Weimar reloaded, oder: Lernen aus der Geschichte
(Der folgende Artikel ist ein Gastbeitrag. Zum Autor Sebastian Müller siehe unten am Ende des Artikels. Red.)
Wenn ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler in einem Beitrag für ein deutsches Fachblatt der liberalen Ökonomie die These aufstellt, man befinde sich wegen zu hoher Lohnkosten und üppiger Sozialpolitik bereits mitten in einer Depression, und als Rezeptur eine Mischung von Lohn-, Preis- und Budgetkürzungen empfiehlt, dann fällt so ein Befund im Rauschen des Blätterwaldes nicht mehr weiter auf. Vielmehr reiht er sich ein in den Konsensus der Mainstream-Ökonomie und der Wirtschaftsredaktionen.
Die These des Ökonomen wurde drei Jahre später um einen zweiten Teil ergänzt. Während der erste Teil eine Kritik der Sozial- und Lohnpolitik schon vor der Wirtschaftskrise war und drastische Politikempfehlungen gab, war der zweite eine Verteidigung der Sparpolitik während der Krise und versprach baldige Besserung.
Das gleicht recht genau dem, was gegenwärtig von Berlin und Brüssel als Lösung und Durchhalteparole in der sogenannten Staatsschuldenkrise in der südlichen Peripherie der EU angewandt und verkauft wird. So sah beispielsweise Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble das darbende Griechenland bereits auf dem Weg der wirtschaftlichen Besserung, bis die neue Syriza-Regierung mit ihrem linkspopulistischen Kurs alles zunichte gemacht habe. Es könnte die Dolchstoßlegende der Neoklassik sein.
Doch die oben erwähnten Thesen sind im Zuge zweier Beiträge postuliert worden, die im März 1929 und dann im Februar 1932 im «Deutschen Volkswirt» erschienen sind. Der Autor war kein geringerer als Joseph A. Schumpeter. Und was er vorschlug, ist später als Brünings berüchtigte Deflationspolitik bekannt geworden.
Der österreichisch-deutsche-US-amerikanische Ökonom Peter A. Schumpeter, 1883 – 1950
Jene Deflationspolitik, die nicht losgelöst von den Reparationsverpflichtungen des Reiches gesehen werden darf, wurde von allen staatstragenden Parteien der Weimarer Republik mehr oder weniger gestützt. Auch die Reichsbank – ähnlich wie die heutige Bundesbank – lehnte, teils unter Duldung, teils unter Befürwortung der Industrie, eine expansive Geldpolitik, deren Ausbleiben der schwedische Nationalökonom Gustav Cassel noch als Ursache der Depression verantwortlich gemacht hatte, ab. Stattdessen hatte für Reichsregierung, Reichsbank und Industrie die angebotspolitisch motivierte Sicherung der Währung bei finanzieller Entlastung der Wirtschaft oberste Priorität.
Zwangslagen
Im Kontext der obigen Schumpeter-These schwelt seit 1979 – also nicht zufällig just zu einem Zeitpunkt, als die keynesianische Ära in der Wirtschaftspolitik zu Ende ging – ein wirtschaftshistorischer Streit darüber, ob und wie weit das Kabinett Brüning unter den gegebenen Rahmenbedingungen zum Sparkurs mit seinen fatalen Auswirkungen gezwungen gewesen sei – der Sparkurs im Merkel´schen Duktus also alternativlos war. Damals wurde die Weimarer Regierung – so die These der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt und Albrecht Ritschl – von den Siegermächten daran gehindert, die Schuldenkrise mit einer expansiven Geldpolitik und einer Währungsabwertung zu bekämpfen. So musste das Reich gezwungenermaßen versuchen, seine Wettbewerbsfähigkeit durch eine Preissenkungs- und Lohnkürzungspolitik zu erhöhen.
