Kommentar
KMU fühlen sich von Gerhard Schwarz provoziert
Jüngste Publikationen von «Avenir Suisse» führten zu einem skurrilen Streit mit dem Schweizerischen Gewerbeverband. Die Bedeutung der KMU für die Schweizer Wirtschaft werde zugunsten der Multis heruntergespielt, so die Kritik an «Avenir Suisse».
Von einem «Machwerk mit vielen Denkfehlern», einem «Gefälligkeitselaborat», von «15 krassen Denkfehlern» war die Rede. Solche Schelte gegen den neoliberalen Think Tank «Avenir Suisse» las man nicht in einer linken Zeitschrift, sondern in der Schweizerischen Gewerbezeitung, redigiert von einem Mitglied der Direktion des Schweizerischen Gewerbeverbands SGV. Der Think Tank habe in seiner Kernkompetenz versagt, nämlich im Denken. Der SGV habe die Gründung der Ideologiefabrik «Avenir Suisse» seinerzeit sehr begrüsst, doch jetzt sei er «nach einigen Vorkommnissen in der jüngeren Vergangenheit auf sehr kritische Distanz» gegangen. Die jüngere Vergangenheit heisst im Klartext: seit Gerhard Schwarz, vormaliger Leiter der NZZ-Wirtschaftsressorts, die Direktion von «Avenir Suisse» übernommen hat.
Einäugige Wirtschaftsgeschichte
Anlass zu dieser Schelte war ein «Diskussionspapier», in welchem «Avenir Suisse» die Bedeutung der KMU-Wirtschaft herunterspielt und die Wichtigkeit der Multis, der wichtigen Geldgeber der Ideologiefabrik, hochstilisiert. Schon zuvor wurde in einem Buch der «Avenir Suisse», geschrieben von einem Bankökonomen ohne bildungspolitische Vorkenntnisse, die Bedeutung der Berufslehre heruntergemacht und damit das Gewerbe als wichtigsten Träger der Berufsbildung verärgert.
Noch davor hatte «Avenir Suisse» eine einseitige Wirtschaftsgeschichte der Schweiz herausgegeben, in der die gesamte schweizerische KMU-Wirtschaft, aber auch die Genossenschaften und die volkswirtschaftlich wichtigen Service-Public-Unternehmen kaum vorkommen. Vielmehr werden die multinationalen Konzerne und deren Gründer willfährig herausgehoben. Dieser 400-seitige, farbig bebilderte Luxusband unter dem Titel «Wirtschaftwunder Schweiz. Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells», wird nicht nur auf deutsch, sondern auch in einer französischen, englischen, chinesischen und japanischen Fassung herausgebracht. Herausgeber der einäugigen Wirtschaftsgeschichte sind Gerhard Schwarz und R.James Brading.
Wie bedeutend sind die Multis – und die KMU?
Auslöser des jüngsten Ärgers in der KMU-Wirtschaft ist aber das Avenir-Diskussionspapier «Multis: Zerrbild und Wirklichkeit» vom Juni 2013. Dessen Zielsetzung ist niemandem klar geworden. Laut seinen Autoren soll es «die unvermindert grosse Bedeutung multinationaler Unternehmen für die schweizerische Volkswirtschaft» hervorheben, «worüber sich viele in der Politik und Öffentlichkeit zu wenig Rechenschaft geben».
Wenn man die Schlagzeilen und Firmenberichterstattung in den Zeitungen und elektronischen Medien in Betracht zieht, müsste man eher zum Gegenteil neigen, nämlich die Vernachlässigung der KMU-Berichterstattung.
Sehr solid kommt das Avenir-Diskussionspapier nicht daher: Den Anteil der Multis an der volkswirtschaftlichen Bruttowertschöpfung beziffern die Avenir-Autoren mit 16 bis 36 Prozent des BIP, den Anteil der Multis an den Warenexporten mit 30 bis 60 Prozent. Mit dermassen breiten Spannen verkommt die Darstellung zum blossen astrologischen Kaffeesatz-Lesen.
Zwar weiss man aus der Wirtschaftsstatistik nicht allzu viel über die Firmenstruktur in der Schweiz. Nach Rückfragen beim Bundesamt für Statistik BFS besteht keine verlässliche Aufteilung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nach Unternehmensgrösse. Hingegen kennen wir die BFS-Betriebszählungsergebnisse. Die letzten stammen von 2008.
- Die KMU-Wirtschaft der Schweiz umfasst 99,6% aller Unternehmen.
- Die Grossunternehmen mit 250 und mehr Beschäftigten machen nur 0.4% aus.
