel über Schutzzäune zu springen, so wie das schon länger aus Frankreich bekannt ist. Die Nutztiere können wegen dem Zaun nicht fliehen und sind dem Wolf ausgeliefert. Die Wölfe nehmen rasant zu, weil sie keine natürlichen Feinde haben. Innert Jahresfrist haben sich die Wolfsrudel mehr als verdoppelt und inzwischen streifen 10 Wolfsrudel in der Schweiz herum.

    Ist die rasante Verbreitung des Wolfs eine Strategie des „geordneten Rückzugs“? Der neoliberale Think Tank der „Schweizer“ Multis, Avenir Suisse, meint: „Aber es gibt auch Regionen, in denen Strukturwandel im Schweizer Berggebiet „Schrumpfungsprozesse“ soweit fortgeschritten sind, dass es Strategien für einen «geordneten Rückzug» bedarf“. Was Avenir Suisse dabei unterschlägt: Über zwei Millionen Personen leben im Berggebiet, was rund einem Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz entspricht. 22% der Beschäftigten sind im Berggebiet tätig.

  • am 28.08.2020 um 14:31 Uhr
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    Danke für den interessanten Beitrag. Dazu muss man noch wissen, dass den Haltern von Schafen eine Entschädigung bezahlt wird, wenn der Wolf ein Schaf reisst. Deshalb ist jedes tote Schaft im Wallis ein «Wolfsriss». Man weiss aber, das auch streunende Hunde Schafe töten oder in den Tod treiben. Der Wolf ist längst nicht an allen «Wolfsrissen» schuld. Wenn es aber ein Hund war müsste der Hundehalter für den Schaden aufkommen. Da ist es doch einfacher, dem Wolf die Schuld zu geben. Auf der anderen Seite gibt es wunderschöne Berichte von der Alpwirtschaft vergangener Zeiten. Und da sieht man dann sehr schnell, dass es keinem Menschen in den Sinn gekommen wäre, irgendwelche Tiere unbeaufsichtigt zu lassen. Schon recht kleine Kinder wurden zum Hüten eingesetzt (Geissenpeter). Das man Schafe den ganzen Sommer unbeaufsichtigt lässt ist eine «neue» Mode. Auch Herdenschutzhunde funktionieren nicht. Da werden mehr Wanderer angegriffen als Wölfe.

  • am 30.08.2020 um 22:02 Uhr
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    "Auf dem Silbertablett serviert» trifft schon zu. Man fragt sich, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen konnte, für ein von einem Wolf gerissenes unbeaufsichtigtes Schaf eine Entschädigung zu zahlen. Würde irgend jemand einem Bauern, der seine Hühner nachts alleine im Wald herumrennen lässt und einen Verlust durch den Fuchs zu beklagen hat, eine Entschädigung zahlen?
    Grundsätzlich ist es unverständlich, warum für unbeaufsichtigte Schafe Subventionen ausbezahlt werden. Was soll der Nutzen dieser Art von Tierhaltung für die Allgemeinheit sein? Der Beitrag zur Ernährung des Landes ist absolut minimal. Und um eine schützenswerte Tradition handelt es sich auch nicht. Früher wurden Schafe nicht auf diese Weise gehalten.

  • am 31.08.2020 um 10:44 Uhr
    Permalink

    Nicht nur iin der Schweiz das entscheidende Problem. Auch bei uns in Deutschland fallen nach wie vor 80 – 90 % der Nutztierrisse auf nicht oder nicht ausreichend geschützte Weidetiere. Sämtliche der in über 20 Jahren Wolfspräsenz in Deutschland ca. 15 gerissenen Pferde z.B., um die gerade ein riesen Bohei gemacht wird, waren gar nicht geschützt.
    Auch bei uns ist flächendeckender Herdenschutz die einzige Lösung! Bejagung hilft nicht weiter. Dazu nur ein paar (durchschnittliche!) Zahlen, die das verdeutlichen:
    – Das durchschnittliche Wolfsrevier in Deutschland hat ca. 25.000 ha
    – auf diesen 25.000 ha leben 8 – 10 Wölfe
    – auf DERSELBEN Fläche jagen gleichzeitig zwischen 80 und 250 Jäger
    – spätestens jetzt wird klar, dass eine Koordination der Jäger zu einer sinnvollen Populationskontrolle durch Jagd völlig unmöglich ist!

    Mit anderen Worten: alleine das in Deutschland geltende Revierjagdsystem verhindert es wirkungsvoll, dass Bejagung im Bezug auf Wölfe irgend eine sinnvolle Rolle spielen könnte; die Forderung vieler Weidetierhalter und von Teilen der konventionellen Jägerschaft, den Wolf ins Jagdrecht zu überführen, um so den Schutz der Weidtiere zu garantieren, ist nichts anderes als blanker Populismus!

    Es gibt nur zwei Wege: Ausrottung des Wolfs oder konsequenter Herdenschutz! Wenn letzterer flächendeckend umgesetzt ist, DANN (aber eben erst dann) müssen Wölfe, die lernen, die Herdenschutzmaßnahmen zu überwinden, konsequent entnommen – sprich geschossen – werden.

  • am 31.08.2020 um 10:44 Uhr
    Permalink

    Nicht nur iin der Schweiz das entscheidende Problem. Auch bei uns in Deutschland fallen nach wie vor 80 – 90 % der Nutztierrisse auf nicht oder nicht ausreichend geschützte Weidetiere. Sämtliche der in über 20 Jahren Wolfspräsenz in Deutschland ca. 15 gerissenen Pferde z.B., um die gerade ein riesen Bohei gemacht wird, waren gar nicht geschützt.
    Auch bei uns ist flächendeckender Herdenschutz die einzige Lösung! Bejagung hilft nicht weiter. Dazu nur ein paar (durchschnittliche!) Zahlen, die das verdeutlichen:
    – Das durchschnittliche Wolfsrevier in Deutschland hat ca. 25.000 ha
    – auf diesen 25.000 ha leben 8 – 10 Wölfe
    – auf DERSELBEN Fläche jagen gleichzeitig zwischen 80 und 250 Jäger
    – spätestens jetzt wird klar, dass eine Koordination der Jäger zu einer sinnvollen Populationskontrolle durch Jagd völlig unmöglich ist!

    Mit anderen Worten: alleine das in Deutschland geltende Revierjagdsystem verhindert es wirkungsvoll, dass Bejagung im Bezug auf Wölfe irgend eine sinnvolle Rolle spielen könnte; die Forderung vieler Weidetierhalter und von Teilen der konventionellen Jägerschaft, den Wolf ins Jagdrecht zu überführen, um so den Schutz der Weidtiere zu garantieren, ist nichts anderes als blanker Populismus!

    Es gibt nur zwei Wege: Ausrottung des Wolfs oder konsequenter Herdenschutz! Wenn letzterer flächendeckend umgesetzt ist, DANN (aber eben erst dann) müssen Wölfe, die lernen, die Herdenschutzmaßnahmen zu überwinden, konsequent entnommen – sprich geschossen – werden.

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