Das Seilziehen um griffige Pestizid-Grenzwerte
Im Mai 2014 redete der Bundesrat Klartext in Bezug auf die Pestizidbelastung der Gewässer durch die Landwirtschaft. In seiner Antwort auf eine Interpellation von SP-Nationalrätin und Pro Natura-Präsidentin Silva Semadeni hielt er fest, dass die Vorschriften des ökologischen Leistungsnachweises (ÖLN) «wenig Einfluss» auf eine verringerte Belastung der Gewässer durch sogenannte Pflanzenschutzmittel (PSM) hatten. Auch die zusätzlich ergriffenen Massnahmen seit 2005 konnten «die Einträge von PSM in die Gewässer nicht signifikant reduzieren». Daraus folgerte der Bundesrat: «Ohne neue und wirkungsvolle Massnahmen werden die Gewässer daher weiterhin stark mit PSM belastet werden.»
In seiner Analyse stützte sich der Bundesrat auf eine Studie der ETH-Forschungsanstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag), welche in fünf mittelgrossen Fliessgewässern «sehr hohe Konzentrationen» an Pestiziden gemessen hatte und zusätzlich festhielt, «dass Maximalkonzentrationen in diesen Gewässern um ein Vielfaches höher lagen und dass Maximalkonzentrationen in kleineren Gewässern nochmals höher sind».
Schwierige Suche nach den konkreten Verursachern
Den ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) erfüllen rund 98 Prozent der Schweizer Bauernbetriebe; dieser ist die Bedingung für die Auszahlung von jährlich rund 2,8 Milliarden Franken Direktzahlungen. Die darin festgelegten Standards entsprechen aber nur einer «guten landwirtschaftlichen Praxis» und bringen kaum ökologische Verbesserungen.
Doch nicht nur der Öko-Leistungsnachweis hatte bisher wenig Einfluss auf die Pestizidbelastung der Fliessgewässer, sondern auch die Gewässerschutz-Verordnung. Diese nimmt die Verursacher von Umweltschäden grundsätzlich in die Pflicht. Doch in der Praxis gestaltet es sich schwierig, die Verursacher den Belastungen zuzuordnen. Laut Christian Stamm, Co-Autor der erwähnten Eawag-Studie, ist dies in der Regel «nicht möglich, (…) weil in den meisten Fällen Felder zahlreicher Landwirte beitragen. Zudem werden – ausser bei akuten Vergiftungsfällen – Überschreitungen erst Monate nach ihrem Auftreten anhand von Laboranalysen aus den Routinemessungen bekannt».
Fehlender politischer Wille und lückenhaftes Monitoring
Deshalb ist es laut Stamm «für die Kantone als Vollzugsbehörde schwierig, konkrete Massnahmen zu ergreifen». Letztere müssten folglich «systemisch sein und nicht auf einen Einzelfall bezogen». Weil dafür aber bisher in den Kantonen einerseits der «politische Druck zu gering war», andererseits «einfache Lösungen nicht zur Hand sind», sei in der Vergangenheit wenig in diese Richtung passiert. Aus diesem Grund sei es sehr wichtig, dass im Rahmen des zukünftigen Aktionsplans des Bundes zur Reduktion der Pestizide in den Gewässern «griffige Massnahmen getroffen werden».
Ein weiterer Grund für den mangelhaften Vollzug ist das unvollständige Monitoring der Pestizidbelastung der Fliessgewässer. Laut einem Eawag-Bericht im Magazin «Aqua & Gas» (Nr. 4/2015) werden auch bei den neusten, aufwändigen Messungen der Herbizide «etwa die Hälfte der detektierten Substanzen und knapp die Hälfte des Risikos verpasst». Zudem umfassen typische bisherige kantonale Monitoringprogramme bei Fungiziden aufgrund des Aufwands «nur fünf Substanzen». Deshalb erstaune es nicht, dass «die Fungizidbelastung stark unterschätzt» werde. Und auch die Insektizide seien für die Gewässer «viel wichtiger, als bisher durch Monitoringprogramme bestätigt werden konnte». Es sei daher nötig, «in Zukunft je nach Landnutzung mehr Insektizide routinemässig zu analysieren».
