Kommentar
Brexit-Votum war ein demokratisches Feigenblatt
Das Brexit-Votum zielte nicht darauf ab, dem britischen Volk die Entscheidung über die eigene Zukunft zu überlassen. Es war ein taktisches Manöver, mit dem die Cameron-Regierung die eigene Politik zur weiteren Begünstigung der Finanzelite absichern wollte. Trotz einer Manipulations-Kampagne ist dieses Manöver misslungen.
Das Brexit-Manöver war nicht das erste seiner Art in der EU. Vor knapp einem Jahr liess die griechische Regierung die Bevölkerung (auf Grund einer eklatanten Fehleinschätzung der Stimmung im Land) über die Austeritätspolitik abstimmen. Obwohl die überwältigende Mehrheit sich für ein Nein («Oxi») entschied, verschärfte die Regierung ihre gegen die arbeitende Bevölkerung gerichtete Sparpolitik massiv.
Wirtschaft und Politik werden auch im Falle Grossbritanniens alles unternehmen, um das Votum gegen die EU-Mitgliedschaft zu ignorieren. Doch die Mehrheitsmeinung der Abstimmenden wird international wesentlich höhere Wellen schlagen als das «Oxi»-Votum in Griechenland. Denn Grossbritanniens ist die fünftgrösste Wirtschaftsmacht der Erde und Sitz des Finanzplatzes der City of London.
Einerseits wird es in ganz Europa den EU-Gegnern Auftrieb geben und dem politischen Establishment einen schweren Schlag versetzen. Die Parteien, die das Schicksal Europas in den vergangenen Jahrzehnten bestimmt haben, werden in der nahen Zukunft weiter an Rückhalt in der Bevölkerung verlieren, während nationalistische Strömungen an Zulauf gewinnen.
Andererseits haben die Schockwellen an den internationalen Finanzmärkten erneut gezeigt, wie eng das Geschehen eines einzelnen Landes mit der riesigen globalen Finanzmaschinerie verknüpft ist und wie sehr diese Maschinerie mittlerweile am Tropf der Zentralbanken hängt.
Das Finanz-System muss permanent reanimiert werden
Obwohl Grossbritannien noch mindestens zwei Jahre Vollmitglied der EU bleiben wird – und vielleicht gar nie austreten –, kam es unmittelbar nach Bekanntwerden des Brexit-Votums zu den schwersten Erschütterungen an den internationalen Finanzmärkten seit 2008. Die Zentralbanken stellten Liquidität in dreistelliger Milliardenhöhe zur Verfügung, kauften Anleihen auf und griffen direkt in die Aktienmärkte ein. Die Chefs der wichtigsten Zentralbanken in den USA, Europa und Asien verkündeten einhellig, dass sie alles Notwendige unternehmen würden, um eine Krise wie 2008 zu vermeiden.
Das Pulver verschossen
Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Das globale Finanzsystem ist seit 2008 klinisch tot und wird nur durch die ständige Injektion immer neuen Geldes künstlich am Leben erhalten. Doch die für die lebenserhaltenden Massnahmen zuständigen Zentralbanken sind heute in einer wesentlich schlechteren Lage als 2008: Von ihren beiden wichtigsten Optionen – der Senkung des Leitzinses und dem Drucken von Geld – ist die erste so gut wie ausgereizt: Der Leitzins liegt fast überall entweder nahe Null, bei Null oder bereits im negativen Bereich. Insbesondere die US-Notenbank Federal Reserve steht mittlerweile mit dem Rücken zur Wand: Eine Zinssenkung unter Null würde die Rolle des US-Dollars als weltweite Reservewährung beenden und damit die wichtigste Stütze der US-Finanzmacht beseitigen.
