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Umweltaktivist Daniel Moutet kämpft seit Jahrzehnten gegen die Vergiftung bei Marseille. © RadioFrance

Aufstand gegen gute, aber ungesunde Arbeitsplätze

Marie-Louise Zimmermann /  Gewissenlose Industrien hielten Arbeiterfamilien mit Geld und Sponsoring ruhig. Doch jetzt kämpfen diese organisiert vor Gericht.

Die Raffinerien, Stahlwerke und petrochemischen Fabriken haben ihre Belegschaft gut entlöhnt sowie Sportvereine und Kinderkrippen gesponsert. Deshalb nahm die Bevölkerung im südfranzösischen Fos-sur-Mer westlich von Marseille die Umweltverschmutzung viele Jahre lang in Kauf. Die Konzerne vergiften die Luft seit langem so stark, dass die Arbeiterfamilien einem stark erhöhten Risiko ausgesetzt sind, an Lungen- und Krebsleiden zu erkranken.
Jetzt haben sich die Arbeiterschaft und die Bevölkerung dieses Industriegebiets organisiert und gegen die Konzerne Straf- und Zivilklagen eingereicht. Unter den Angeklagten befinden sich ArcelorMittal und eine Esso-Raffinerie, die zu Exxon Mobil gehört. Das berichtet die «New York Times» unter dem Titel «Sie riskieren ihre Existenz, um frischere Luft atmen zu können».

Eine der am stärksten vergifteten Regionen Europas

Die sonnenverwöhnte Region von Fos-sur-Mer, an einer Lagune westlich von Marseille gelegen, ist eine der meist vergifteten Gegenden Europas. Gegen ein Fünftel der französischen Schwerindustrie konzentriert sich hier, welche die EU als hochriskant für die Umwelt bezeichnet. Bis zum Horizont stossen Reihen riesiger Kamine unablässig Rauch aus. Als Folge erkranken hier mehr Menschen an Asthma als im landesweiten Durchschnitt und doppelt so viele an Krebs. Die Wartezimmer der Ärzte sind voll, und auf den Friedhöfen erinnern viele Grabsteine an jung Verstorbene.
Die Bevölkerung hat dies jahrzehntelang akzeptiert und geschwiegen, weil die fast zweihundert Fabriken, Lagerhallen und Gasterminals gute und sichere Arbeitsplätze boten. Zudem köderten die Umweltverschmutzer die Bevölkerung mit zahlreichen finanziellen Unterstützungen. Auf den Basketball-Club «Fos Provence», der in der obersten französischen Liga spielt, ist man besonders stolz. Er wird von zahlreichen lokal tätigen Industrien wie Esso oder Ascometal gesponsert.

Aufkommender Widerstand
Die Kritik von Umweltschützern ist lange Zeit auf kein grosses Echo gestossen. Einige wandten sich immer wieder erfolglos mit ihren Umweltsorgen an die zuständigen Behörden. «Die haben gar nichts getan», sagt Daniel Moutet, der sich seit bald zwanzig Jahren gegen die Luftverschmutzung durch die Industrie einsetzt. Moutet erzählt, dass er lange verspottet wurde, wenn er mit seiner Kamera Umweltsünden dokumentierte. «Wichtiger waren die von der Industrie ermöglichte Arbeitssicherheit, der relative Wohlstand, die komfortablen Wohnsiedlungen, die Kinderkrippen, das neue Stadion. Der Chemiegestank in der Arbeitskleidung liess sich wegwaschen.»

Doch in jüngster Zeit, seit die gravierenden Erkrankungen nicht mehr zu übersehen waren, organisierte sich der Widerstand – trotz der Angst vor Stellenverlust. Moutet und seine Mitstreiter konnten mit Julie Andreu eine Anwältin in Marseille engagieren, die auf Umweltprobleme spezialisiert ist. Sie stellte fest, dass die Industrie seit Jahrzehnten Umweltvorschriften systematisch missachtete und damit bei den Behörden unbehelligt durchkam.
Im Namen von 260 Bürgerinnen und Bürgern, sieben NGOs und mehreren Gewerkschaften von Fos-sur-Mer klagte die Anwältin die Stahl-, Petrochemie- und Erdölindustrie ein. Sie gefährde das Leben der Arbeiter und Einwohner. Die Klage ist in Frankreich eine Premiere. «Auch dass sich die Gewerkschaften in der Region Fos-sur-Mer mit den Umweltanliegen der Bevölkerung solidarisieren, ist hierzulande ganz ungewöhnlich», meint Christelle Gramaglia, Soziologin beim französischen Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt.

