Attentäter wirft Licht auf riskantes Börsen-Casino
Wenn manchmal Einzeltäter, meistens aber Hedge Funds, Grossbanken und andere private Investoren an der Börse eine Wette eingehen, dass der Börsenkurs eines Wertpapiers innerhalb weniger Tage oder Wochen stark sinkt oder steigt, locken mit einem lächerlich kleinen Einsatz Gewinne von mehreren hundert oder tausend Prozent.
Der 28-jährige Sergej W. wollte die Mannschaft des Fussball-Clubs Borussia Dortmund offensichtlich deshalb in die Luft sprengen, damit der Börsenkurs der Borussia-Aktie nach unten sackt und er dann einen hohen Spekulationsgewinn einstreichen kann. Wenige Stunden vor dem Anschlag hatte Sergej W. nach Angaben der deutschen Bundesanwaltschaft 15’000 Put-Optionsscheine gekauft, die ihm erlaubt hätten, nach einem Kurssturz der Borussia-Aktien einen hohen Gewinn einzustreichen. Unmittelbar vor diesem Kauf hatte Sergej W. nach Auskunft der Ermittler einen Konsumkredit in dreistelliger Höhe aufgenommen. Das berichtete Zeit-online am 12. Mai.
Hedge Funds, Grossbanken und andere Investoren haben es meistens nicht auf die Aktien eines Fussballclubs, sondern auf den Ausfall von Obligationen oder sogar auf die Pleite eines grossen Unternehmens oder eines ganzen Staates abgesehen. Sie sprengen zwar niemanden in die Luft, setzen aber alle noch legalen Mitel ein, um ihre viel grösseren Wetten zum Erfolg zu bringen.
Wetten, dass der Nachbar einen Autounfall baut
Der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney kritisiert schon seit Jahren, dass die Börsen immer weniger der realen Wirtschaft dienen. Die Börse sei heute zu einem gefährlichen, schlecht regulierten und wenig transparenten Wettcasino verkommen. Derivate wie Optionen oder CDS (Kreditausfall-Swaps) sollten eigentlich dazu dienen, tatsächlich eingegangene Risiken abzusichern. Für diesen Zweck sind sie sinnvoll. Doch heute werden CDS-Zertifikate häufig gekauft, ohne dass deren Käufer ein entsprechendes Risiko abzusichern hätten. CDS und Optionsscheine dienen also meistens nicht mehr einer Absicherung, sondern es sind reine Wetten auf einen Zahlungsausfall oder einen Konkurs (CDS) respektive auf stark steigende oder fallende Aktienkurse (Optionen).
«Im normalen Leben ist so etwas verboten», meint Chesney: «Niemand kann eine Autoversicherung abschliessen, ohne ein Auto zu besitzen». Man könne auch keine zehn oder hundert Versicherungen für das Auto seines Nachbarn abschliessen, wenn man weiss, dass dieser schlecht fährt, in der Hoffnung, dass er einen Unfall hat, oder in der Absicht, das Auto zu manipulieren.»
Zehnmal das Bruttoinlandprodukt sämtlicher Staaten
Anders aber bei der Finanzindustrie: Derivate wie Optionen oder CDS werden heute in erster Linie für reine Wettgeschäfte gehandelt. Und dies in einem unvorstellbaren Ausmass: Der Nominalwert der ausstehenden Derivate übersteigt das Bruttoinlandprodukt sämtlicher Länder um rund das Zehnfache*, erklärt Chesney. Es sei «paradox», dass unsere Gesellschaft «den Unternehmergeist sowie die Risikobereitschaft hochhält, aber gleichzeitig noch nie so viele finanzielle ‹Absicherungsprodukte› emittiert hat».
Aber eben: Die wenigsten der Käufer von Absicherungs-Optionen oder -CDS besitzen Wertpapiere oder Schuldpapiere, die es abzusichern gäbe. Es sind Spekulanten in einem internationalen Wettcasino. Wie Geier suchen sie überall nach Beute und bedrohen damit das Funktionieren des Finanzsystems, ein System, das ohne Vertrauen der Anleger in die Grossbanken und Versicherungskonzerne nicht stabil funktioniert und sogar zusammenbrechen kann.