- Die KMU-Wirtschaft umfasst 63% aller Beschäftigten, die Grossunternehmen haben einen Anteil von 37% und die multinationalen Firmen noch weniger.
- Die KMU sind mit schätzungsweise 80% aller Lehrstellen Hauptträger des Berufsbildungssystems.
- Die grossen Konzerne wachsen beschäftigungsmässig praktisch nur noch im Ausland – die Swatch Group ausgenommen.
- Von den zehn grössten Konzernen haben deren neun mehr als 80% der Beschäftigten im Ausland in ihren Tochtergesellschaften, Betriebs- und Vertriebsstätten. Einzig die Swatch Group hat noch die Hälfte in der Schweiz.
Zwar leisten die meisten multinationalen Gesellschaften dank ihrer höheren Produktivität einen überdurchschnittlichen Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung. Bei gewissen schlagzeilenträchtigen Branchen wird die volkswirtschaftliche Bedeutung aber ständig überschätzt. Die Banken insgesamt hatten laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (VGR) 2011 einen Wertschöpfungsanteil von nur 6,3 Prozent am Bruttoinlandprodukt, die Versicherungswirtschaft machte 4,5 Prozent aus. Doch solche Indikatoren fehlen im Avenir-Diskussionspapier.
Gewiss sind viele KMU-Betriebe auch Zulieferer oder Unterlieferanten von Grossfirmen, sie profitieren von den Multis. Doch immer mehr KMU exportieren auch direkt ins Ausland – oft als Zulieferer dortiger Konzerne. Dies ist eines der markantesten Merkmale des Strukturwandels.
Unklare Motive bei «Avenir Suisse»
Die Gründe, warum «Avenir Suisse» sich gedrängt fühlte, auf mehreren Ebenen die KMU-Wirtschaft herabzumindern, sind für die meisten unklar. Will sich Gerhard Schwarz als Direktor bei seinen Geldgebern aus der Konzernwelt erkenntlich zeigen? Oder kommen ihm bloss seine ideologischen Doktrinen in die Quere?
Kaum ein Ökonom in diesem Land hat sich in der Vergangenheit so häufig verrannt wie Gerhard Schwarz: In den 1990er-Jahren verteidigte er die Maximierung des Shareholder Value – was die Banken danach auch so lange praktizierten, bis sie damit an die Wand fuhren. Im Jahr 2000 wandte er sich mit dem Killerwort von der «Neidökonomie» (Buchtitel) gegen die Kritiker an der Abzockerei in der Wirtschaft und gegen die Verteidiger des Sozialstaats. Seit Ende 2007, nunmehr sechs Jahre, warnt er als Nationalbankkritiker vor einer hohen Inflation.
Die Avenir-Publikationen, die nach einer Privatisierung des Service Public rufen, kommen zwanzig Jahre zu spät. Die lange von Gerhard Schwarz präsidierte Friedrick A. von Hayek-Gesellschaft, welche die Jünger des neoliberalen Urvaters Friedrich A. von Hayek vereint und den Anti-Etatismus wie eine Glaubensgemeinschaft hütet, gilt heute in Fachkreisen als eine verirrte Sekte.
Wenn ideologische Doktrinen vorherrschen, resultieren sehr oft skurrile Konflikte. Jener zwischen «Avenir Suisse» und dem Gewerbeverband ist ein solcher.
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Dieser Beitrag erschien in der Weiterführende Informationen
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Es sollte endlich von den Grosskonzernen zur Kenntnis genommen werden, dass ihre Interessen nicht von Avenir Suisse vertreten werden können. Wer ist Avenir Suisse? Sie hat zwar eine Meinung und äussert diese, dank zur Verfügung gestellter Plattformen (Medien) immer wieder plakativ. Dies ist leider kontraproduktiv, so war dies jüngst mit dem Vorprellen des Mobility-Pricing der Fall und auch immer wieder mit den Rufen nach einer allgemeinen Dienstpflicht, welche nicht mit der EMRK unvereinbar ist!
Welch Trauerspiel, der SGV hat recht, wenn er die Avenir Suisse in die Pflicht nimmt. Wenn sich die Avenir Suisse nicht endlich bewegt und die Zeichen der Zeit erkennt, gehört sie abgeschafft! Dies bedeutet kein Schaden für unser Land.
B. Düggelin teilt mit – Korrektur: natürlich muss es heissen: ….und auch immer wieder mit den Rufen nach einer allgemeinen Dienstpflicht, welche mit der EMRK unvereinbar ist! Vielleicht kann dies auch Infosperber selbst korrigieren. Danke!
