Dem durstigen Drachen geht das Wasser aus
Schon Mitte der 1980er-Jahre klagten die verantwortlichen Parteikader in der nördlichen, staubtrockenen Metropole Peking, dass der Grundwasserspiegel rapid sinke. Für die damals knapp 10 Millionen Einwohner werde es bald nicht mehr genügend Trinkwasser geben, wenn das Entwicklungstempo nicht bald gedrosselt werde. Es wurde nicht gedrosselt. Im Gegenteil. Chinas Wirtschaft und Chinas Bevölkerung wuchsen und wuchsen. Die Hauptstadt des Reichs der Mitte zählt heute 22 Millionen Einwohner. Das Bruttosozialprodukt legte jährlich im Schnitt über zehn Prozentpunkte zu. Gleichzeitig stiegen die Begehrlichkeiten der Hauptstädter beträchtlich.
Seit drei Monaten kein Regen
Nicht nur Peking, sondern ganz Nordchina leidet unter Wassermangel. Das war schon immer so, nur kommt jetzt der Klimawandel erschwerend hinzu, warnen chinesische Wissenschaftler. Bauer Fu Wanlu weiss davon ein trauriges Lied zu singen. Auf seinem kleinen Acker rund 120 Kilometer nordöstlich von Peking pflanzte er früher Gemüse und etwas Getreide an. Damit erwirtschaftete er dank der nahen städtischen Siedlungen ein kärgliches Einkommen. Doch zunehmende Trockenheit zwangen Fu, die Produktion umzustellen. Die wenigen Obstbäume versorgt er mit Wasser, das er mit Eimern aus einem Tümpel schöpft. Fast einen Kilometer weit müssen er und seine Frau zum Wasserholen gehen. Das Wasser, klagt der nordchinesische Bauer, sei zudem ziemlich verdreckt. Auf ausgiebigen Regenfall warten die Dorfbewohner seit über drei Monaten vergeblich.
Wasserknappheit und Wasserverschwendung
China war nie ein wasserreiches Land. Mit nur gerade sieben Prozent der weltweiten Frischwasser-Reserven müssen die 1,35 Milliarden Chinesinnen und Chinesen – fast ein Fünftel der Weltbevölkerung – auskommen. Im trockenen Norden ist mit dem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum der Grundwasserspiegel dramatisch gesunken. Viele Brunnen sind ausgetrocknet. Neue Brunnen müssen extrem tief gebohrt werden. Die Wüste, keine 200 Kilometer nördlich von Peking, weitet sich aus.
Der Wasserbedarf ist in den letzten drei Jahrzehnten stark angestiegen. Die Bevölkerung Chinas verbraucht weit mehr Wasser als die Natur hergibt. Dies sowohl in der Landwirtschaft, als auch in der Industrie und in den Privathaushalten. Findige Ingenieure haben deshalb – unterstützt von der Partei – eine utopische Vision von Mao Dsedong wieder aus der Schublade geholt. Das wasserreiche China südlich des Yangtse-Stroms, so der «Grosse Steuermann» vor Jahrzehnten, könnte dem trockenen Norden mit Wasser aushelfen. Schliesslich hätten schon vor 2000 Jahren die Kaiser für den Getreidetransport einen Grossen Kanal von Süden nach Norden gebaut.
Ein gigantisches Umleitungsprojekt
Vier Fünftel der chinesischen Wasserreserven liegen in Südchina. Etwas von diesem Wasserreichtum in den Norden zu leiten, wo zwei Drittel der Ackerflächen liegen, klang deshalb logisch. Das Süd-Nord-Wassertransferprojekt nahm seinen Lauf. Gebaut wurden seit Mitte der 1990er-Jahre Kanäle, Pumpstationen, Tunnels und Staumauern für Auffangbecken. Die weit über 1000 Kilometer lange Ost-Route, die vor allem die Region Anhui, Shandong und später Peking-Tianjin-Hebei zugute kommt, ist fertiggestellt. Eine Zentral- und eine West-Pipeline in die nordchinesische Ebene sind im Bau. Kostenpunkt des Gesamtprojekts: umgerechnet wohl gut 100 Milliarden Franken bei der Fertigstellung in wenigen Jahren. Dazu kommen die Kosten für die Kommunen, welche die Zubringerkanäle selbst finanzieren müssen. Bis in die Mitte des laufenden Jahrhunderts sollen auf den drei Kanälen jährlich insgesamt rund 45 Milliarden Kubikmeter Wasser verschoben werden.
