Kommentar
Krankenkassen gehen mit Pharma und Ärzten ins Bett
Der gemeinsame Auftritt des Kassenverbands Santésuisse mit den Pharmaverbänden Interpharma, Intergenerika und Vips gestern im «Salon rouge» des noblen Hotel Bellevue Palace in Bern war symptomatisch. Schon seit drei Jahren verbreiten die Kassen zusammen mit der Pharmalobby, vielen PowerPoints und Trallala einen Vergleich der Medikamentenpreise in der Schweiz mit den Preisen im Ausland. «Noch um 12 Prozent» seien die Preise patentgeschützter Medikamente in der Schweiz höher als im Durchschnitt der sechs Vergleichsländer. Vor einem Jahr seien sie noch 17 Prozent höher gewesen, brüsteten sie sich und rechneten mit der Vergesslichkeit. Denn vor zwei Jahren hatten sie den Unterschied mit «nur noch 6 Prozent» verkündet. Rezept: Man nehme irgendeinen Wechselkurs, der gar nie zur Anwendung kam, und beweise, was man will.
Aber diese Vergleiche haben sowieso keinen Bezug zur Realität. Es wurde nicht etwa verglichen, was die Kassen im In- und Ausland für Medikamente tatsächlich zahlen müssen, sondern die sogenannten «Fabrikpreise». Doch nicht einmal diese erfassten sie korrekt. Sie verglichen nicht die Fabrikpreise, die in der Schweiz oder im Ausland tatsächlich bezahlt wurden, sondern irgendwelche Phantasie-Listenpreise aufgrund eines fiktiven Wechselkurses, der in der Schweiz gar nicht zur Anwendung kam.
Mit Recht protestierte die Stiftung für Konsumentenschutz, dass der veröffentlichte Preisvergleich «nicht die Realität abbildet». Der Kassensturz illustrierte gestern an Beispielen, wie irrelevant die verglichenen Fabrikpreise für die tatsächlichen Kosten der Krankenkassen sind (siehe Link zum Beitrag unten).
Frage: Warum macht der Kassenverband bei diesem Spiel der Pharmalobby mit? Warum vergleichen die Kassen nicht die Preise, die sie tatsächlich zahlen müssen, mit den Preisen, welche die Kassen im Ausland zahlen?
Einen Tag später zeigte sich Santésuisse in einem Communiqué erfreut darüber, dass die Gesundheitskommission des Ständerats dank den Stimmen der Kassenvertreter den befristeten Ärztestopp ablehnt, den Gesundheitsminister Alain Berset vorschlägt. Dieser wäre ein «planwirtschaftlicher Eingriff mit negativen Folgen und schalem Beigeschmack», moniert der Kassenverband und stimmt damit in den Chor der Ärzte-Organisation FMH ein.
Heute hat jeder Spezialarzt mit FMH-Titel einen Anspruch auf eine eigene Praxis. Die Kantone könnten Restriktionen einführen, wagen dies jedoch kaum.
Es wäre in der Tat besser, man würde den Marktregeln folgen und in Gegenden mit zu vielen Spezialärzten einfach deren Tarife senken, und in Gegenden mit zu wenig Hausärzten deren Tarife erhöhen. Oder man würde den Kassen erlauben, nicht einfach blindlings sämtliche Ärzte unter Vertrag nehmen zu müssen.
Doch marktwirtschaftliche Anreize haben politisch vorläufig keine Chance. Das wissen auch die Kassen. Es wäre just ein neuer ungeliebter Ärztestopp, der die Lobbys endlich dazu bewegen könnte, diesen dann möglichst bald durch finanzielle Anreize, also eine vernünftigere, liberale Lösung zu ersetzen.
Frage: Warum vertreten die Kassen beim Ärztestopp die Interessen der Ärztelobby?
Auf die Frage, warum die Kassen mit Ärzten- und Pharmalobbys unter die gleiche Decke schlüpfen, habe ich noch keine plausiblere Antwort erhalten, als die kommende Abstimmung über eine Einheitskasse, welche die Santésuisse im Nacken spürt. In der Westschweiz ist die Einheitskasse sehr populär. Und auch in der Deutschschweiz gewinnt sie an Sympathie. Viele fragen sich: Wozu viele Kassen, wenn alle Kassen für die Leistungen von Ärzten, Apotheken oder Spitäler die exakt gleichen Preise zahlen müssen? Was bleibt den Kassen ausser dem Ködern von gesunden Patientinnen und Patienten?
Die grossen Kassen spüren, dass der Wind gegen sie dreht. Deshalb versuchen sie seit einiger Zeit krampfhaft, die Unterstützung der mächtigen Lobbys der Ärzte und der Pharmaindustrie gegen die Einheitskasse zu gewinnen. Den Kassen wird bewusst, dass Ärzte und Pharmafirmen – trotz deren Lippenbekenntnisse für eine liberale Marktwirtschaft – nicht einfach ihre selbstverständlichen Bündnisgenossen sind, sondern mit einer Einheitskasse sehr gut leben könnten. Mit einem Oligopol, also mit Absprachen unter wenigen Mächtigen, lassen sich die Pfründe noch leichter verteilen als heute. Offen geben dies nur wenige zu.