Der Artikel von Strahm ist «wie immer» informativ, in diesem Fall besonders, was zur Unterschätzung der KMU geschrieben wird, wiewohl auch jener Wirtschaftszweig genau so wie Gewerkschaften, Bauern usw. dann und wann Basiskritik benötigt. Bei der Hayek-Gesellschaft kenne ich auch Leute, die aus meiner Sicht nicht gut genug sind und tatsächlich ideologisch denken. Ich würde aber beim Ausdruck «Sekte» etwas vorsichtiger sein, weil dies allenthalben vorkommt. Nach Popper sind Sektierer, auch nichtreligiöse, vor allem solche, welche aufgrund ihrer Positionen die Zukunft zu kennen glauben, vor 100 Jahren war es der sog. «Wissenschaftliche Sozialismus". Es gehört zu den wichtigsten Grundlagen der Erkenntnistheorie, dass wir die Zukunft auch deswegen nicht kennen können, weil wir nicht wissen können, was wir in Zukunft wissen werden. Insofern ist also der Begriff «wissenschaftlich zuverlässig» z.B. auch für Klimaberichte durchaus ideologisch belastet, so wie C.G. Jung bereits darauf aufmerksam machte, dass «wissenschaftlich getestet» eine Ersatzformel sie für das alte «Roma locuta – causa finita". Für umweltpolitisch vernünftiges Handeln, auch z.B. in Sachen CO-Ausstoss, braucht es so wenig Zukunftsprognosen wie für den Befund des Autofahrers, dass es bei 20 Kilometer weniger Durchschnittsgeschwindigkeit weniger bzw. weniger starke Unfälle gibt. Insofern beschlägt die kritische Diskussion der sog. Klimaberichte einen Nebenschauplatz der Umweltethik. Was Gerhard Schwarz betrifft, hat er, wie Beda M. Stadler oder Jean Ziegler, manchmal recht, aber wohl häufiger als auch schon nicht recht. Einigermassen erstaunt bin ich, dass er sich auch über den Feminismus mal kritisch geäussert hat. Dass die Ismen, besonders die ganz gut gemeinten, irgendwann in die Sackgasse führen, scheint mir ein ideologiegeschichtlicher Tatsachenbefund zu sein.
Korrektur eines Satzes in der Textmitte: «… so wie Carl Gustav Jung bereits darauf aufmerksam machte, dass «wissenschaftlich getestet» eine Ersatzformel s e i für das alte «Roma locuta – causa finita» – Roms Papst hat gesprochen, die Sache ist erledigt."
PS. Zu «Sinn und Unsinn der Zukunftsforschung» haben sich meine ehemaligen Lehrer Hermann Lübbe, Karl Popper sowie auch Karl Steinbuch so ausgelassen, dass mir bei Diskussionen über wissenschaftliche Zukunftsvoraussagen regelmässig auffällt, dass viele jeweilige Experten zwar ihr Fach kennen, aber keine Grundlagenkenntnisse haben über die Theorie und Praxis von Prophezeiungen. Der Unterschied zwischen langfristigen wissenschaftlichen Vorhersagen und astrologischen Ratschlägen ist bei dieser Thematik oft geringer als man vermuten würde, weil bei einigermassen erfolgversprechenden Voraussagen nicht so sehr überprüfbare «exakte Wissenschaft» gefragt ist als vielmehr therapeutisches Einfühlungsvermögen. Blaise Pascal spricht hier, im Gegensatz zum Esprit géométrique, vom «Esprit de Finesse", dem Geist des Feinsinns. Dieser ist etwa bei Prognosen für eine gelingende Ehe, Prognosen für den Wohlstand usw. durchaus gefragt. In der Politik nennt man das «Gouverner c’est prévoir", was unbedingt gefragt ist, jedoch keineswegs mit exakter Wissenschaft zu verwechseln. Rudolf Strahm gehört mit seinen massvollen Einschätzungen, die stets gut fundiert sind, zu jenen politisch erfahrenen Publizisten, denen man im Vergleich zu bekannten Rechthabern im Bereich der Wirtschaft eine vergleichsweise hohe Beratungskompetenz zutraut.
"Kaum ein Ökonom in diesem Land hat sich in der Vergangenheit so häufig verrannt wie Gerhard Schwarz…» – Diesen Satz hätte ich mich nie getraut hinzuschreiben, obwohl ich schon als Leser des NZZ-Wirtschaftsteils ahnte, dass es so ist. Ich hätte es einfach nicht so schlüssig begründen können wie Rudolf Strahm.