Die Rahmenbedingungen waren in der Tat desolat, als der konservative Katholik Heinrich Brüning im März/April 1930 sein Amt als zwölfter Reichskanzler antrat. Seine Amtszeit sollte mit dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosenzahlen zusammenfallen, die historische Rekorde setzten. Zu allem Überfluss musste ein Reichshaushalt verabschiedet werden, dessen Defizit die Höhe von 330 Millionen Reichsmark erreicht hatte. Und die Schuldenkrise sollte sich bis zum Höhepunkt der Banken- und Währungskrise im Juli 1931 noch weiter verschärfen.
Heinrich Brüning war 1930 bis 1932 deutscher Reichskanzler
Umso bedrohlicher war die Lage des Reiches, als diesem aufgrund des Wahlerfolgs der Nationalsozialisten am 14. September 1930 ausländische Kredite abgezogen wurden. Nun waren Reichsbank und Reichsfinanzministerium auf einen 125-Millionen-Dollar-Überbrückungskredit von einem ausländischen Bankenkonsortium unter Führung des amerikanischen Bankhaus Lee, Higginson & Co angewiesen. Doch das Darlehen wurde dem Reich nur unter hochpolitischen Bedingungen gewährt: unter anderem der Einbringung und Verabschiedung eines Schuldentilgungsgesetzes im Reichstag sowie der Auflage eines drastischen Haushaltsanierungsplanes.
Die Auflagen des Konsortiums kamen Brüning nicht einmal ungelegen. Sein Ziel war es ohnehin, die Defizite durch die Aufnahme eines Kredits und durch eine rigorose Sparpolitik zu beseitigen. So mussten Länder und Gemeindeverbände mit gekürzten Reichsüberweisungen und die Kommunen mit den Belastungen der Wohlfahrtsfürsorge rechnen, die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung sollten erhöht und diese vom Reichshaushalt abgekoppelt werden. Zudem sollten der öffentliche Wohnungsbau eingeschränkt sowie Löhne und Gehälter gekürzt werden.
Comeback des bürokratischen Verordnungsregimes
Gut 80 Jahre und eine Banken- und Wirtschaftskrise später zwingt diesmal die sogenannte Troika – durch Aufnahme des Euro-Rettungsfonds zur Quadriga mutiert – unter dem maßgeblichen Einfluss Deutschlands den Ländern des europäischen Südens eine Sparpolitik auf, die die wirtschaftliche Krise offensichtlich nur noch weiter verschärft. Kein Wunder also, dass im Zuge der Kritik am derzeitigen Austeritätskurs durch Berlin und Brüssel auf die Geschichte verwiesen wird. So konstatierte unlängst der prominente ehemalige SPD-Politiker und Publizist Albrecht Müller, dass man mit Sparmaßnahmen in der jetzigen Situation nur die Fehler der Politik von Reichskanzler Brüning zu Beginn der Weltwirtschaftskrise wiederhole.
Allen neokeynesianischen Diskursen zum Trotz genießt Schumpeters neoklassische Diagnose auch in der gegenwärtigen Staatschuldenkrise wieder die Deutungshoheit: Im Süden Europas strukturell kranke Volkswirtschaften mit einem Lohnniveau, das über der gesamtwirtschaftlichen Produktivität liege und als Folge eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit, die durch eine Absenkung des Lohn- und Preisniveaus hätte erhöht werden müssen. Die Lesart ist nicht einmal neu, sondern entspricht der schon zu Weimarer Zeiten von den Industrieverbänden geteilten wirtschaftstheoretischen Grundannahme, dass die Hauptursache der Wirtschaftskrise überhöhte Produktionskosten seien.
Der wirtschaftshistorische Streit um die Zwangslagen Weimars könnte also aktueller nicht sein – nur dass es diesmal der Schuldner von damals ist, der unter der Ägide von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Partnern in der Europäischen Währungsunion im Stile einer »ökonomischen Siegermacht” eben jene Deflationspolitik verordnet. Und die verpflichtenden Abkommen heißen diesmal nicht Dawes- oder Young-Plan, mit denen die Zahlungsmodalitäten der Reparationen geregelt wurden, sondern Fiskalvertrag, Euro-Rettungsfonds und Währungsunion.