Bundesrat will den unpraktikablen Einheitswert ersetzen
Ein Hauptgrund für den mangelhaften Vollzug des Gewässerschutzes sind die fehlenden stoffspezifischen Pestizid-Grenzwerte. Erstaunlicherweise fehlen in der aktuell gültigen Gewässerschutz-Verordnung Grenzwerte für die einzelnen Pestizid-Wirkstoffe gemäss ihrer unterschiedlichen Giftigkeit. Stattdessen ist nur ein einheitlicher Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter (μg/l) für alle Pestizide verankert, ungeachtet deren unterschiedlichen Giftigkeit für die Wasser-Lebewesen.
Deshalb will der Bundesrat im Rahmen der laufenden Revision der Gewässerschutz-Verordnung diesen unpraktikablen Einheitsgrenzwert durch Grenzwerte für die einzelnen Pestizide ersetzen. Diese sogenannten «ökotoxikologischen Qualitätskriterien» (EQS) wurden vom Oekotoxzentrums der Eawag auf der Grundlage internationaler Forschung entwickelt.
In der EU gelten strikt getrennte Grenzwerte einerseits für die Pestizid-Zulassung und andererseits für die Beurteilung der Gewässerqualität. Für die Zulassung sind es die weniger strengen RAC-Grenzwerte (Regulatory Acceptable Concentrations) und für die Beurteilung der Gewässerqualität die strengeren EQS-Grenzwerte.
Die RAC-Grenzwerte gelten in der Schweiz bereits für die Pestizid-Zulassung. Jetzt will der Bundesrat entsprechend der EU die EQS-Grenzwerte für die Beurteilung der Gewässer in der Gewässerschutz-Verordnung festschreiben. Beide Grenzwerte stützen sich grundsätzlich auf dieselben wissenschaftlichen Grundlagen. Der Unterschied liegt darin, dass die RAC-Grenzwerte eine vorübergehende Schädigung der Wasserlebewesen in Kauf nehmen, wenn diese sich innert einer gewissen Zeit wieder erholen. Die EQS-Grenzwerte hingegen akzeptieren keine Beeinträchtigung der Organismen in den Gewässern.
Seilziehen zwischen den Bundesämtern
Zur Zeit ist hinter den Kulissen ein Seilziehen um die Festlegung der neuen Grenzwerte im Gang. Auf der einen Seite weibeln das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), der Schweizerische Bauernverband (SBV) und die Pestizidindustrie unter der Federführung von «Scienceindustries» für die weniger strengen RAC-Grenzwerte. Auf der anderen Seite treten der Bundesrat, das Bundesamt für Umwelt (Bafu) und die Kantone für die EQS-Grenzwerte ein.
In seinem Newsletter vom letzten März setzte das BLW einen gezielten Schuss vor den Bug der EQS-Befürworter und publizierte eine grosszügige Entwarnung bezüglich der Pestizid-Belastung in den Schweizer Gewässern: «Die derzeitige Auswertung zeigt, dass die geringe Anzahl an Überschreitungen der RAC-Werte (0.075 % aller Messungen) ein gutes Zeichen für die Situation der Oberflächengewässer ist.» Damit dehnte das Bundesamt für Landwirtschaft die RAC-Grenzwerte eigenmächtig auf die Beurteilung der Gewässerqualität aus und gab damit implizit seine Forderung für die Revision der Gewässerschutz-Verordnung bekannt. Die Pestizidlobby quittierte die gute Nachricht aus dem BLW dankbar auf der Internetseite www.pflanzenschützer.ch: «Wiederholte Messungen staatlicher Stellen belegen, dass diese Grenzwerte nur in den seltensten Fällen überschritten werden.»