Wetten auf Pleite der Investmentbank Lehman Brothers
Die Risiken illustriert Finanzprofessor Marc Chesney mit dem Fall Lehman Brothers. Vor dem Bankrott dieser Investmentbank im Jahr 2008 hatte der Versicherungskonzern AIG eine riesige Menge CDS auf Lehman Brothers verkauft. Das AIG-Management nannte diese Geschäfte eine «money machine», weil es davon ausging, dass diese Bank als systemrelevant gilt und deshalb in jedem Fall gerettet würde. Das sollte sich als Irrtum herausstellen. Grossbanken wie zum Beispiel Goldman Sachs kauften grosse Mengen CDS und wetteten damit auf den Bankrott Lehman Brothers. Da diese Wetten ein enormes Volumen erreichten, blieben die Bankrott-Herbeiwünscher wahrscheinlich nicht passiv. Am Schluss konnten sie riesige Gewinne verbuchen.
Über Risiken des Finanzcasinos wird zu selten informiert
Die SRF-Tagesschau, die Sendung «SRF-Börse» und manche grosse Schweizer Zeitungen berichten regelmässig über meist unbedeutende Vierteljahres(!)-Abschlüsse von Banken und Unternehmen. Über das gigantische Wachstum des Finanzcasinos mit den zunehmenden Risiken und Fehlanreizen dagegen informieren sie nur selten. Infosperber hat am 9.7.2016 darüber berichtet: «Kaum Infos über bedrohliche Lage auf Finanzmärkten».
Im Jahr 2015 bilanzierte allein die CS rund 33,6 Billionen Dollar Derivate (in englisch «Trillion»). Der Handel mit Derivaten bleibt weitgehend unkontrolliert. Eine grosse Mehrheit der Derivate wird ausserbörslich abgewickelt.
Finanzprofessor Marc Chesney
Um die Risiken zu verringern, fordert Chesney unter anderem, dass
- Optionsscheine und CDS nur noch zur Absicherung von effektiv eingegangenen Risiken gekauft und gehandelt werden dürfen. Mit andern Worten: Der Kauf eines Optionsscheins oder eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels bedingen.
- strukturierte Produkte von der Bankenaufsicht zertifiziert werden müssen;
- Hedge Funds und private Aktienfonds (private equity funds) streng reguliert werden.
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Das Borussia-Beispiel in Zahlen
Am Tag vor dem Attentat lag der Kurs der Borussia-Aktien bei 5.60 Euro. Der Attentäter Serjey W., der keine Borussia-Aktien besass, hat nach Angaben der deutschen Bundesanwaltschaft 15’000 Put-Optionsscheine gekauft und dafür vielleicht 9000 Euro bezahlt, also 60 Cents pro Optionsschein. Diese Optionsscheine gaben ihm das Recht (nicht die Pflicht), an einem bestimmten Tag der näheren Zukunft 15’000 Borussia-Aktien zum Preis von angenommen ebenfalls 5.60 Euro zu verkaufen. Je tiefer der Kurs der Aktie bis zu diesem Tag fällt, desto grösser der Gewinn. Sinkt der Aktienkurs von 5.60 lediglich auf 5.00 Euro, fällt weder Gewinn noch Verlust an, weil die Optionsscheine 60 Cents gekostet hatten. Sinkt der Kurs aber auf 4.40 Euro, kann Serjey W. 15’000 Aktien zu diesem Preis kaufen und sie am gleichen Tag in Ausübung der Option für 5.60 Euro wieder verkaufen. Das bringt ihm innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen eine Rendite von 100 Prozent. Wäre der Wert der Aktie am Stichtag als Folge eines erfolgreichen Attentats nur noch 3.20 Euro, wäre die in kurzer Zeit erzielte Rendite 300 Prozent.