Gefährliche Erhöhung der Geldmenge
Es bleibt den Zentralbanken nur noch die zweite Option: weiterhin elektronisches Geld schaffen. Doch die Mengen, die zur Stützung des Systems nötig sind, werden immer grösser und führen – wie die historische Erfahrung zeigt – irgendwann in eine Hyperinflation. Dass diese bisher noch nicht eingetreten ist, liegt daran, dass die Weltwirtschaft seit 2008 stagniert und der grösste Teil des bisher gedruckten Geldes in den Finanzsektor (also die Spekulation, vor allem im Bereich der Derivate) geflossen ist und dort riesige Blasen erzeugt.
Da mit Investitionen in die Realwirtschaft weiterhin wenig Gewinne zu machen sind, wird weltweit in erster Linie in den Finanzsektor investiert. Da klassische Anlagen bei den Banken wegen der Null- und Minuszinsen nicht mehr sinnvoll sind, sehen sich selbst bisher vorsichtige Anleger wie die Pensionskassen gezwungen, sich am internationalen Spekulationscasino zu beteiligen und immer grössere Risiken einzugehen. Privatleute, die für ihr Geld ebenfalls so gut wie keine Zinsen mehr erhalten, investieren ihr Geld zunehmend in einen bereits vollständig überhitzten Immobilienmarkt.
Kettenkarussell dreht immer schneller
Das Geschehen ähnelt einem Kettenkarussell, das sich immer schneller dreht. Politik und Wirtschaft verhalten sich wie der Betreiber, der seinen Fahrgästen zuruft, es sei alles in Ordnung. Der unabhängige Beobachter aber weiss, dass sich die Gesetze der Fliehkraft irgendwann durchsetzen und die Fahrt ausser Kontrolle gerät. Die Frage ist nur: Wie viele Umdrehungen hält das Karussell noch aus, bevor die Ketten der Sitze aus der Verankerung fliegen? Übersetzt in die Sprache des Finanzsystems: Welche Mengen an Geld können noch gedruckt werden, bevor es zur Hyperinflation – also zur vollständigen Geldentwertung – kommt? Die Antwort kann niemand genau geben.
Wie lange kann sich die Finanzindustrie den Parlamentarismus noch leisten?
Die Diktatur der Finanzindustrie wird den Lebensstandard der lohnabhängigen Menschen in den meisten Ländern weiter senken und deshalb immer schärfere soziale Auseinandersetzungen auslösen. Falls sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in demokratischen Abstimmungen trotz aller Manipulationsversuche seitens des grossen Geldes häufiger gegen dessen Institutionen stellen, lautet die Frage: Wie lange wird die Finanzindustrie noch auf das System der parlamentarischen Demokratie setzen?
Präzedenzfall Griechenland
Am Beispiel Griechenlands hat die EU im Verbund mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits gezeigt, dass sie im Ernstfall bereit ist, demokratischen Mechanismen eine Abfuhr zu erteilen und auf die Diktatur einer nicht gewählten Institution (der Troika) zu setzen. Die nach dem Brexit-Votum erfolgte Erklärung der EU-Kommission, dass das europäisch-kanadische Handelsabkommen CETA ohne Zustimmungen der nationalen Parlamente beschlossen werden soll, ist ein weiteres Zeichen in diese Richtung.
Warnung an Spanien
Dass die EU-Kommission mit Schottland über ein mögliches Separatabkommen bereits Gespräche führte und die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon in Brüssel empfing, ist als Warnung gedacht: Die Gespräche untergraben nicht nur die staatliche Souveränität Grossbritanniens (als dessen Teil Schottland abgestimmt hat), sondern sollen Spanien klar machen, dass eine dortige Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft die Unabhängigkeits-Bestrebungen Kataloniens beflügeln könnte.