Nicht nur die Ausgangslagen sind also ähnlich, sondern auch deren Folgen. Die Peripherie ist einerseits der deutschen Export- und Dumpingpolitik mit der nun nicht mehr vorhandenen Möglichkeit, die eigene Währung abzuwerten, ebenso schutzlos ausgeliefert, wie es damals Weimar gegenüber England war, das sich auf Kosten der Wettbewerbsposition der Republik 1931 vom Goldstandard löste. Andererseits sind die Schuldner durch die genannten Verträge an finanz- und wirtschaftspolitische Auflagen gebunden, auf die Deutschland als größter Gläubiger maßgeblichen Einfluss hat. Das deutsche Gesamtvermögen an Auslandsschulden betrug 2012 ganze 80 bis 90 Prozent des BIP. Alleine Griechenland musste bis Ende 2011 für fällige Kredite aus dem ersten «Hilfspaket» 380 Millionen Euro Zinsen an Deutschland zahlen. Zudem mussten von Athen im Juni dieses Jahres für Kreditraten seit 2010 über 1,5 Milliarden Euro an den IWF überwiesen werden. Ohne frische Kredite wären diese Zahlungen jedoch nicht zu leisten gewesen. Doch neue Kredite, für die dann erneut Zinsen fällig werden, sind von den Gläubigern an weitere Sparmaßnahmen gekoppelt – ein Teufelskreis, der im Grunde der Systematik einer Reparationspolitik entspricht.
Kurz: Die Wirtschaftspolitik Brünings, gebunden an Verträge mit den Reparationsgläubigern, die an das Reich zeitweise Forderungen bis zu umgerechnet 700 Milliarden Euro in 66 Jahresraten stellten, ist zur Blaupause der EU geworden. Die heutigen Schuldnerländer befinden sich in einer ähnlichen, postdemokratisch anmutenden Zwangslage wie die Weimarer Republik unter den Auflagen des Dawes- und Young-Planes: Keine kreditfinanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, hohe Zinsen für die Staatschulden und keine Möglichkeit der Währungsabwertung. Stattdessen eine Sparpolitik, die auch deswegen zum Scheitern verurteilt ist, weil das stärkste Land der Währungsunion trotz einer beneidenswerten konjunkturellen Ausgangslage ebenfalls spart und damit der Eurozone insgesamt die Nachfrage entzieht.
Die Lektion, keine eigenständige Wirtschaftspolitik mehr betreiben zu können, musste auch Spanien lernen, das auf die durch die Bankenkrise ausgelöste Wirtschaftskrise zunächst mit staatlichen Ausgabenprogrammen antwortete. Unter dem Druck von EZB und IWF, vor allem aber unter dem indirekten Druck Deutschlands, vollzog Zapatero 2010 jedoch eine 180-Grad-Wende und leitete das größte soziale Kürzungsprogramm ein, das Spanien seit dem Ende des Franquismus hatte hinnehmen müssen. Ähnlich erging es Portugal, Italien und vor allem Griechenland.
Autoritärer Kapitalismus
Die Weisungen der Troika sowie die unter deren Gnaden zweitweise etablierten Technokratenregimes in Italien und Griechenland sind insofern besorgniserregend, als sie die Entwicklung von einer demokratischen Wirtschaftspolitik hin zu einem autoritären Kapitalismus einleiten. Auch die Regierung Brüning verkam zu solch einem bürokratischen Verordnungsregime: Deren insgesamt 109 Notverordnungen gegenüber lediglich 29 vom Reichstag ordentlich verabschiedeten Gesetzen leiteten das Ende des Parlamentarismus und den Beginn des Präsidialkabinetts ein, das letztendlich den Weg zu Hitlers Machtergreifung ebnen sollte. Damals wie heute war und ist eine radikale Austeritätspolitik auf Dauer nur durch die Umgehung der parlamentarisch demokratischen Verfassung durchzusetzen.
