Die Credit Suisse oder das Debakel von Casino Suisse
Der aktuelle Absturz der Credit Suisse kommt nicht überraschend. Seit Jahren macht diese Bank Schlagzeilen mit wiederholten Skandalen und Verlusten sowie mit einer Geschäftsführung, die nicht nur keine klare Ausrichtung vorgab, sondern schamlos von der Situation profitierte.
Urteilen Sie selber. Brady Dougan, der die Bank zwischen 2007 und 2014 leitete, erhielt eine Vergütung von etwa 160 Millionen Franken, während der Börsenkurs im gleichen Zeitraum um 70 Prozent fiel. Sein Nachfolger Tidjane Thiam bezog in viereinhalb Jahren rund 64 Millionen Franken. Gleichzeitig sank der Aktienkurs um weitere 40 Prozent. Der im Anschluss tätige CEO Thomas Gottstein verdiente 2021 3,8 Millionen Franken trotz der Kosten, die der Bank durch zweifelhafte Geschäfte sowohl mit dem Greensill– als auch mit Archegos-Fonds entstanden waren. Dessen Gründer war übrigens von der US-Gerichtsbarkeit im Jahr 2012 wegen verschiedener Finanzvergehen verurteilt worden.
Und der Verwaltungsratsvorsitzende Urs Rohner schliesslich erhielt während seiner Amtszeit von 2011 bis 2021 Bezüge in Höhe von über 40 Millionen Franken, während der Aktienkurs derweil etwa 70 Prozent seines Wertes verlor.
Eine vollständige Aufzählung aller Fehlschläge und Skandale wäre hier zu lang.
Katastrophale Performance und skandalöse Vergütungen
Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle nur noch folgende ganz einfache Frage stellen: Rechtfertigen die «Leistungen» dieser «Führungsverantwortlichen» solche astronomischen Gehälter? Die Antwort auf diese legitime Frage müsste die Mitarbeitenden dieser Bank, ihre Kunden, die Steuerzahler und ganz allgemein die Schweizer Bürger eigentlich interessieren – also all diejenigen, die am Ende, wenn sich die unkontrollierten Entgleisungen und fragwürdigen Finanzkonstrukte eines systemrelevanten Finanzinstituts angehäuft haben, die aufgelaufene Rechnung in irgendeiner Form bezahlen müssen.
Die meisten kennen die Antwort bereits, denn dazu braucht es keinen Doktortitel in Wirtschaft oder Finanzen. Der gesunde Menschenverstand reicht vollkommen. Die Antwort liegt auf der Hand! Der Wirtschaftsliberalismus, auf den sich all diese Führungskräfte so gerne berufen, geht davon aus, dass die Bezahlung von Arbeitsproduktivität und Leistung abhängen soll. Und an beidem fehlt es seit langem. Der Wert der Aktien, den die Verantwortlichen als wichtigsten Massstab beschwören, ist seit Ende April 2007 auf unter fünf Prozent des damaligen Wertes zusammengebrochen. Es muss deshalb einleuchten, dass die genannten Vergütungen durch nichts zu rechtfertigen und nachgerade skandalös sind.
Finanzcasino
Es ist ein Grundprinzip des Liberalismus, für die eingegangenen Risiken und Verluste geradestehen zu müssen. Es verstösst grob gegen dieses Grundprinzip, mit Steuergeldern zu zocken und sich schamlos auf Kosten anderer zu bereichern.
In den 80er Jahren war die grosse Beteiligung der Credit Suisse an der Investmentbank First Boston ein Einstieg in die Welt des Finanzcasinos mit ihren komplexen Finanzprodukten und ihren Wetteinsätzen im grossen Stil – den Derivaten, welche die schnelle Anhäufung von Profiten garantieren und so die extravaganten Entlöhnungen der Geschäftsleitungen rechtfertigen sollten.
