NZZ Standpunkte: Die neuen Leiden der Reichen
«Zerbricht unsere Gesellschaft?» lautete die Frage der letzten «NZZ Standpunkte» mit dem Philosophen Peter Sloterdijk (siehe Link unten). Als Stichwortlieferanten fungierten der NZZ-Chefredaktor Markus Spillmann und der NZZ-Journalist Marco Färber. Was kühn als Gespräch über den «brüchigen gesellschaftlichen Zusammenhalt in der heutigen Zeit, über die Wut der Bürgerinnen und Bürger sowie über den Stellenwert von Solidarität, Verantwortung und Bürgersinn» angekündigt war, steuerte wortreich an der brennenden, sozialen Frage des heutigen Europas vorbei und endete groteskerweise mit einem Klagelied auf die armen Reichen, welche sich vom Staat «nicht respektiert» fühlen (Sloterdijk) und denen es «an den Kragen geht» (Spillmann).
Beeindruckt von der Aura des Meisters
Gleich zu Beginn des Gesprächs proklamierte Sloterdijk die Bankrott-Erklärung seiner eigenen Zunft und auch der Politik, also des Geistes und der Macht: Angesichts der Krise seien die Philosophen «ratlos» und die Politiker «beratungsresistent». Deshalb seien die Prognosen «nicht sehr günstig». Mit diesem sokratischen Gehabe des Nichtwissenden täuschte Sloterdijk über die Tatsache hinweg, dass er in der Vergangenheit die beklagte Ratlosigkeit immer wieder mit geistigen Nebelpetarden selbst gefördert hat.
Spillmann und Färber – offensichtlich beeindruckt von der Aura des Meisters – tasteten sich vorsichtig an ihn heran. Wohlwissend, dass er früher oder später das Gewünschte von sich geben würde. «Braucht es möglicherweise zuerst die Revolution, um die Beratungsresistenz der Macht aufzubrechen?», wollte Discipulus Spillmann ebenso umständlich wie wichtigtuerisch wissen. Worauf sich der Meister vor der Beantwortung der Frage drückte und in Gemeinplätze flüchtete: Die Politik-Beratung sei zu einem lukrativen Geschäftsmodell geworden und die Politiker würden die Probleme nicht mehr lösen, sondern nur noch vor sich herschieben.
Sloterdijk verdampfte in esoterische Sphären
Spätestens jetzt hätte man die eine oder andere Frage zur Entstehung und zu den Folgen der Finanz-und Schuldenkrise in der EU erwartet, zur Verschiebung des Volksvermögens von unten nach oben, zu Schwarzgeld und Steuerflucht, zu den EU-Sparpaketen und den drohenden sozialen Unruhen. Fehlanzeige! NZZ-Journalist Färber navigierte in ruhige Gewässer: «Die Welt ist aus den Fugen geraten. Ist das eine richtige Diagnose?»
In seiner Antwort sprang der Verwirrungskünstler Sloterdijk von Shakespeare über Trotzki bis zu Marx, während ihm die passenden, neoliberalen Säulenheiligen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman erstaunlicherweise nicht einfallen wollten. Trotzkis Worte von der «permanenten Revolution» modifizierte Sloterdijk zur «permanenten Improvisation» und doppelte mit einem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest (1848) von Marx und Engels nach: «Alles Ständische und Stehende verdampft». Schliesslich «verdampfte» der frühere Bhagwan-Anhänger Sloterdijk in esoterische Sphären: «Das Gefühl, dass die Welt selber irgendwie in einer zuständlichen Form um die Mitte herum auf berechenbare Weise oszilliert, ist nicht mehr da».
Intellektuelle Vernebelungsaktion mit Trotzki und Marx
Spillmann fragte höflich nach: «Wo sehen Sie in der heutigen Zeit das Revolutionäre?» In der «Beschleunigung der Kommunikations-Technologien», wich Sloterdijk der zentralen, sozialen Frage erneut aus und war flugs bei den «Krisen der Buchdruck-Gesellschaften», den «Gartenlauben», den «Hausväter-Zeitschriften», dem Pazifisten Stefan Zweig, der Schweiz als «einer Insel der Seligen» und schliesslich beim Zürcher Dadaismus.