Das reparationspolitische Konzept Brünings glich dabei insbesondere den Auflagen der Troika für Griechenland fast bis ins Detail: Da die höchste Priorität auf dem Finanzausgleich lag und liegt, wurde und werden Steuererhöhungen mit Ausgaben- und Gehaltssenkungen kombiniert. So erhöhte die Regierung Brüning im Zuge von insgesamt vier «Notverordnungen zur Sicherung der Steuern und Finanzen» unter anderem die Umsatz-, Lohn-, und Einkommenssteuer. Dagegen wurden im öffentlichen Dienst mehrfach Gehaltssenkungen und die Herabsetzung der Pensionen und Renten, der Kriegsopfer-, Kranken- und Arbeitslosenunterstützung angeordnet.
«Deutschlands Weg durch die Jahre 1929 bis 1932 unterscheidet sich von den heutigen Schuldenkrisen, Austeritätspolitiken und Währungskrisen in nichts, mit der Ausnahme einiger technischer Details.» – Albrecht Ritschl.
Griechenland wurden seit März 2010 sechs Sparpakete auferlegt, die eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, eine massive Kürzung der Beamtengehälter, die Reduzierung der Stadtverwaltungen, eine Heraufsetzung des Rentenalters von 61,3 auf 67 Jahre sowie eine Erhöhung der Steuern auf Tabak, Spirituosen und Kraftstoff zur Folge hatten. Doch damit nicht genug. Im Gesundheitssystem sollten bis 2015 insgesamt knapp 1,8 Milliarden Euro eingespart werden. Zudem wurde mit einem Privatisierungsprogramm der Verkauf des griechischen Tafelsilbers zu Ramschpreisen begonnen. Mit einer Senkung des Mindestlohns um 22 Prozent, was mit Lohnkürzungen im Privatsektor generell zusammenfiel, wurden die Daumenschrauben weiter angezogen. Bis 2015 sollen zudem insgesamt 150’000 Staatsbedienstete entlassen werden. Weitere Kürzungen bei Renten, im Gesundheits- und Bildungsbereich stehen zudem auf dem Plan.
Für all das erhielt das Land Kredite über 237 Milliarden Euro von IWF und EU, die jedoch zum Großteil für die Bedienung der Zinsen eingesetzt werden mussten. Mindestens 77 Prozent der Programmmittel sollen dabei über Bankenrekapitalisierung oder Staatsanleihen an den Finanzsektor geflossen sein. Und der Chefökonom der »Financial Times”, Martin Wolf, wies darauf hin, dass die griechische Bevölkerung von den Tranchen bis jetzt nur 11 Prozent erhalten hat. Die Tilgung und Zinsen der Tranchen aber muss Griechenland aus seinem Staatshaushalt zahlen, mit dem Ergebnis, dass der Staat seinen Aufgaben vor allem im Bereich der öffentlichen Infrastruktur nicht mehr nachkommen kann.
Gleiche Rezeptur – gleiche Folgen
Die mit diesen beispiellosen Schocktherapien verbundenen sozialen Tragödien wurden dabei nicht nur damals wie heute bewusst in Kauf genommen, weil von einem gelungenen Haushaltausgleich eine Stärkung des ausländischen Vertrauens in die Leistungskraft der Wirtschaft und der Zufluss von langfristigem Auslandskapital erwartet wurde, – auch die ökonomischen Konsequenzen dieser Politik gleichen, ja wiederholen sich.