Heute stehen wir am Ende eines Zyklus, mit einem Top-Management, dessen Rausch noch nicht vollständig verflogen ist und das jetzt, nach Jahren am Spieltisch, merkt, dass die Einsätze verspielt wurden und die Taschen leer sind.
Nicht-Sehen-Wollen
Finanzanalysten, Auditoren, die Politik, Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler haben – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bewusst weggeschaut. Das ist beunruhigend.
Die Zahlen sind seit Langem bekannt. Schaut man sich die Geschäftsberichte der Credit Suisse genau an, findet man dort die Nennwerte dieser Finanzderivate: das 36-Fache der Bilanzsumme von 2017, das 22-Fache der Bilanzierung 2020 beziehungsweise das 25-Fache des gesamten schweizerischen Bruttoinlandprodukts BIP (siehe auch La faillite de Lehman Brothers et celle d’un système, Marc Chesney, Le Temps, 2018).
Diese Verhältniszahlen sind zwischen 2017 und 2020 zwar gesunken, aber nach wie vor gewaltig. Sie bleiben ein wichtiger Bestandteil des Problems. Zieht man zum Vergleich die Zahlen der UBS heran, ist erkennbar, dass dort 2017 die Derivate das 20-Fache der Bilanzsumme ausmachten und 2020 das 18-Fache beziehungsweise das 29-Fache des Schweizer Bruttoinlandprodukts. Also etwas weniger, aber immer noch völlig unverhältnismässig.
Wie sieht es denn mit dem aktuellen Eigenkapital der Credit Suisse Ende Juni 2022 aus? Die Situation der Credit Suisse, die sich fast täglich verschlechtert, wirkt sich natürlich auf die Bilanz aus. Die Zahlen des Halbjahresabschlusses sind nicht mehr aussagekräftig.
Worauf warten die «Experten» denn noch, um Alarm zu schlagen? Wenn sie von den Banken, die sie analysieren sollen, Honorare beziehen, und zwar oft nicht zu knappe, führt dies offensichtlich zu Interessenkonflikten und Befangenheit. Doch die Steuerzahler haben ein Anrecht darauf, dass die Banken, zu deren Rettung sie im Notfall beitragen müssen, einer seriösen Lagebewertung unterzogen werden.
Die SIX Group, welche die Börse verwaltet, veröffentlicht Statistiken über den Nennwert der Finanz- und insbesondere der Aktienderivate in der Schweiz. In diesem Zusammenhang waren für manche Wochen erschreckende Zahlen zu lesen: In der zweiten Oktoberwoche 2020 wurde ca. das 27‘000-Fache des Schweizerischen Bruttoinlandproduktes erreicht, in der letzten Maiwoche 2021 das 53‘000-Fache des BIP und im Jahr 2022 kurz nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine etwa das 3‘750-Fache des für dieses Jahr zu erwartenden BIP. Wie ist es möglich, dass Finanzderivate, die eigentlich als Versicherung gegen finanzielle Risiken gedacht sind, ein derartiges Ausmass annehmen und derartigen Schwankungen unterworfen sind?
Es ist nicht nachvollziehbar, dass die finanziellen Absicherungen der Schweiz einen Betrag in Höhe von mehreren zehntausend Mal das inländische BIP beziehungsweise von mehreren Dutzend oder sogar mehreren hundert Mal das weltweite BIP erforderlich macht. Eine wesentlich geringere Grössenordnung müsste ausreichen.
Nehmen wir zur Erklärung das Beispiel einer Familie, wobei das Jahreseinkommen dem BIP entspräche. Der Nennwert der für die Wohnung, das Auto und vieles andere abgeschlossenen Versicherungsverträge sowie der zusätzlichen Lebensversicherung, welche bei Unfall oder im Todesfall ausgezahlt würde, beträgt schnell das 10-Fache oder sogar noch mehr des Jahreseinkommens, falls die Familie sehr reich ist, aber nicht das 30‘000-Fache!