Bundesexperten widersprechen dem BLW
Die Verlautbarung des BLW trifft auf Kritik der Eawag und des Bafu. Auf Anfrage stellt Eawag-Mitarbeiter Stamm fest: «Das BLW stützt sich bei seiner Analyse auf die sogenannten RAC-Werte, wir ziehen (wie das Bafu) für die Gewässerbewertung die Environmental Quality Standards (EQS) heran.» Die RAC-Grenzwerte für Pestizide, wie sie das BLW verwende, seien «in der Regel deutlich höher als die EQS-Werte.» Im Gegensatz zu den EQS-Grenzwerten liessen sie «höhere Pestizidkonzentrationen zu, wenn sich die Lebewesen innert einer gewissen Zeit wieder erholen».
Auch Christian Leu, Chef der Sektion Wasserqualität beim Bafu, teilt die Folgerungen der BLW-Verlautbarung vom März 2015 nicht und hält auf Anfrage fest: «Die Beurteilung der Wasserqualität mit RAC-Werten lehnen wir im Bereich des Gewässerschutzes ab. Diese Werte dienen der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Für die Beurteilung der Wasserqualität gemäss Gewässerschutz-Verordnung sind sie aber nicht relevant, da sie nicht gesetzlich verbindlich sind.»
Spitzenbelastungen werden nicht erfasst
Zudem ist die genannte Auswertung des BLW so angesetzt, dass sie das Pestizidproblem stark verwässern. Laut Stamm «stellt die Analyse (des BLW, Anm. der Redaktion) zwar fest, dass Überschreitungen hauptsächlich in kleinen Gewässern festgestellt wurden, unterschlägt aber bei der Interpretation, dass beim Monitoring diese kleinen Gewässer massiv unterrepräsentiert sind. Denn für sie liegen nur rund 9 Prozent der Anzahl Messungen wie für grosse Flüsse vor». Tatsächlich aber machen Kleingewässer 75 Prozent des Schweizer Gewässernetzes aus.
Aus der BLW-Auswertung folgt deshalb das verharmlosende Resultat, dass nur 0,075 % aller Messungen die RAC-Werte überschritten haben. Zudem werde nicht berücksichtigt, dass die meisten Monitoring-Strategien nicht in der Lage sind, «kurzfristig auftretende Spitzenkonzentrationen zu erfassen». Deshalb unterschätze diese Analyse «systematisch die tatsächliche Belastung, wie sie in kleinen Gewässern landwirtschaftlich genutzter Einzugsgebiete auftreten können».
BLW, Pestizidlobby und SBV lobbyieren für Lockerung
Konfrontiert mit dem Vorwurf der gesetzlichen Unverbindlichkeit der RAC-Werte erklärte BLW-Mitarbeiterin Katja Knauer, Fachbereich Nachhaltiger Pflanzenschutz: «Die einzelnen RAC-Werte sind nicht in der Gewässerschutz-Verordnung festgehalten, sondern in der Gewässerschutz-Verordnung wurde nur die Anforderung an Pestizide festgelegt: Vorbehalten bleiben andere Werte auf Grund von Einzelstoffbeurteilungen im Rahmen des Zulassungsverfahrens.» Die einzelnen RAC-Grenzwerte hingegen ergeben sich laut Knauer «aus den ökotoxikologischen Gutachten, die von Experten bei Agroscope im Rahmen der Zulassung erstellt werden».
Damit bestätigt Knauer zwar die Feststellung von Bafu-Mitarbeiter Leu, dass die RAC-Werte nicht gesetzlich verbindlich für die Beurteilung der Gewässerqualität festgelegt sind. Doch das soll sich jetzt offenbar ändern: BLW-Expertin Knauer schlägt auf Anfrage vor: «Will man in der Schweiz in der Zukunft auch die Anforderungen der Europäischen Wasserrahmenrichtline einführen, aber auch die Kohärenz mit geltendem Bundesrecht (Pflanzenschutzmittel-Verordnung PSMV) erhalten, dann wäre es denkbar, dass zwei Geltungsbereiche für Anforderungen an die Oberflächengewässerqualität eingeführt werden; der RAC-Wert könnte für die kleinen Gewässer als Massstab gelten (nach PSMV), während die EQS-Werte für die grösseren Gewässer als Vergleichsgrösse herangezogen werden.»
