Kommentar
Warum Draghi eben doch kein «Drogenpapst» ist
Journalismus lebt von der steten Wiederholung. Die Geschichte, die Wirtschaftsjournalisten am liebsten neu variieren, ist die von den durch die Zentralbanken angehäuften Schuldenbergen. Die bisher neueste Version aus dem Hause Tamedia bedient in der «SonntagsZeitung» vom 28. Juli unter dem programmatischen Titel «Draghi, der ‹Drogenpapst›» alle bekannten Klischees dieses Genres.
Zum einen ist da immer nur von Schulden die Rede («seit 2008 kamen 70 Billionen Dollar an neuen Schulden hinzu.»), nie aber wird erwähnt, wem die entsprechenden Guthaben gehören. Zweites wird das Schuldenmachen als eine verwerfliche Sucht («Drogenpapst») dargestellt, die durch die tiefen Zinsen noch gefördert wird. Die Rolle des Süchtigen spielt schliesslich immer der Staat, der – viertens – von den Zentralbanken mit billigem Stoff versorgt wird. Zitat: «Faktisch ist das eine Staatsfinanzierung per Notenpresse.» Damit meint die «SonntagsZeitung» die Tatsache, dass die EZB seit 2008 bisher 2,6 Billionen Euro Staatsanleihen aufgekauft hat. Dass es sich dabei um «Geldschöpfung aus dem Nichts» handle, wird für einmal nicht explizit behauptet.
Typisch ist hingegen, dass im Artikel der «SonntagsZeitung» ausschliesslich Quellen aus der Welt der Finanzen zitiert werden – UBS-Chef Sergio Ermotti, Bob Michele von J.P. Morgan Asset Management, Blackrock-Manager Rick Rieder etc. Und wie in allen diesen Texten wird auch in diesem die Tatsache beklagt, dass die Zentralbanken mit ihrer Politik der «Geldschwemme» die Sparer um den verdienten Lohn ihres Konsumverzichts prellen. Zitat: «Ein Schweizer Banker in London, spricht gar von einer ‹Zerstörung von Sparguthaben›.» Und Allianz-Chef Oliver Bäte sagt, dass «Sparer enteignet» werden, und dass die tiefen Zinsen zudem zu einer «massiven Fehlallokation von Kapital» geführt hätten. Auch dieser Vorwurf taucht immer wieder auf.
Und was folgt aus all diesen scharfen Überlegungen? Wie soll der «Drogenpapst» seine Irrtümer tätig bereuen? Auch der etwas hilflose Schluss des Artikels ist typisch für dieses Genre: «Die EZB braucht dringend eine neue Strategie.»
Chronische Netto-Überschüsse der Unternehmen
Eine solche Strategie kann man so lange nicht finden, als man sie ausschliesslich in der Welt der Finanzen sucht, statt der Frage nachzugehen, wem denn eigentlich die den Schulden entsprechenden Guthaben gehören. Die Antwort findet man unter anderem in dieser Statistik der EU-Kommission. Dort erfährt man (unter 14.3 Corporations Balances «Net lending» anklicken)*, dass der Unternehmenssektor der Eurozone (Euro area) ab 2008 Nettoguthaben von insgesamt 2440 Milliarden Euro angehäuft hat. Netto bedeutet nach Abzug aller Investitionen, nach Steuern und nach Dividenden.
Dass diese 2440 Milliarden ziemlich genau den 2600 Milliarden entsprechen, welche die EZB seither angehäuft hat, ist allerdings auch ein wenig Zufall, denn das Gesamtbild ist etwas komplexer. Neben den Unternehmen haben nämlich auch deren Besitzer, die reichen Familien, Guthaben angehäuft und zwar ( hier unter 15.3 «Net lending» anklicken und die Jahre 2009 bis 2018 addieren)* etwa 2520 Milliarden. Dem stehen etwa 3100 Milliarden zusätzliche Schulden der Eurozonen-Staaten gegenüber. Dass diese staatliche Verschuldung in Anbetracht der privaten Guthaben relativ bescheiden ausgefallen ist, verdanken die Euro-Länder der Tatsache, dass sie dank dem tiefen Kurs des Euro und dem Spardiktat von Brüssel beträchtliche Exportüberschüsse erzielen und damit (immer ab 2009 gerechnet) rund 2600 Milliarden Schulden auf das Ausland abwälzen konnten.