Wenn allerdings die Familie Lebensversicherungen auch für Nachbarn abschliessen dürfte, deren ungesunde und riskante Lebensführung bekannt ist, wäre vorstellbar, dass sie das in grossem Umfang tun würde. Dann ginge es nicht mehr darum, selber versichert zu sein, sondern man würde vielmehr darauf wetten, dass der Nachbar frühzeitig stirbt oder verunfallt. Man könnte sogar versucht sein, das ungesunde und riskante Leben dieser Nachbarn möglichst zu fördern.
In der Finanzwelt ist es gang und gäbe, auf die Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen, mit denen keinerlei Geschäftsbeziehungen bestehen, zu spekulieren und möglicherweise die Zahlungsunfähigkeit dann zu provozieren. Man wettet auf ihre Zahlungsunfähigkeit, ihren Erfolg oder ihre Rettung.
Höchstwahrscheinlich sind die astronomisch hohen Werte der Finanzderivate in der Schweiz auf solche Wetten zurückzuführen. Falls die Wetten von systemrelevanten Banken zu Verlusten führen, müssen in letzter Instanz die Schweizer Steuerzahler geradestehen.
Wie hoch ist die Verstrickung der Credit Suisse Ende 2022? Das bleibt geheim. Nur gewisse Insider wissen es.
Aus der Blackbox der Statistiken lässt sich nichts entnehmen. Staatliche Stellen müssten vollständige Klärung einfordern. Denn die jetzige Situation gefährdet die finanzielle Stabilität des Landes.
Bezeichnenderweise sind die Preise der Derivate, die sogenannten Credit Default Swaps, die eigentlich gegen eine Zahlungsunfähigkeit der Credit Suisse absichern sollen, kürzlich durch die Decke gegangen. Die normalen Steuerzahlenden wissen nicht, welches die Player sind, die um den Spieltisch versammelt sind. Also welche Finanzinstitute und insbesondere Spekulationsfonds, die darauf setzen, dass die Credit Suisse demnächst insolvent wird. Und die normalen Steuerzahlenden kennen die Namen derjenigen nicht, die im Gegenteil darauf wetten, dass die CS vom Staat, das heisst von ihnen, gerettet wird.
Diese Informationen müsste der Staat einfordern und transparent machen, sei es nur aus Achtung vor den Steuerzahlern, die im Falle eines Falles keine andere Wahl hätten, als die Bank zu unterstützen.
Abschliessend sei noch darauf hingewiesen, dass die Credit Suisse an zahlreichen Netzwerken der sogenannten nachhaltigen Finanzwirtschaft beteiligt ist, beispielsweise an UN Global Compact, Swiss Sustainable Finance oder Net-Zero Banking Alliance. Jede Wette, dass das Finanzcasino in Zukunft seine Einsätze auch auf diesen Teppich schiebt, dessen grüne Farbe Nachhaltigkeit vorgibt.
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Dieser Beitrag erschien am 28. Oktober in gekürzter Form in Tamedia-Zeitungen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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… und immer wieder wird sie manifest: die Welt einer kollektiv organisierten Gleichgültig- und Verantwortungslosigkeit, wo vor allem Mächtige und Reiche tun und lassen können, was und wie sie es wollen. Traurig aber wahr, dass offensichtlich dagegen kein Kraut gewachsen ist!?
Dafür gibt es einen Begriff: ‹control fraud›. Der besteht darin, dass eine Person oder Gruppe mit krimineller Energie die Kontrolle über ein Unternehmen – oft eines aus der Finanzbranche – übernimmt und es mit Risiken vollstopft, dadurch zwar kurzfristige Gewinne erzielt, aber das langfristige Bestehen der Firma gefährdet. Real sind dabei jeweils nur die Löhne, Boni und Vergütungen des Top Management. Der Grund warum alle ‹wegschauen› ist auch unmittelbar klar: Sie alle profitieren davon. Die Folgen trägt dann der Staat, d.h. die Steuerzahler…