Aus ökologischer Sicht ist das grösste Wasserumleitungsprojekt der Welt umstritten. Doch Chefingenieur Shen Fengsheng will davon nichts wissen. Er rechnet vor: «Durchschnittlich fliessen pro Jahr 960 Milliarden Kubikmeter Wasser vom Yangtse-Strom ins Meer. Davon leiten wir auf der Ostroute in der ersten Phase 8,8 Milliarden Kubikmeter um, und später im Mittelkanal nicht ganz 10 Milliarden Kubikmeter; das ist doch nur ein kleiner Teil des gesamten Wassers.» Der Pekinger Wasserexperte Wang Jian ist skeptischer. Eine solch gigantische Wasserumleitung sei in vielfacher Hinsicht mehr als problematisch. Das Klima könne sich verändern, zudem sei das Projekt extrem kostspielig und habe mit der Umsiedlung von mehr als 300’000 Menschen auch schwerwiegende soziale Folgen. Wangs Haupteinwand: «Vermutlich wird die Wasserumleitung noch mehr Nachfrage schaffen. Den Wert des Wassers werden die Menschen also weiterhin nicht schätzen, weil es eine scheinbar einfache Lösung für eine schwere Krise gibt.»
Höherer Preis soll Verschwendung eindämmen
Viele chinesische Wissenschaftler, aber auch Delegierte des Nationalen Volkskongresses fordern deshalb vor allem einen effizienteren Umgang mit dem raren Gut Wasser. Cecilia Tortajada und Asit K. Biswas, Gründer des Drittwelt-Zentrums für Wasser-Management, fordern im Regierungsorgan «China Daily» nichts weniger als eine «blaue Revolution». Das Wasserangebot zu erhöhen, so ihre Argumentation, sei nicht die «automatische Antwort auf eine höhere Nachfrage».
Wasserverschwendung ist eines der grossen Probleme. Private Haushalte, Fabriken und vorab Landwirtschaftsbetriebe tun so, als ob Wasser im Überfluss vorhanden wäre. Kein Wunder, denn Wasser ist billig. Der Preis pro Kubikmeter in 25 chinesischen Grossstädten beträgt umgerechnet nur gerade 39 Rappen. Das ist sehr wenig im Vergleich zum globalen Durchschnittspreis von fast 2 Franken. Im ökonomischen Masterplan der chinesischen Führung soll künftig der Markt eine entscheidende Rolle spielen – auch bei der Verteilung von Ressourcen, also unter anderem beim Wasser. Ein marktgerechterer Preis könnte den Kommunen auch helfen, dringend notwendige Unterhaltsarbeiten an der Wasser-Infrastruktur auszuführen sowie neue Technologie und fortschrittliche Kläranlagen zu finanzieren. Denn fast die Hälfte aller chinesischen Gewässer sind in einem bedenklichen Zustand. Sauberes Trinkwasser ist noch längst nicht Allgemeingut.
Pekings Lokalregierung hat reagiert. Sie plant den Preis pro Kubikmeter Wasser für Privathaushalte um 1 Yuan auf 5 Yuan (umgerechnet 70 Rappen) anzuheben. Trotz Preiserhöhung, rechnet die Regierungszeitung «China Daily» tadelnd vor, seien jedoch die Kosten für Abwasser, Wasserreinigung und dergleichen noch längst nicht gedeckt. Mit anderen Worten: Auch mit dem höheren Preis subventioniere die Lokalregierung jeden Kubikmeter Wasser mit 2 Yuan. «Das sei für eine derart durstige Stadt wie Peking schockierend», so der «China-Daily»-Kommentator. Chinesische Ökonomen und Umweltschützer sind der Meinung, dass nur ein klares Preissignal an die grosse Mehrheit der Bevölkerung zum Wassersparen animiere. Das Portemonnaie spiele eine entscheidende Rolle, um bei Chinesinnen und Chinesen ein «Grünes Bewusstsein» zu entwickeln.
Trinkwasser – ein boomender Markt
Angesichts der Trockenheit ist es kein Wunder, dass der Markt für Mineral- und Flaschenwasser blüht und gedeiht. Im laufenden Jahr wird China die USA als grössten Markt in Flaschenwasser überholen. Börsenbeobachter und findige Investoren rechnen damit, dass bis zu Beginn des nächsten Jahrzehnts der chinesische Gesamtmarkt gut und gerne umgerechnet über 60 Milliarden Franken hergeben wird. Auch das eine blaue Revolution. Von den paradiesischen Schweizer Verhältnissen wo Trinkwasser aus dem Hahnen fliesst so viel man will, davon wagen Chinesinnen und Chinesen nicht einmal zu träumen. Doch selbst Hahnenburger à discretion ist, wie jeder Schweizer Konsument weiss, nicht gratis.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.