Ohne Jianbing läuft in Peking gar nichts

Peter G. Achten /  Pekinger Pfannkuchen oder Crêpes Pékinoises sind nur schwache Umschreibungen für das ultimative Pekinger Frühstück Jianbing.

Jeden Morgen zwischen sieben und neun strömen von der Metro-Station Yonganli im Zentrum Pekings Tausende zur Arbeit. Bereits zwischen fünf und halb sieben Uhr morgens ist das Ehepaar Wang aus der Provinz Shandong mit dem Dreirad angefahren, um unweit der Untergrundbahnstation für den kommenden Massenansturm bereit fürs Geschäft zu sein. Das Geschäft: Zubereitung und Verkauf von Jianbing. Dafür entlädt Wang Cubian zunächst eine auf Holzstelzen befestigte Eisenplatte und eine Gasflasche. «Vor fünf Jahren haben wir die Platte noch mit Kohle befeuert», sagt Wang, «doch das ist jetzt in der Stadt wegen Umweltverschmutzung verboten.»
Während Wang die Platte betriebsbereit macht, lädt seine Frau all die Zutaten aus, die für ein leckeres Jianbing benötigt werden: flüssiger Teig aus verschiedenen Sorten Mehl, Eier, Salat, Koriander, Lauchzwiebeln, feingehackte Karotten, geröstete Erdnüsse, Chili, Schalotten, Senf-Pickles, geschnetzeltes Schweine- und Hühnerfleisch, Würstchen, kleine Süsskartoffeln und vor allem zweierlei Saucen – die pfefferscharfe Lajiao und die weniger feurige Variante. Die Saucen, sagt Frau Wang, habe schon ihre Urgrossmutter so hergestellt. Auf die Frage, ob sie das Rezept für die von Ihrem Korrespondenten bevorzugte feurig-scharfe Lajiao-Sauce verraten könne, lacht Sie nur verschmitzt und sagt: «Geheimnis, Staatsgeheimnis!»
«Gut und reichlich»
Die Zubereitung von Jianbing ist in der Tat eine Kunst. Das fängt beim Mehl für den flüssigen Teig an. Ja nach Region wird es verschieden gemischt. Weizen, Hirse, Sorghum, Bohnen, Mais und Soja – das alles ist in unterschiedlichen Mischungen enthalten. Auch die Sauce und die Füllung sind je nach Region verschieden. Doch Peking gilt als das Jianbing-Zentrum. Das Gericht wird à la minute zubereitet, sozusagen. Der Hungrige kann dann Füllung und Sauce auswählen.
Herr Wang gibt etwas flüssigen Teig auf die heisse Platte und bereitet in aller Seelenruhe mit einem hölzernen Spachtel den Pfannkuchen vor. Mit einem Pinsel bestreicht er die fertige Crêpe mit Sauce, dann werden die gewünschten Zutaten darauf verteilt. Ihr Korrespondent wählt die scharfe Lajiao-Sauce, als Füllung grünen Salat, Koriander, Karotten, Zwiebeln und ein Würstchen. Der Jianbing wird zweimal gefaltet. Und fertig. Er schmeckt köstlich. Mein Grossvater hätte – als höchstes kulinarisches Lob – gesagt: «gut und reichlich». So reichlich in der Tat, dass der Hunger Ihres Korrespondenten bis zum Abend gestillt ist. Das ganze kostet auf Pekings Strassen derzeit fünf Yuan, umgerechnet etwa 75 Rappen.
Aus der Not entstanden
Jianbing zuzubereiten, tönt einfach. Doch das täuscht. Wang Cubian ging bei seinem Vater in die Lehre. «Es braucht Fingerspitzengefühl, eine gewisse Technik», sagt Wang, «und vor allem einen wachen Sinn für gutes Essen». Die Mischung des Mehls ist wichtig und natürlich die Zutaten. Wangs Vater wusste, wovon er sprach, denn er erlebte als junger Mann die grosse Hungersnot während Mao Dsedongs «Grossem Sprung nach vorn» (1958-61). Damals starben je nach Schätzung 30 bis 45 Millionen Chinesinnen und Chinesen an Hunger. «Mein Vater hat oft von jenen schlimmen, kargen Zeiten gesprochen», sagt Wang, «sie assen Gras und Baumrinde». Umso glücklicher sei er heute, dass sich in China alle satt essen können.
Jianbing ist keine Erfindung der neuen, opulenten Zeiten. Bereits zur Zeit der drei Königreiche im 3. Jahrhundert wurden in der Provinz Shandong Jianbing gegessen. Zhuge Liang, Kanzler und General der Provinz, soll aus der Not eine Tugend gemacht haben. Der Legende nach sollen die Armeeköche ihre Woks verloren haben. Der Kanzler-General befahl, die Kupferschilde seiner Soldaten über dem Feuer zu erhitzen, um darauf aus einem flüssigen Teig aus Mehl und Wasser Fladen zu braten. Der Rest ist Geschichte. Von Generation zu Generation verbreitete sich Jianbing zunächst in Shandong und danach in ganz Nordchina.
Dampfbrötchen und frittierte Teigstangen
Mittlerweile ist es halb neun geworden. Die Garküchen bei der Yonganli-Metrostation haben Hochbetrieb. Vor Wangs heisser Platte bildet sich eine Schlange. Geduldig warten Hungrige, bis sie an der Reihe sind. Sie werfen fünf Yan in einen kleinen Plastikkübel. Das Warten lohnt sich. Heiss, frisch, knusprig, pikant soll das Frühstück sein. Doch auch für die Eiligen gibt es, ohne Warteschlange, gleich am nächsten Stand ein Frühstück. Baozi, mit Gemüse und/oder Schweinefleisch gefüllte Dampfbrötchen. Im Unterschied zu den Jainbing werden die Baozi vorbereitet und dann warm gehalten.
Von den verschiedenen regionalen Jianbing-Varianten ist vor allem jene aus der unweit Peking gelegenen Hafenstadt Tianjin zu erwähnen. Das verwendete Mehl hat einen hohen Anteil von grobkörnigen schwarzen Bohnen. Vor allem aber werden die in ganz Nordchina beliebten Youtai – frittierte Teigstangen – als nahrhafte Füllung zugegeben. Das Frühstücksgericht heisst dann in Tianjin Jianbing Guozi. Ob aber in Peking, Tianjin oder anderswo, überall heisst es, dass nirgendwo so gute Jianbing zubereitet werden, wie eben gerade hier. Das heisst es übrigens auch landesweit von den Jiaozi (chinesische Ravioli). Doch darüber wurde in dieser Kolumne auch schon schwärmerisch berichtet.
Zu schwärmerisch? Vielleicht. Denn ein kluger Leser und eine charmante Leserin fragten Ihren Korrespondenten neulich in leicht genervtem Ton, ob denn diese Kolumne «langsam aber sicher zur Fress-Kolumne» verkomme. Gemach, gemach! Erstens: Wenn schon, dann wäre es eine «Ess-Kolumne». Zweitens: Ja, in dieser Kolumne war kürzlich schon einmal vom Essen die Rede, nämlich von der vietnamesischen Nudelsuppe Pho. Allerdings handelten in den letzten zwei Jahren und 100 Kolumnen nur gerade sechs Texte vom Essen und Trinken. Mit dem Thema Wirtschaft befassten sich im gleichen Zeitraum jedoch 28 Kolumnen. Im übrigen: Ich würde liebend gerne eine regelmässige Ess-Kolumne verfassen, im Notfall halt auch eine Fress-Kolumne…


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

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