Mit Negativ-Zinsen noch tiefer in die Sackgasse
Das Massnahmen-Paket der Europäischen Zentralbank EZB bewertet Joachim Voth, Wirtschaftsprofessor an der Universität Zürich, im Tages-Anzeiger als ein «Zeichen der Verzweiflung». Die Massnahmen seien «ein falsches Signal», doppelt der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Clemens Fuest in der NZZ nach, «weil sie Kredite zu billig machen und sogar Anreize zur weiteren Verschuldung setzen».
Tatsächlich kam hier und dort in den letzten Jahren bescheidenes Wirtschaftswachstum nur deshalb zustande, weil sich diese Länder noch mehr als schon bisher verschuldeten. Wachstum über alles, auch wenn der Schuldenberg weiter zunimmt, war die Politik der letzten Jahrzehnte. Und wenn Wachstum nicht anders zu erreichen war, als auf Kredit, dann nahmen «Chefökonomen» von Nationalbanken, Banken und Regierungen eine weitere Verschuldung in Kauf.
Gefährliche Sackgasse: Viele Staaten sind nicht mehr in der Lage, für ihre Schulden höhere Zinsen zahlen
Die Risiken dieser Politik sind gewaltig: Die meisten westlichen Industriestaaten haben so viele Staatsobligationen im Keller, dass sie die Zinsen nicht mehr zahlen könnten, wenn die Zinssätze auf drei, vier oder fünf Prozent steigen würden. Das hat zwei gravierende Folgen:
- Der im letzten Jahrhundert übliche Weg, Schulden mit einer hohen Inflation zum Verschwinden zu bringen, ist versperrt. In der NZZ kommentierte Wirtschaftschef Peter A. Fischer etwas allgemeiner: «Die Kosten eines späteren Ausstiegs aus der unkonventionellen Geldpolitik werden weiter steigen.» EZB-Chef Draghi hätte auf die jüngsten Massnahmen besser verzichtet, meint Fischer.
- Denn sobald die Inflation anzieht, schlägt die Stunde der Wahrheit: Insolvenzerklärungen beziehungsweise «Staatsbankrotte» würden wohl unausweichlich. Grosse Abschreiber auf den Schulden würden fällig («Schuldenschnitt»). Der Preis dafür wird höher sein, als wenn man nach dem Ausbruch der Finanzkrise überschuldete Banken abgewickelt hätte.
Die Besitzer von Staatsanleihen müssten als Gläubiger einen grossen Abschreiber in Kauf nehmen. Für einen solchen Fall haben Grossbanken Nordeuropas vorgesorgt und einen grossen Teil der Staatsanleihen an Staaten und Nationalbanken abgetreten. In Südeuropa dagegen wurden grosse Banken gezwungen, Anleihen ihrer eigenen Staaten zu kaufen. Welche Verluste Banken und Versicherungen im Falle von Staats-Insolvenzen hinnehmen müssten, und mit welchen Folgen, ist unklar.
Zu den Verlierern zählen schon heute Sparer, gegenwärtige und künftige Rentnerinnen und Rentner, Leute mit Lebensversicherungen. «Die Sparer müssen noch lange darben», titelte die NZZ am 4.4.2014, denn der IWF rechne auf Jahre hinaus mit niedrigen Realzinsen.
Zu den Gewinnern gehören bereits heute Leute, die in Immobilien, Land und Aktien investieren konnten.
Doch Notenbanker und Regierungen lassen sich nicht davon abbringen, die Schuldenkrise und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit mittels Wirtschaftswachstum in den Griff zu bekommen. Es ist dies das Rezept des letzten Jahrhunderts. Die obersten Verantwortlichen haben in ihrer Ausbildung nie etwas anderes gelernt. Sie hängen immer noch der Illusion nach, die angehäuften Megaschulden eines Tages mit einem hohen längerfristigen Wirtschaftswachstum abzubauen. Sie lassen sich nicht davon abhalten, obwohl dieses «Rezept» in der Vergangenheit fast nie funktionierte, und obwohl die Schuldenberge noch nie so hoch waren wie heute.
Es ist zu befürchten, dass die EZB bei Verpuffen der jüngsten Massnahmen versuchen wird, nach dem Vorbild der US-Notenbank FED mit dem massenweisen Kauf von Staatsanleihen und Hypothekenpapieren das Wachstum anzukurbeln, selbst wenn die EZB-Statuten damit krass verletzt werden.
Die Folgen dieser künstlich aufgeblähten Geldschwemme und der Null-Zins-Politik sind für die Konsumentinnen und Konsumenten gravierend. In den USA hat Richard Barrington vom Finanzportal «Money-Rates» laut einem Bericht der NZZ den Verlust an Kaufkraft geschätzt, der in den USA allein bei den Bankeinlagen entstanden ist: 750 Milliarden Dollar in den letzten fünf Jahren.
Politik unter dem Einfluss der Grossbanken lahmgelegt
Gleichzeitig agiert die äusserst einflussreiche Lobby der Grossbanken auf nationaler und internationaler Ebene äusserst agil, um eine alternative Politik zu verhindern. Folgende Massnahmen haben sich in den letzten Jahren aufgedrängt, ohne dass sich viel bewegt hätte. Sechs Jahre nach dem beinahen Finanz- und Wirtschafts-GAU von 2008 ist die Bilanz mehr als ernüchternd:
- Noch immer können Grossbanken darauf zählen, dass der Staat sie rettet. Ein geregeltes nationales oder internationales Konkursverfahren hat die Bankenlobby mit Erfolg verhindert. Für diese grossen Konzerne ist das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, in welcher der Konkurs eine zentrale Rolle spielt, nur Fassade. Die EU-Beschlüsse zur Abwicklung von bankrotten Grossbanken sind wenig wert.
