Glosse
Die Gratiskultur – und was sie uns kostet
Waren Sie in den Ferien? Haben Sie Ansichtskarten verschickt? Dann sind Sie von gestern. Denn Karten und Briefmarken muss man kaufen. Preisbewusste hingegen zücken heute das Smartphone, knipsen selber und verschicken ihre Fotos samt Grüssen elektronisch vom Hotelzimmer aus. Gleichzeitig können sie dort die digitalen Feriengrüsse der lieben Nachbarn empfangen. Dank WLAN ist das alles gratis. Denn Hotels, die Internetnutzung nicht unentgeltlich anbieten, (nachdem sie schon ihre Zimmertelefone mit Verlust abschreiben mussten), «sind nicht mehr zeitgemäss»; das predigen Konsumschützerinnen und Touristiker im Einklang.
Die Gratiskultur hat nach Medien und Musik nun also auch den Fremdenverkehr erobert. «Der Gast erwartet heute», so heisst es jeweils, dass möglichst alles gratis wird: vom WLAN bis zum Wohlfühlbad, vom Ortsbus über die Bergbahnen bis zum Bike-Verleih inklusive Wäscheservice. Wer im Gratiswettlauf nicht mithält, wird abgehängt. Oder muss zusehen, wie Gäste ins Ausland abwandern. Im deutschen Bad Hindelang zum Beispiel bietet die «Plus-Karte» nicht weniger als «20 Gratisleistungen» an. Übertrumpft wird sie von der «Neusiedler Seekarte» in Österreich mit «46 Gratisleistungen».
Konsumenten produzieren gratis mit
Aber auch umgekehrt breitet sich die Unkultur aus: Während Produzenten – mehr oder weniger freiwillig – den Gratiskonsum fördern, helfen immer mehr Konsumenten gratis beim Produzieren mit. Begonnen hat es im Warenhandel: Wer bei Ikea Möbel kauft, muss die Bretter selber zusammen schustern. Das ersetzt Schreiner und wandelt Wohnräume um zu Bastelstuben mit stümperhaft montierter Einrichtung. Die Strafe folgt, wenn der Lehnstuhl zusammen kracht, auf dem der Konsument nach getanem Heimwerk «20 Minuten» liest.
Besonders ausgeprägt ist der Rollentausch in der Medienbranche: Die einen bieten ihre dürftigen Inhalte unentgeltlich an. Andere ersetzen bezahlte Angestellte mit gratis mitarbeitenden Hörern und Leserinnen. «Schicken Sie uns Ihre schönsten Ferienfotos», fordern etwa Redaktionen und füllen mit den eingesandten Knipsereien ihre Seiten, dieweil professionelle Fotografen stempeln. «Lütet Si a», bitten Moderatorinnen des Staatsradios, wenn ihnen nichts mehr einfällt. Oder sie laden zum «Talk nach Mitternacht». Zur Strafe müssen dann Gebührenzahler, die den Abstellknopf nicht finden, minutenlang anhören, was Hinz gestern Schönes erlebt hat und Kunz zu diesem und jenem meint.
Trotz Gratiskultur wächst die Geldwirtschaft weiter
Die Kosten, welche Möbel- und Informationsanbieter dank gratis mitproduzierenden Konsumentinnen sparen, fliessen an anderer Stelle wieder in die Volkswirtschaft zurück. Zum Beispiel zu Chirurgen, die verunglückte Heimwerker reparieren. Oder zu Psychologinnen, die unter geistigem Entzug leidende Radiohörerinnen und Zeitungsleser trösten. Oder zu Bildungsinstituten, die arbeitslose Schreiner und Medienschaffende umschulen.
Trotz Gratiskultur kann die Geldwirtschaft weiter wachsen. Denn Ärztinnen, Psychologen und Lehrerinnen kassieren für ihre Leistungen in der Regel mehr als weggesparte Schreiner oder Fotografinnen.