Ähnlich wie im griechischen Fall heute wurde, als sich die Konsolidierung der kurzfristigen Kredite als aussichtslos herausstellte, die Finanzpolitik ausschließlich zum Mittel, um die Zahlungsbereitschaft Deutschlands unter Beweis zu stellen. Brüning gelang es zwar, die Ausgaben des Reiches zu reduzieren, doch zu welchem Preis? Statt dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts näher zu kommen, stiegen Reichsschuld und Haushaltsdefizit trotz der Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen rapide an, vor allem weil das BIP zwischen 1929 und 1932 um 20 Prozent einbrach. Die Folge war eine Verdopplung der Arbeitslosigkeit binnen zwei Jahren von 2,8 auf 5,7 Millionen Menschen. Fügt man den offiziellen Statistiken eine plausible Dunkelziffer hinzu, dürften auf dem Höhepunkt 44 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos gewesen seien. Je mehr das Reich also sparte, umso mehr schrumpften dessen Einnahmen – und das exponentiell.
Solche Zahlen glaubte man mit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten in das Reich der Geschichte verbannt zu haben. Was für Deutschland auch weiterhin gelten mag, sieht in Griechenland gänzlich anders aus. Wie in Weimar schrumpfte auch in Griechenland das BIP in Folge der Sparauflagen in einem ähnlich kurzen Zeitraum – zwischen 2010 und 2014 – um ebenfalls 20 Prozent. Die Arbeitslosenzahlen erreichten im Juli 2013 einen Höchststand von 28 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent. Inzwischen sinken die Preise schneller als die Einkommen der Griechen – eine ausgeprägte Deflation. Mit dieser Politik erreichten sowohl die Weimarer Republik als auch Griechenland eine vielumjubelte positive Handelsbilanz, die de facto aber nur durch sinkende Importe und eine wegbrechende Binnennachfrage möglich war und ist.
Politische Interessen auf Kosten ökonomischer Vernunft
Es ist bezeichnend, dass je nach politischer Interessenlage Brünings Sparpolitik im wirtschaftshistorischen Diskurs entweder als fataler Krisenverstärker oder plötzlich wieder als notwendige Rosskur gewertet wird. Nicht zufällig ist eine solche historische Rehabilitierung gleichzeitig eine Verteidigung des wirtschaftspolitischen Status Quo in der EU.
Umso deutlicher wird dies, wenn man sich die ähnliche Interessenlage Brünings und Schäubles vor dem Hintergrund eines internationalen Schuldenkarussells, von Bankenkrisen und von Inflationsfurcht vergegenwärtigt. Damals wie heute herrschte ein «deflationärer Konsens» in den maßgeblichen Institutionen Regierung, Reichsbank/Bundesbank und Industrie. Brüning wollte die Krise nutzen, um den Weimarer «Reformstau», sprich – von den Industrieverbänden als Hemmnis empfundene – sozialstaatlich-korporatistische Strukturen zu beseitigen. Die Industrie nutzte die Gunst der Stunde, um Brünings Preissenkungspolitik an die Bedingung der Senkung der Löhne zu koppeln und diese somit zur Entmachtung der Gewerkschaften zu instrumentalisieren.
Spätestens jetzt kann die Krise zum strategischen Moment einer sonst nicht umsetzbaren Schockstrategie gedeutet werden, nämlich die Schleifung der europäischen Sozialstaaten im Sinne der Märkte. Im heutigen Standortwettbewerb ist es auch für Schäuble oberste Priorität, im Zuge der seit 2007 andauernden Wirtschaftskrise im großen Stil «Strukturreformen» durchzusetzen, die mit dem Beginn der Lissabon-Strategie auf der EU-Agenda stehen. Das Race to the bottom, das die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten verbessern soll, ist auch in diesem Fall handfesten Wirtschaftsinteressen geschuldet. Was käme da gelegener, als den Abbau europäischer Sozialstandards unter dem Vorwand einer Krise zu beschleunigen? Das Beharren auf der Austerität beinhaltet auch ein außenpolitisches Kalkül Schäubles: die vor allem für die konservative Hegemonie in Europa als Bedrohung wahrgenommene Syriza-Regierung in Griechenland durch finanzielle Daumenschrauben politisch auszuschalten.