Juncker: Kein Hauch von Selbstkritik
Die EU-Führung hat in den vergangenen Tagen weder Respekt vor der Entscheidung der britischen Bevölkerung noch einen Hauch von Selbstkritik erkennen lassen. Im Gegenteil: Die höhnische Art, mit der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – als Finanzminister von Luxemburg verhalf er Konzernen zu Steuergeschenken von Hunderten von Milliarden Euro – die Umgehung der Parlamente im Falle des CETA-Abkommens mit Kanada angekündigt hat, zeigt, dass die EU von demokratischen Mechanismen weiterhin wenig hält, wenn sie die Interessen der Finanzindustrie und der Konzerne gefährden könnten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches «Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs», erschienen im Tectum-Verlag, Marburg, 26.90 CHF, sowie des Buches «Kapitalfehler – Wie unser Wohlstand vernichtet wird und warum wir ein neues Wirtschaftsdenken brauchen», Eichborn-Verlag 2016, 29.90 CHF.
Die Geschichte wiederholt sich!
Auch wenn Herr Wolff etwas holzschnittartig argumentiert, hat er mit der Feigenblattfunktion solcher Abstimmungen leider nicht unrecht. Noch bemerkenswert ist, dass Labourführer Corbyn vor der Abstimmung argumentierte, dass 30% der rationalen (linken) Argumente für den Brexit sprächen, was für mindestens 30% der eigenen Wählerinnen und Wähler eine Japarole war, zu schweigen davon, dass die Stimmen in Schottland nicht ein Bekenntnis zu Brüssel sind, sondern eine Absage an Cameron. Es bleibt aber auch dabei, dass man selbst als Befürworter der direkten Demokratie Volksabstimmungen nicht überschätzen darf, vor allem wenn sie sich gegen das Establishment richten. Und natürlich sind die Argumente der jeweiligen Mehrheit durchaus gemischt, unfair wäre es, Fremdenfeindlichkeit als Hauptargument zu gewichten. Mit Recht vermerkte Bodenmann, dass die Briten u.a. Merkel abgewählt hätten.Am gewichtigsten bleiben aber wohl die sozialen Hintergründe, was den Beitrag von Herrn Wolff über dem Strich als wohlbesonnen auszeichnet.
Eher als über einen noch längst nicht vollzogenen Entscheid der Briten sollte man sich derzeit über Österreich Sorgen machen. Dass die Wahl des Bundespräsidenten wiederholt werden muss, hätte ich für ein zivilisiertes westeuropäisches Land nicht für möglich gehalten.
So berechtigt die Kritik von Herrm Wolf in vielen Punkten ist, so weit schiesst er andererseits über das Ziel hinaus wenn er implizit die EU auf eine Verschwörung der Finanzindustrie gegen die normalen Bürger reduziert. Nicht umsonst haben etwa die britischen Wissenschaftler in ihrer grossen Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Die Forschungsprogramme und -kredite des europäischen Forschungsrates zusammen mit der Personenfreizügigkeit haben einen voher in diesem Ausmass nicht gekannten wissenschaftlichen Austausch zwischen den Ländern der Union ermöglicht. Sie bieten ausserdem Wissenschaftlern in Ländern mit sehr kümmerlichen Forschungsbudgets (z.B. Spanien, Italien, Griechenland, Estland, Polen) die oft einzige Möglichkeit, wichtige Projekte auch an ihrer Heimatinstitutionen zu finanzieren. Die jetzt so unter Beschuss geratene Personenfreizügigkeit hat immerhin auch ermöglicht, dass Tausende arbeitslose Südeuropäer ohne bürokratische Hemmnisse in Nordeuropa adäquate Arbeitsmöglichkeiten gefunden haben.
Komisch, dass so Viele Deutsche jetzt schon wissen wollen, dass das englische Manöver misslungen sei. Auch wenn es doch nur ein plumper Versuch ist, von der eigenen Unfähigkeit des politischen Deutschland abzulenken, mit dem Problem fertig zu werden, weil die ganze Idee vom offenen Markt, zugunsten der deutschen Industrie vor Allem, damit und dadurch in höchste Gefahr gerät.
Aber macht nur so weiter, Ihr schafft Euch damit mit Sicherheit keine Freunde.