Häufung schwerer Krankheiten
Sylvie Anane, eine der Klägerinnen, die in unmittelbarer Nähe der Industriekamine wohnt, ist seit Jahren schwer krank: 2001 wurde ihr wegen Herzproblemen ein Stent eingesetzt, was weitere Herzanfälle 2010 und 2018 nicht verhinderte; 2002 befiel Krebs ihre Eierstöcke, 2008 ihre Schilddrüse, 2015 ihre Brüste; und seit 2003 ist sie Diabetikerin. «Lange sprach hier niemand von Umweltverschmutzung», sagt sie. «Die Gefährdung von Arbeitsplätzen war tabu.»
Angeklagt wird vor allem die Schwerindustrie, die in der Region von Marseille einen Fünftel der Feinstoffbelastung und einen Viertel der Schwermetallemissionen in ganz Frankreich verursacht. Jetzt hinterfragen Bürgerinnen und Bürger die lange staatliche Tradition, möglichst viel Schwerindustrie in einem kleinen Gebiet zu konzentrieren, ungeachtet der menschlichen Kosten.

Aber auch der Staat steht im Visier. Mehr als anderswo gilt in Frankreich der Staat als oberster Beschützer der Bevölkerung. Nun wird ihm vorgeworfen, diese ungenügend vor den Folgen der Umweltverschmutzung zu bewahren und mit der mangelnden Kontrolle der Industrie die Gesundheit der Bevölkerung einer ganzen Region zu gefährden.

Als Beispiel dafür erwähnt die Anklageschrift einen Zwischenfall im Mai 2010, als der Präfekt als oberster Vertreter der Zentralregierung zahlreiche «unkontrollierte atmosphärische Emissionen» der Stahlfabrik ArcelorMittal feststellten. Der Konzern habe die Bevölkerung weder vor- noch nachher gewarnt. ArcelorMittal wollte dazu gegenüber der New York Times nicht Stellung nehmen.
Mitausgelöst wurde die Gerichtsklage durch eine Studie von 2017, die nachwies, dass nicht nur die Mitarbeitenden der betreffenden Fabrik gesundheitlich gefährdet waren. Eine Mitverantwortliche der Untersuchung, die US-Soziologin Barbara Allen, sagt dazu: «Überraschenderweise war die Gesamtbevölkerung ebenso schwer betroffen wie die Fabrikangestellten.»

Langes Warten auf den Eintretensentscheid
Die Gerichtsklage auf Lebensgefährdung wurde bereits vor 16 Monaten eingereicht. Die Mühlen der Justiz mahlen in Frankreich langsam. Bei solchen Klagen von Bürgerseite muss die Staatsanwaltschaft über das Eintreten entscheiden. Es wird erwartet, dass der Entscheid bald fällt, ob die Staatsanwaltschaft auf die Klage eintritt und die Anschuldigungen gründlich untersucht. Anwältin Julie Andreu hofft, das Gericht werde die beschuldigte Industrie zwingen, die Luftreinhaltungsbestimmungen einzuhalten. Eine Gefängnisstrafe für die Beklagten ist in Frankreich unwahrscheinlich.

Exxon Mobil beteuert, die Esso-Raffinerie sei sich ihrer Umweltverantwortung bewusst. Und der Stahlgigant ArcelorMittal verweist auf seine Investitionen von mehreren Zehnmillionen Euros für eine verminderte Luftbelastung. Umweltorganisationen bestätigen das, aber halten es für ungenügend. Eine Industriezone könnte zwar nie eine Luft haben wie ein Waldgebiet. Aber moderne Filteranlagen könnten sie entscheidend verbessern. Die Menschen von Fos-sur-Mer hoffen, das Gericht werde die Industrie ihrer Region zu den nötigen Investitionen zwingen. Sie wissen aber auch, dass sie womöglich jahrelang auf einen Erfolg warten müssen.

Fos-sur-Mer westlich von Marseille
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Infosperber-DOSSIER:
Gifte und Schadstoffe in der Umwelt
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