Kauf&Nutzung – Nur mit Bedarfsnachweis
Ende Oktober 2014
Liebe Zürcher Kantonsrätinnen und -räte
Ich möchte Ihnen endlich einmal danken. Es wird ja so viel über Sie gewettert&gelästert. An Stammtischen, in den Medien, in diesen neumodischen Boxspring- und anderen Betten. Alles machen Sie falsch. Und zu spät. Und das erst noch aus Eigennutz&Eitelkeit. Alle wissen es immer besser. Schon bevor Sie überhaupt darüber nachzudenken geschweige denn zu reden und zu handeln begonnen haben.
Dabei müssen wir froh sein, dass Sie das noch machen, wo doch jeder Wasserträger an der Tour de France mehr verdient als Sie. Wer will da noch PolitikerIn werden? GemeindepräsidentIn? SchulvorsteherIn? Oder gar Sozialbehördemitglied? Gewisse Gemeinden wissen sich ja nur noch mit Fusionsaktionen zu helfen. Damit sie wenigstens gleich viele KandidatInnen wie Pöstli haben. Zehn für einen oder eine. Sozusagen.
Wo sind all die Autofreien?
Eigentlich habe ich Ihnen schon lange schreiben wollen, aber Sie wissen ja wie das mit diesen Vorsätzen ist. Vor allem mit den guten. Aber jetzt haben Sie beziehungsweise 87 von Ihnen mir am Montag, 27. Oktober 2014, noch den letzten Stupf gegeben. (Die anderen 84 dürfen das ruhig auch lesen.) Sie haben mir so eine Freude gemacht. Obwohl ich keine&keinen von Ihnen gewählt habe. Wissen Sie, ich bin ja – nein, das können Sie nicht wissen, weil’s fast ein Geheimclub gewesen ist, dieser Club der Autofreien, bei dem ich Mitglied war, bis er in diesem Frühling unter die Fittiche des Verkehrsclubs der Schweiz gekrochen ist, bei dem ich auch schon seit gefühlten hundert Jahren Beiträge bezahle. Zwei für einen. Dabei gibt es gemäss VCS «rund eine Million Menschen ohne eigenes Auto» in der Schweiz. Nur sehe ich die fast so selten wie den Eisvogel am Greifensee. Wahrscheinlich haben sie da jeden Säugling mitgezählt.
Wenn ich Champagner trinken würde, hätte ich am Montagabend eine Flasche aufgemacht und mit mir angestossen. Auf Sie. Weil Sie an mich gedacht und entschieden haben – Auto nur noch für jene, die «zwingend darauf angewiesen» sind (Tages-Anzeiger, 28.10.2014). Ich stelle mir schon die konsternierten Gesichter meiner NachbarInnen vor – die in unserer Tiefgarage mit spöttischem Lächeln an unserem mit Velos besetzten Parkfeld vorbei zu ihren Flitzern&Familienkarossen stürmen –, wenn sie demnächst aufgefordert werden, den «Bedarfsnachweis für Kauf&Nutzung eines Persönlichen Kraftfahrzeugs» auszufüllen.
Vom unbegrenzten Konsum zum Bedarfsnachweis
Ich muss es zugeben, ich hätte Ihnen so einen visionären Entscheid gar nicht zugetraut. Diesen radikalen Bruch mit dem Wachstumswahn, der den grenzenlosen Konsum zur volkswirtschaftlichen BürgerInnenpflicht macht. Wie Sie da mit einer simplen Gesetzesänderung die Wirtschaft vom Kopf auf die Füsse stellen! KonsumentInnen – denen die Werbung diese Blechschlitten für eine bessere Welt bisher geradezu aufgedrängt hat – müssen künftig zuerst den Nachweis erbringen, dass sie «zwingend» so ein Gefährt brauchen, bevor sie eines kaufen&fahren dürfen.
Wenn Sie in vier Wochen Ihren Entscheid nicht nur bestätigen, sondern das Prinzip «Bedarfsnachweis vor Kauf&Nutzung» auf sämtliche materiellen Produkte, Grundnahrungsmittel ausgenommen, ausdehnen, müssen wir uns um eine nachhaltige Gegenwart&Zukunft keine Sorgen mehr machen.
Das mit dem Auto gilt nur für SozialhilfeempfängerInnen?! – Sind wir ganz normalen SteuerzahlerInnen Ihnen gar nichts mehr wert? Nicht einmal eine kleine Utopie?
Jetzt doch etwas irritiert.
Ihr Jürgmeier
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Haha. Ich habe mich sehr gewundert, dass ein Kantonsrat so was beschlossen haben soll.
Ja, so ein Gesetz für alle würde echt Bewegung bringen!
Offenbar bleibt auch bei InfoSperber bei vielen aktuelle, ach so wichtigen Themen nur noch das Stilmittel der Ironie übrig…
Ironie? Haha, gut gelungen!
Tatsächlich sollte der «Bedarfsnachweis vor Kauf&Nutzung auf sämtliche materiellen Produkte» (Jürgmeier) generell eingeführt werden, INSOFERN DIESE VON ANDEREN, nämlich den Steuerzahlern, BEZAHLT WERDEN (müssen).
Ich mein’s auch ironisch, nicht wahr?