Es waren also wie heute politische Interessen, welche die Gläubiger viel zu lange nicht auf die katastrophale wirtschaftliche Situation Deutschlands reagieren ließen. Stattdessen beharrten sie lediglich auf der strikten Einhaltung der Reparationsverpflichtungen. Erst im Juni 1931 wagte US-Präsident Herbert Hoover einen Politikwechsel, indem er ein Schuldenmoratorium vorschlug. Doch weil sich Frankreich – das in seiner damaligen Unerbittlichkeit dem heutigen Deutschland glich – zwei Wochen lang sperrte, war der positive psychologische Effekt bereits verpufft. Als das Moratorium dann Anfang Juli dennoch abgesegnet werden konnte, war es bereits zu spät. Das globale Finanz- und Währungssystem sollte eine Woche später durch das Ausbrechen der deutschen Bankenkrise in seinen Grundfesten erschüttert werden.
Auf dem Spiel steht die Legitimität der EU
Die Frage der anfangs erwähnten wirtschaftshistorischen Debatte, ob denn Brüning zu seiner Sparpolitik tatsächlich gezwungen gewesen sei, ist letztendlich eine akademische. Die politische Frage ist, ob es damals wie heute richtig war und ist, institutionalisierte Zwangslagen mit aller Gewalt aufrecht zu erhalten. Diese Frage ist sowohl historisch als auch empirisch eindeutig beantwortet worden. Wer da die Politik Brünings aus politischen Motiven für sakrosankt erklären will, verkennt, dass das europäische Sozialstaatsmodell ein zentrales Element demokratischer Legitimität ist. Dieses Element aufs Spiel zu setzen ist ein geschichtsvergessenes Vabanquespiel. Wer es noch nicht bemerkt haben sollte – die Symptome einer erneuten Krise der Demokratie und Staatlichkeit sind überall in der EU allgegenwärtig.
Deutschlands heutige Rolle lässt sich dabei mit jener der Siegermächte von damals vergleichen. Was John Maynard Keynes 1919 in seinem Versailler-Traktat prophezeite, ist in der gegenwärtigen Konstellation wieder brandaktuell: Vor dem Hintergrund der immensen Reparationsforderungen stellte er die «Demokratien Westeuropas» vor die Alternative, Deutschland zu helfen, «einen Teil seines früheren wirtschaftlichen Wohlstandes wiederzugewinnen», oder den «Ruin Mitteleuropas» zu verantworten. Keynes sollte Recht behalten, mit der Reparations- und Austeritätspolitik schaufelte sich der Völkerbund sein eigenes Grab.
Der Brite John Maynard Keynes, 1883 – 1946, war einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Er empfahl, in Krisenzeiten die Staatsausgaben zu erhöhen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. – Sebastian Müller rief die Website le Bohémien im Januar 2009 ins Leben und zeichnet als Redakteur für ihren Inhalt und die Beiträge der Gastautoren verantwortlich. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft sowie Germanistik an der TU Darmstadt und setzt sich als freier Autor besonders gerne mit den Wechselwirkungen von Ökonomie und Gesellschaft auseinander. – Der obenstehende Artikel ist die ungekürzte Fassung eines Beitrags in der Wochenzeitung der Freitag (35/2015). In dieser Form erschien er zuerst auf der deutschen Info- und Meinungsplattform Le Bohémien.
Das völlig falsche Friedensdiktat von Versailles war der Grund für die deutsche Wirtschaftskrise und nicht die ökonomischen Theorien von Schumpeter. Und die Lehren von Lord Keynes haben zu der nicht mehr zu kontrollierenden Schuldenkrise Europas und der USA geführt. Der Jahrzehnte alte politische und ökonomische Schlenderian vor allem der südeuropäischen Länder kann nicht durch irgendwelche Theorien behoben werden, sondern nur durch Arbeit und Sparen, und wer im gleichen Geist Kredite vergeben hat muss diese abschreiben. Oekonomische Theorien vernebeln nur die Sicht auf die Realität.