Letztlich sind die Gratisdienste der Konsumenten ebenso wenig gratis wie jene der Produzenten im eingangs erwähnten Fremdenverkehr. Denn die Kosten bezahlen alle, sei es über den Hotelpreis, die staatliche Tourismusförderung oder andere Subventionen. Unter dem Strich kommen diejenigen zur Kasse, die Gratisangebote verschmähen. Zum Beispiel Leute, welche die Berge auf Schusters Rappen erklimmen, im See baden und stromfressende Wellness-Pools meiden. Oder altmodische Handy-Verweigerer, die Ansichtskarten schreiben. Auf der Strecke bleibt damit das viel gepriesene Verursacherprinzip.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Hach ja, früher war alles besser – und aus Holz (nicht von IKEA). Damals durften ja auch die Herren Guggenbühl und Co. auf dem hohen Gatekeeper-Ross sitzen und bestimmen, dass Hinz und Kunz gefälligst zu schweigen haben. Lesen Sie den Merkur? Dann dürfte Ihnen «Standardsituationen der Technologiekritik» von Kathrin Passig ein Begriff sein. Ansonsten, selber googlen macht schlau …
Der Literaturhinweis ist durchaus sehr interessant, nur bezieht sich sowohl dieser als auch die Kritik am Artikel meiner Meinung nach nicht auf das Hauptanliegen des Autors. Herr Guggenbühl kritisiert nicht die Technologieinnovationen an sich, sondern eher die Verschleierung der tatsächlichen Kosten der oftmals damit einhergehende «Gratiskultur". Es ist kein Geheimnis, dass Geschenke oder Gratisdienstleistungen von Organisationen an irgendeinem Ort Kosten verursachen und diese auf irgendjemanden abgewälzt werden müssen, ob das nun der Kunde ist oder die Allgemeinheit. Evtl. dürfte Ihnen das Sprichwort «there is no such thing as a free lunch» bekannt sein. Wenn nicht dann können Sie sich selber schlau machen, indem Sie Stichworte wie «No-Free-Lunch-Theorme", «Arbitragefreiheit» oder einfach das Sprichwort selbst bei Google eingeben…
Selbstverständlich ist mir TANSTAAFL ein Begriff, » The Moon Is a Harsh Mistress» gehört ja zum Kanon einschlägiger Science-Fiction-Literatur. Aber gerade die Geisselung der Gratiskultur ist eben ein Standardmotiv der Technologiekritik, das sehr gerne von «weissen alten Männern» verwendet wird, denen die Privilegien abhanden gekommen sind und die im Gegensatz zu den Heizern bei der englischen Eisenbahn nicht unter Artenschutz stehen. Der Autor nennt ja entsprechend auch «umzuschulende Medienschaffende» und «weggesparte Fotografinnen", wobei er jeweils noch die Berufsgruppe der Schreiner als Nebelkerze hinzufügt, um seine Motive dürftig zu verschleiern.
Natürlich gibt es nirgends einen free lunch, aber Opportunitätskosten sind eben per definitionem «vorhandene Möglichkeiten (Opportunitäten) zur Nutzung von Ressourcen [die] nicht wahrgenommen werden» (Wikipedia). Die im Beitrag erwähnten Medien und Musik – also die dahinterstehende Industrie, zu der eben auch der Autor gehört – sind geradezu meisterhaft in der Nicht-Wahrnehmung von (neuen) Möglichkeiten. Statt sich zu bewegen, setzen sie lieber auf einen staatlichen Artenschutz wie die erwähnten Heizer und benehmen sich dabei wie die Kerzenmacher aus Bastiats Satire.
Kurz, die Kritik an einer Gratiskultur ist in den meisten Fällen eine Trope, die einzig der Verschleierung handfester Eigeninteressen dient. Hier und anderswo.
Lieber Herr Guggenbühl,
da hat doch einer gratis auf YouTube einen brennenden Tesla gepostet.Alle mit Internetzugang konnten absolut gratis den Tesla abrennen sehen.Folgen davon: Die armen kleinen Börsenspeckis wurden subito um 7 Milliarden Taler ärmer.So eine Sauerei.Machen wir doch eine Volchsinitiative,wonach Gratisgucker,die Finanzhaie in solchen Fällen entschädigen müssen.Die nötigen Daten über die bösen Schnäppchenjäger,kriegen wir vom Yankeegeheimdienst.Für eine gute Sache ist der immer zu haben.
Das WLAN-im-Hotel-Beispiel ist tatsächlich recht ungünstig gewählt. Hier geht es nämlich nicht bloss um die Kosten, sondern vor allem auch um Ergonomie. Bei meinen letzten 3 Hotelübernachtungen habe ich den TV nicht mal angefasst, musste aber jeweils dem WLAN nachrennen, mitten in der Nacht nach Codes fragen gehen oder gar Münzen abliefern. Das ist simple Ignoranz der Hotelbetreiber, was für einen heutigen (Business-)Gast zur Service-Leistung gehört. Das haben sogar die tüchtigen Zimmer-Anbieter auf airbnb.ch besser begriffen. (Das wäre mal eine Geschichte für Infosperber: Wie die airbnb.ch-Mitmachenden die Hotellerie zerstören, weil sie einfach besser sind.)
Ich bin kein Freund der Spar- und Gratiskultur. Andererseits ist es auch etwas zu einfach, gleich zu jammern, wenn jemand das Geschäftsmodell umkehrt. Natürlich kann sich der Quartierladen nicht leisten, ein Geschäftsmodell à la Nespresso aufzubauen, bei dem man die Kaffeemaschine im Nachhinein mit überteuerten Kapseln bezahlt. Andererseits sind es genau die standardisierten und damit oft abwechslungs- und charakterlosen Marktangebote, die Nischen für ganz kleine Anbieter aufmachen. Die Bier-Konzerne haben wunderschön vorgemacht, wie man so lange standardisiert, Beizen unter Druck setzt, Preise diktiert, etc., bis die Alternativ-Marken reihenweise aus dem Boden schiessen. Die Musikindustrie fährt gerade auf dem gleichen Zug. Die Medienindustrie als Ganzes wohl auch. Nun sind halt die Hotels dran. Ich gönne es den kleinen Familienbetrieben, die dem Besucher ein befristetes «Zuhause» bieten, ihm seinen Aufenthalt bequem machen, indem sie ihm WLAN-, einen (Gratis-)Parkplatz vor der Tür etc. anbieten.