So weit das Robotbild der realwirtschaftlichen Hintergründe der «Schuldenkrise». Gerade die Wirtschaftsjournalisten dürften die chronischen Netto-Überschüsse nicht überraschen. Sie berichten täglich darüber, wie sich die Unternehmen zu immer noch mächtigeren Multis zusammenschliessen, und wie sie diese Macht nutzen, um die Steuern und die Löhne zu drücken. Weil darunter auch die Nachfrage leidet, können sie ihre steigenden Gewinne auch nicht real in den Ausbau ihrer Kapazitäten investieren. Damit klingt auch der Refrain von den durch die tiefen Zinsen ausgelösten «massiven Fehlallokationen von Kapital» hohl. Da die Unternehmen alle profitablen Investitionen schon aus den laufenden Einnahmen finanziert haben, bleibt für die Sparer (nachdem sie sich gegenseitig die Aktien und die Immobilien abgekauft haben) nur noch die Möglichkeit, Staatsschulden zu kaufen. Mit diesen wiederum gibt der Staat via Sozialausgaben den Arbeitnehmerhaushalten die Kaufkraft zurück, die ihnen die Unternehmen per Lohndruck entzogen haben. Damit ist der Kreislauf wieder geschlossen – allerdings zum Preis immer höherer Staatsschulden.
EZB begrenzt den Schaden der Sparer
Und was hat die EZB damit zu tun? Nun, die oben erwähnten 3100 Milliarden zusätzlichen Staatsschulden stammen nicht aus den «soliden» Ländern wie Deutschland oder Holland, sondern überwiegend aus Frankreich, Spanien, Italien, Portugal etc. Würde die EZB diese Schuldscheine nicht aufkaufen, würden deren Zinsen zwar rasant steigen, der Marktwert der Guthaben aber noch rasanter sinken. Das ist auch der Grund, warum es die Gläubiger der «Euro-Südstaaten» – vor allem deutsche Banken – vorgezogen haben, ihre Guthaben gegen einen Negativzins an die EZB abzutreten. So gesehen hat die EZB die Sparer eben gerade nicht enteignet, sondern sie hat deren Schaden begrenzt.
Und welche konkreten Schlüsse kann man aus diesen Überlegungen ziehen? Nun, es bedeutet, dass wir nicht länger im Dialog mit der Finanzwelt kenntnisreich über die Feinheiten der Geldpolitik philosophieren und uns den Kopf von Mario Draghi zerbrechen sollten. Stattdessen müssen wir uns endlich dem wirklich dringenden Problem zuwenden – dem der ungleichen Einkommensverteilung. Da geht es etwa um höhere Löhne, um Rückverteilung über die Steuern und um ein schärferes Kartellrecht. Geldpolitik hat da allenfalls eine unterstützende Funktion.
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* Tipp zur Recherche: Auf der Website Economic and Financial Affairs die Punkte 14.3, 15.3 und 16.3 anklicken. Dort jeweils vor «net lending» ein Häkchen setzen. Unten rechts auf «next» klicken.
Auf der nächsten Seite erscheint je eine Maske mit den Ländern (uns interessiert die Euro Area) und mit den Jahreszahlen. Durch die entsprechende Auswahl in den Masken kann man sich die die Nettofinanzierungsüberschüsse bzw. -defizite der Unternehmen (14) der Privathaushalte (15) und der Staatshaushalte (16) anzeigen lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
"Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär› ich nicht arm, wärst Du nicht reich.» – Bertolt Brecht.
Zum Thema Schuldenberge – Guthabenberge könnte man auch zynisch sein und einen berühmten Finanzbetrüger zitieren, der zu seinen Opfern gesagt haben soll «Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Geld ist nicht verloren, es ist nur woanders».
In der EU wie in der Schweiz und anderswo gilt das Motto: Gewinne privatisieren, Schulden vergesellschaften.
Und was machen wir aus dieser Analyse? Etwa den Staat bitten, die Reichen mehr zu besteuern, oder die Reichen bitten, die Löhne zu erhöhen? Das hiesse den Bock zum Gärtner machen. Nein, die Veränderung kann nur von den Opfern selbst aus gehen. Die Lohnsklaven haben am meisten Interesse, irgend etwas zu verändern. Das wäre dann die sozialistische Revolution…
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