Diese intellektuelle Vernebelungsaktion motivierte Spillmann zu einer weiteren, einfühlsamen Frage: «Sind die Sorgen der Menschen auf der Strasse um ihre Arbeitsstelle, den Euro und den Zusammenhalt Europas irrelevante Themen für den Philosophen?» Auch jetzt dribbelte Sloterdijk kunstfertig um die sichtlich beeindruckten NZZ-Journalisten herum, rekurrierte erneut auf Trotzkis «permanente Revolution», die sich nicht in der Sowjetunion, sondern im Westen verwirklicht habe, insbesondere mit der «unerschöpflichen Erfindungskraft der modernen Technik». Es folgte ein wirrer Exkurs, von den «transnationalen Synchronwelten» über die marxistischen Begriffe von Basis und Überbau bis zu den 1,5 Millionen Verkehrstoten, den Zusatzstoffen im Joghurt und den Emulgatoren im Brotteig.
Spillmann jammert: «Den Reichen geht es an den Kragen»
NZZ-Journalist Färber startete einen weiteren, schüchternen Versuch: «Ist die aktuelle Gesellschaft brüchiger geworden?» Diesmal wich Sloterdijk ins Thema der «Familienstrukturen» aus, welche zerfallen und verwies hoffnungsvoll auf die «interessanten Freundschaftskulturen unter den jungen Leuten», welche durch das Handy und das Adressbuch befruchtet würden. Das Gespräch blieb hoffnungslos: Der Befragte steigerte sich in immer neue Vernebelungsaktionen und seine Interviewer liessen ihn staunend gewähren. Die brennende soziale Frage blieb aussen vor.
Stattdessen begann Spillmann mit dem Lamento über die neuen Leiden der armen Reichen: «Den klassisch Reichen geht es doch heute eher an den Kragen». Diesen Steilpass liess sich Sloterdijk nicht entgehen. Bereits früher hatte er in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) die «Revolution der gebenden Hand» gefordert und den Sozialstaat als «Staats-Kleptokratie» und als «geldsaugendes Ungeheuer» heruntergemacht, welcher die Reichen durch progressive Steuern zwangsenteigne. Als Alternative propagierte Sloterdijk das Modell der Steuerbefreiung und der freiwilligen Zuwendung der Steuerbürger an das Gemeinwesen (siehe Link unten). Das Problem liegt laut Sloterdijk beim Steuerstaat, der die Reichen «nicht respektiert» und sie zu Schuldnern degradiert, wo diese doch das natürliche Bedürfnis hätten, freiwillig zu spenden.
Der Zornbürger würde kurzen Prozess machen
Nachdem die drei Weisen die bedauernswerten Reichen an die Stelle der sozial Betroffenen der Banken- und Schuldenkrise gerückt hatten, zoomte der NZZ-Chef Spillmann auf die europäischen Demokratien und die «Wutbürger». Erstmals verteilte der Meister eine Rüge: Der Wutbürger sei eigentlich ein «Zornbürger» und dürfe nicht durch eine begriffliche Abwertung «lächerlich gemacht werden». Der Zornbürger sei nämlich ein guter Bürger, der nicht mehr bereit sei, «Unrecht hinzunehmen».
Für kurze Zeit keimte Hoffnung auf, doch Sloterdijk manövrierte den Diskussionszug erneut auf ein Nebengleise, nämlich auf den Widerstand gegen das Bahnhofprojekt Stuttgart 21. Vergeblich wartete man als Zuschauer auf eine kritische Frage, welche die Zornbürger in den südeuropäischen Ländern mit der ungleichen Verteilung des Reichtums in Verbindung gebracht hätte. Mit der Sloterdijkschen «Revolution der gebenden Hand» jedenfalls würden die Zornbürger Spaniens und Griechenlands kurzen Prozess machen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Gratuliere! Ich habe diese Sendung mit grosser Erwartung angeschaut und kam zum gleichen Ergebnis. Kurt Marti bringt die magere Ausbeute dieser Diskussion treffend auf den Punkt. Herzlichen Dank! István Fata
Kritik der zynischen Vernunft. Das war grossartig. Aber seither gibt er nichts mehr recht her. Ob er wohl selber noch versteht, was er redet? Mein Kommentar: drei bekiffte, kurzsichtige, schwerhörige Herren mit Brille in der Sauna.