- Noch immer profitieren Banken davon, dass sie nur ein bescheidenes Eigenkapital brauchen: Die Parlamente zeigen sich unter dem Druck der Finanzlobby unfähig, den Grossbanken ein Eigenkapital von zwanzig oder dreissig Prozent vorzuschreiben (ungewichtet in Prozent der Bilanzsumme). Die Eigenmittelquote liegt bei UBS und CS gegenwärtig bei unter 4 Prozent.
- In Südeuropa dürfen Banken Staatsobligationen in ihren Bilanzen zum Wert von 100 Prozent bewerten, anstatt zum viel tieferen Marktwert. Deshalb halten spanische, griechische und italienische Banken nach Angaben der Europäischen Bankenaufsicht EBA über 70 Prozent der Staatsanleihen ihrer jeweiligen Länder.
- In Nordeuropa konnten private Banken und Versicherungen risikoreiche Staatsanleihen an Staaten und die Europäische Zentralbank verschieben. Bei nächsten staatlichen Schuldenschnitten kommen vor allem die Steuerzahler zur Kasse.
- Noch immer können «Schattenbanken» weitgehend unreguliert spekulieren: Hedge Funds, Versicherungs- und Industriekonzerne sowie Immobilienspekulanten. Auch in China und anderswo breiten sich Schattenbanken aus.
- Noch immer werden der rein spekulative Hochfrequenzhandel und andere rein spekulative Transaktionen dank Steuerbefreiung gefördert statt eingeschränkt. Eine weit gefasste Finanztransaktionssteuer ist an den Krisengipfeln aus den Traktanden gefallen. Ein Vorstoss der EU-Kommission findet bei etlichen Regierungen von EU-Ländern keine Gnade. Der britische und der schwedische Finanzminister warnten vor «wirtschaftlichen Schäden», weil eine Finanztransaktionssteuer «die Zinsen erhöhen und die Liquidität senken» könnte. Hinter dieser Haltung stehen die Finanzkonzerne, die sich aus kurzfristigen Eigeninteressen gegen eine solche Steuer wehren.
Mit den Milliarden-Einnahmen aus einer solchen Steuer könnten soziale Folgen der Wirtschaftskrise abgefedert und Investitionen getätigt werden, ohne der Realwirtschaft zu schaden und ohne die Schuldenberge zu erhöhen (siehe «Die Milliarden endlich bei den Spekulanten holen»). - Noch immer bleiben die grössten Steuerparadiese wie der US-Staat Delaware oder die Cayman Islands unangetastet. In Delaware gibt es noch immer fast eine Million Briefkastenfirmen, die zusammen jedes Jahr viele Milliarden Dollar Steuern legal hinterziehen.
- Garantie der Bankeinlagen: Eine stark verbesserte Garantie aller Bankeinlagen wird einen Run auf Banken am ehesten verhindern. IWF-Chefin Christine Lagarde schlägt ein europaweites Einlageversicherungs-Programm vor. Dazu bräuchte es allerdings Zustimmung sämtlicher Parlamente. In der Schweiz sind pro Bank 100’000 Franken Privateinlagen vom Staat garantiert, jedoch nur bis zu einer Gesamtsumme von 6 Milliarden Franken. Bei Banken-Pleiten ist dieser Betrag schnell aufgebraucht.
Die Mittel wären vorhanden, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die Schuldenberge abzubauen. Die Unfähigkeit, die enormen Risiken zu reduzieren, stellt die Funktionsfähigkeit der traditionellen nationalen Demokratien in Frage. Sie schaffen es nicht, globales Handeln durchzusetzen. Die Regierungen verkaufen kleine, ungenügende Schritte in die richtige Richtung als grosse Erfolge und streuen den Bevölkerungen Sand in die Augen.
Es wäre besser, rasch einen Kassensturz zu machen und das Unvermeidliche zu tun: die Schulden rechtzeitig geordnet zu rekonstruieren. Alle Gläubiger würden zwar viel Geld verlieren, aber wir hätten noch die Wahl, wie.
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Eine Studie des Weltwährungsfonds IMF vom 3.1.2014 hält Zahlungsausfälle wie nach 1929 für wahrscheinlich. Anders als in Schwellenländern könnten Industriestaaten ihre Probleme nicht allein mit Wirtschaftswachstum lösen.
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Siehe:
- Werner Vontobel: «Die Schuldenberge sind nicht schuld an der Krise»
- Urs P. Gasche: «Wachsende Schulden können Krise auslösen»
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Siehe auch
- «Die Billionen Schuldenbombe» vom 22.1.2014
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Urs P. Gasche ist mit Hanspeter Guggenbühl Autor des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr», Rüegger Verlag 2010, 15.60 Fr.
Die Zentralbanken haben gar keine andere Wahl, als Geld zu drucken. Mit den tiefen Zinsen verflacht sich die steile Kurve des Geldmengenwachstums ein klein wenig. Wenn die Zinsen hoch sind, wird die Kurve steiler und der Kollaps kommt schneller. Also durchaus eine «verzweifelte Aktion", mit welcher ein weneli Zeit gewonnen wird. Der Kollaps ist aber systeminhärent und mit nichts abwendbar… periodisch, wie die Geschichte zeigt. Verlierer sind nicht nur die freiwilligen Sparer, sondern und vorallem die Pflichtsparer über die 2. Säule. Was wird von diesen Werten abzüglich der Performence-Boni übrig bleiben?
Dead end street nennt man das auf Neudeutsch, wie lange glauben die Boersen noch an Maerchen? Wie lange kann Mario Draghi noch Sprueche klopfen? Warum ist Janet Yellen ploetzlich so still? Wie lange wird die CSG noch Gewinne ausweisen und hohe Boni bezahlen?