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Wetten auf den Bankrott eines Staates oder eines Unternehmens
Als die «volkswirtschaftlich bedenklichsten Wetten» bezeichnet Professor Chesney Wetten auf die Zahlungsunfähigkeit eines Staates beziehungsweise auf den Kurszusammenbruch dessen Anleihen. Ohne Anleihen dieses Staates zu besitzen, können Hedge Funds, Grossbanken oder andere Investoren für wenig Geld beispielsweise Put-Optionsscheine kaufen, die ihnen das Recht (aber nicht die Pflicht) geben, an einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft die Staatsobligationen zu einem zum voraus bestimmten Preis zu verkaufen (ungedeckte Termingeschäfte).
Sinkt der Wert dieser Obligationen entgegen der Spekulation nicht, nützen ihnen ihre Optionsscheine nichts und sind deshalb wertlos. Die Besitzer üben die Option nicht aus und müssen deren Ankaufskosten als Verlust abschreiben.
Fallen jedoch die Kurse dieser Staatsobligationen wie erwartet in den Keller, können die Options-Besitzer die entsprechende Zahl von Staatsobligationen, die sie nicht besassen, zum stark gefallenen Kurs kaufen und dann ihre Verkaufsoption zum viel höheren Kurs ausüben. Der Gewinn kann schnell mehrere hundert Prozent erreichen.
«Pyromanische Feuerwehrstrategie»
Das gleiche gilt für Wetten mit Verkaufs- oder Kaufsoptionen auf Aktien ausgewählter Unternehmen. Sie können Manager unter Druck setzen, unverantwortliche Risiken einzugehen, ohne für sie geradestehen zu müssen. Solche Finanzwetten auf stark steigende oder stark sinkende Kurse «erzeugen völlig verfehlte finanzielle Anreize und damit Systemrisiken», sagt Professor Chesney. Man müsse diese beseitigen.
Bei den erwähnten grossen Profitaussichten ist das Interesse der Wettenden entsprechend gross, diesem Staat oder diesem Unternehmen, gegen die sie gewettet haben, mit gezieltem Verbreiten von Gerüchten und Anschwärzungen sowie mit raffinierten Lobbytätigkeiten zu schaden. Diese weltweiten Wetten im Ausmass von Billionen von Dollars und die dadurch erzeugten Aktivitäten lassen Risiken für das internationale Finanzsystem entstehen. Solchen Risiken begegnet das Wettcasino mit Emissionen von neuen, strukturierten Produkten, mit denen wiederum gewettet werden kann. «Wir haben es mit einer pyromanischen Feuerwehrstrategie auf Kosten der Realwirtschaft zu tun», sagt Marc Chesney.
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*Quellen: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ; Weltbank; McKinsey Global Institute
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Weiter gehende Informationen:
Marc Chesney: «Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise: Der Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie», Versus-Verlag Zürich, 2014, 19.90 CHF.
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Dieser Artikel erschien am 11. Mai im «Beobachter»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Auf den Bankrott von Staaten kann man nicht mehr wetten, die sind schon bankrott, so Griechenland, USA, Frankreich, Italien…..
Die Investmentbanker von Lehman Brothers hätten mit allen Mitteln im letzten Moment selbst auf ihren eigenen Untergang wetten sollen…
Die Geldschöpfung ist nicht das Problem, sondern was man mit ihr macht. Die einseitige Verteilung der Geldmenge (Wobei beim Geld die eine Seite den Besitz darstellt, die andere Seite die Schuld ist, da aus dieser über Kredite geboren) sucht Anlagen, welche in der Realwirtschaft zu wenig vorhanden sind. Darum werden von der Finanzbranche, täglich Strukturierte Produkte kreiert.
Die Gewinne welche Goldman Sachs und viele andere Spekulanten mit dem Kauf von Wetten auf den Absturz von Lehman-Bros erzielte, war nur möglich, weil der Staat die AIG rettete. Zur Vervollständigung und dem Verstehen solcher Spiele, bei welchem es mindestens zwei Kontrahenten braucht, gehört meiner Meinung jedoch zwingend die Frage, nach den Akteuren beim Staat (Absturz und Rettung)? Der Zufall spielt dabei wohl nur eine geringe Rolle?
Es ist erstaunlich, wie viele Politiker und deren Berater mit Goldman Sachs und der trilateralen Kommission verbunden waren oder sind.
Bei Wikipedia gibt es unter «trilaterale Kommission» eine Mitgliederliste.