Damit kämen die weniger strengen RAC-Werte ausgerechnet für die stark belasteten kleinen Gewässer zum Einsatz und die strengeren EQS-Werte für die weniger belasteten grösseren Gewässer.
Verblüffende Übereinstimmung mit Scienceindustries
Mit diesem Verwässerungs-Vorschlag liegt das BLW exakt auf der Linie der Pestizidindustrie. In der Vernehmlassungsantwort von Scienceindustries zur Gewässerschutz-Verordnung steht fast wortgleich zu den Aussagen von BLW-Mitarbeiterin Knauer: «Für die Beurteilung von grösseren Gewässern werden die EQS-Werte und für die Beurteilung von kleineren Fliessgewässern (…) die RAC-Werte beigezogen.» Falls dieser Vorschlag umgesetzt würde, hätte die Schweiz deutlich weniger strenge Anforderungen an die Wasserqualität als die EU.
Auch der Bauernverband stützt in seiner Vernehmlassungs-Antwort den Einflussbereich des BLW: Während der Bundesrat in seinem Verordnungs-Entwurf dem eigenmächtigen BLW einen Riegel schieben wollte und den Satz «Vorbehalten bleiben andere Werte auf Grund von Einzelstoffbeurteilungen im Rahmen des Zulassungsverfahrens» kurzerhand gestrichen hatte, tritt der Bauernverband explizit gegen diese Streichung ein.
Der Bundesrat wird in den nächsten Wochen über die Änderungen in der Gewässerschutz-Verordnung entscheiden und informieren. Dann wird sich zeigen, ob sich hinter den Kulissen die Pestizid-Lobby durchgesetzt hat oder nicht.
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Dieser Artikel ist im Pro Natura-Magazin vom Oktober 2015 erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Man müsste die Subventionen für Bio-Betriebe erhöhen und dafür die Subventionen der konventionellen Betriebe senken.
Markus Zimmermann 23. 10. 2015
Dass unsere Gewässer mit bis über 20 Pestiziden massiv belastet sind, ist keine Folge untauglicher Grenzwerte. Es fehlen der Wille und die Mittel, die geltenden Vorschriften zu vollziehen. Da es keine systematische Erfassung der ausgebrachten Gifte gibt, besteht auch kaum die Möglichkeit, die eingesetzten Pestizide und ihre Ausbreitung in der Umwelt gezielt zu überwachen.
Wenn aber festgestellt wird, dass ein Gewässer die Anforderungen nach Anh. 2 Gewässerschutzverordnung GSchV nicht mehr erfüllt, muss die zuständige Behörde die Art, das Ausmass und die Ursache der Verunreinigung ermitteln (Art. 47). Unabhängig von einer akuten Gefährdung von Mensch und/oder Umwelt; genau wie im Strassenverkehr, wo Geschwindigkeits-, d.h. Grenzwertüberschreitungen auch unabhängig von einer konkreten Gefahr geandet werden. Weiter muss die Behörde geeignete Massnahmen ermitteln und zur Behebung der Verunreinigung anordnen. Bei der Landwirtschaft sind das v.a. die Massnahmen im Anh. 4 Ziff. 212 GSchV.
Bei den geltenden Gewässerschutzanforderungen handelt es sich um Werte mit indizieller Bedeutung (Schwellenwerte), die auf eine vom Menschen verursachte Belastung hinweisen, und ganz bewusst nicht um human- oder ökotoxikologische Grenzwerte.
Wirklich verantwortungslos ist aber nicht der Mangel an sogenannt wissenschaftlichen Grenzwerten, sondern die Tatsache, dass der vorsätzliche Einsatz dieser Gifte mit wenigen Ausnahmen noch immer bis dicht an die öffentlichen Trinkwasserfassungen erlaubt ist.