Und noch ein Vorteil: Eine Einheitskasse wird die Pharmabranche und die Ärzteschaft überhaupt nicht mehr kritisieren – so wie dies das «Vorbild» Suva auch nie tut.
Falls die Kassen eine Einheitskasse verhindern wollen…
Um eine Einheitskasse zu verhindern, würden die Kassen gut daran tun zu beweisen, dass sie die europaweit höchsten Kosten für Medikamente nicht akzeptieren, und dass sie sich für eine bessere Behandlungsqualität einsetzen. Denn in den Akutspitälern kommt es jedes Jahr immer noch zu über 60’000 vermeidbaren gesundheitlichen Schäden und zu 1300 vermeidbaren Todesfällen.
Doch wenn der Krankenkassen-Verband mit Spitälern, Ärzteschaft und der Pharma gemeinsame Sache macht, spielt er schon heute die Rolle einer Einheitskasse. Eine solche Einheitskasse – wohl unter Aufsicht aller Interessenvertreter – wird mit der Pharmaspitze und der Ärzteschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlechte Kompromisse aushandeln, bei denen die Prämienzahlenden und Patienten das Nachsehen hätten.
Um eine Einheitskasse zu verhindern, müssten die Kassen für eine regulierte Vertragsfreiheit kämpfen, damit sie mit den Pharmafirmen und Spitälern verhandeln und Verträge abschliessen dürfen, scharf überwacht von der Wettbewerbskommission und von einer staatlichen Stelle, welche Behandlungsqualitäten erfasst und veröffentlicht. In Holland beginnt dies so zu funktionieren, zum Ärger der Pharmafirmen, zur Freude der Prämienzahlenden und im Interesse einer besseren Behandlungsqualität.
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Siehe auch «Die Risiken des Ärztebooms tragen die Patienten» vom 25.10.2012.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor vertritt die Patienten und Prämienzahlenden in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission.
Warum vertreten die Kassen beim Ärztestopp die Interessen der Ärztelobby?!
Ganz einfach, weil die Kassen mit ihrem Abrechnungsschwindel zu Lasten der Versicherer in integrierten Ärztenetzwerken (Retrozessionen als Zweckentfremdung unserer Prämiengelder) schlussendlich in Ihrem und im wirtschaftlichen Interesse der Politik trotz eindeutigem Volkswillen der ‹freien Arztwahl› (Abstimmresultat Managed Care Vorlage Juni 2012) die Versorgungsstruktur verändern können! Über diesen Abrechnungsschwindel werden Hausarztpraxen, die nicht mitmachen, wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig sein und verschwinden. Danach werden die Spezialisten in diese Netze integriert. Wiederum das Gleiche: wer nicht mitmacht, wird seinen Laden schliessen können. So werden die Versicherer das medizinische Leistungsangebot rationieren und über die fragwürdigen internen Qualitätskontrollen verteidigen. So gesehen ist der Ärztestopp absolut egal, weil die Versicherer über ihre intransparenten Geheimverträge die Leistungen und Ärzte an die kurze Leine nehmen werden, falls die Einheitskrankenkasse nicht vom Volke angenommen werden wird.
Wenn man sich nun diese Vorbereitungsarbeiten der Versicherer bewusst ist, wird man sich ausrechnen können, dass man die Einheitskasse rein aus volkswirtschaftlichen Überlegungen mit allen Mitteln bekämpfen wird. Verlierer sind einmal mehr die Prämien- und Steuerzahler. Die Ärzteschaft wird aber ebenfalls als Verlierer dastehen, denn auf diesem Weg, der rein anhand wirtschaftlich willkürlicher Interessen die Versorgungsstruktur und das Leistungsangebot steuern wird, werden Sie Leben rein aus willkürlich finanziellen Gründen aufgeben müssen. Ausser man ist ein VIP, wie z.B. die Parlamentarier. Da wagt kein Mediziner zu sparen, da man diese Mehrkosten problemlos wieder über Leistungskürzungen bei Senioren, Arbeitslosen, chronisch Kranken und Invaliden einsparen wird, um das vertraglich geregelte Gesamtbudget, welches erst noch einen Bonus abwirft, nicht zu überschreiten.
So gesehen, Politik, Versicherer und Industrie basteln bereits am Gesundheitssystem nach Abstimmung über die Einheitskrankenkasse. Dieses Vorgehen sollte jedem Bürger die Augen öffnen. Man ist sich jetzt schon sicher, dass diese Vorlage der SP politisch und wirtschaftlich keine Stimmmehrheit erzeugen wird!