Hochfrequenzhandel 1.tradingstrategyguies

Der computerisierte Hochfrequenzhandel an der Börse kann Kurse innerhalb von Millisekunden manipulieren: Ein Casino ohne volkswirtschaftlichen Nutzen. © tradingstrategyguides

An Universitäten ist die Realität des Finanzcasinos tabu

Urs P. Gasche /  Bei den Finanzkrisen von 2008 und 2023 hat auch die Finanzwissenschaft versagt, sagt ausgerechnet Finanzprofessor Marc Chesney.

Chesney hatte bereits im Jahr 2018 mit einer Gruppe von Professoren und Forschern von Schweizer Universitäten kritisiert, dass selbst zehn Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007/08 an den Universitäten immer noch alte, überholte ökonomische Theorien gelehrt werden.

Wenn man vielen Lehrplänen und Lehrbü­chern an hochangesehenen Universitäten in Nordamerika[1]  und Europa folge, erfahre man höchstens am Rande etwas davon, dass in den Jahren 2007/2008 eine Finanzkrise stattfand. Die eminente Rolle der spekulativen Derivat-Produkte blieben meist eine Randnotiz (siehe: «Ökonomie und Finanzen: das Monopol des vorherrschenden Denkens», Marc Chesney 2019). Die finanzakademische Welt habe sich von den Bedürf­nissen und Realitäten der Wirtschaft und Gesellschaft ab­gehoben.

Finanzprofessor Marc Chesney stellt unter anderen folgende drei Paradigmen in Frage, welche die dominierende ökonomische Theorie immer noch als gegeben voraussetzt:


1. Paradigma

«Die Finanzmärkte sind im Prinzip effizient und perfekt, und die Spekulation ist nicht wirklich problematisch. Sie bringt Liquidität an die Börse und spielt deswegen grundsätzlich eine positive Rolle.»

Diese Denkweise sei nicht zutreffend, sagt Marc Chesney: «Wie eine Wette kann auch die Spekulation an den Finanzmärkten positiv, neutral oder negativ sein.» Wenn jemand beispielsweise auf schlechtes Wetter wettet, habe dies keinen Einfluss auf die Zahl der Sonnen- oder Regenstunden am nächsten Tag. Als jedoch Hedge Funds und andere Finanzinvestoren mit Credit-Default-Swaps CDS oder Leerverkäufen auf den Kollaps von Lehman Brothers spekulierten, habe dies den Niedergang der Bank beschleunigt. In der Folge hätten 30 Millionen Menschen weltweit ihren Arbeitsplatz verloren. 

Auch bei der CS haben Baisse-Spekulanten den Niedergang beschleunigt oder sogar herbeigeführt. Der Börsenkurs der entsprechenden CDS schnellte in die Höhe.

Statt meistens effizient zu sein, seien Finanzmärkte in der Realität sehr oft manipuliert. Und wenn zu viele Derivate im Umlauf sind, entstünden unkontrollierbare Systemrisiken. 

Doch allzu viele Standardlehrbücher würden die Rolle von Derivaten bei der Finanzkrise von 2008 vernachlässigen oder sogar ignorieren. Das habe Folgen, wenn die Studierenden von heute morgen in der Führung einer Grossbank tätig sind.


2. Paradigma

«Das Spekulieren an den Börsen widerspiegelt stets reale Veränderungen in der realen Wirtschaft und dient dem guten Funktionieren der Finanzmärkte.»

Dieses Paradigma sei falsch, weil man im Hochfrequenzhandel Kurse manipulieren kann: Innerhalb weniger Augenblicke kann man Kaufverträge auslösen und wieder stornieren und so den Kurs in die Höhe treiben, um davon zu profitieren. In Nordamerika und in Europa werden heute mindestens 50 Prozent aller Börsengeschäfte im Hochfrequenzhandel abgewickelt. Die Aufträge werden vollautomatisch computergestützt ausgeführt. 

Algorithmen nutzen minimale Kursschwankungen aus. Eine mickrige Rendite wird mit einem grossen Kapitaleinsatz zu einer grossen Rendite. Bei einem Kauf oder Verkauf kann das High-Speed-Trading einen Vorsprung von ein paar Millisekunden oder Mikrosekunden zu den anderen High-Speed-Trading-Bietern Gewinne bringen. Diese Spekulationsgeschäfte haben mit dem guten Funktionieren der Finanzmärkte nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Kurse können manipuliert werden. Irgendeinen volkswirtschaftlichen Nutzen haben diese Wettgeschäfte ohnehin nicht. «Man kann ebenso gut ins Casino gehen», schrieb Finanzjournalist Werner Grundlehner in der NZZ. 

Schon vor elf Jahren kommentierte NZZ-Redaktor Christof Leisinger: «Der Wertpapierhandel ist vielfach zu einem reinen Selbstzweck geworden. Die extremste Variante ist der Hochfrequenzhandel. Ziel ist es, unabhängig von sonstigen Gegebenheiten, möglichst hohe Gewinne zu erzielen.» Dirk Müller, Börsenmakler, Fondsmanager und Buchautor, plädierte schon 2013 für ein Verbot des Hochfrequenz- oder Algorithmenhandels: «Solche Geschäfte galten früher als Kursmanipulationen.»

Ein Verbot müsse der Gesetzgeber erlassen, meinte die Schweizer Aufsichtsbehörde Finma gegenüber der NZZ. Sie habe «keine Konsumentenschützer-Kompetenz». 

Das EU-Parlament wollte für einmal mutig sein und die Vorschrift einführen, dass Börsenaufträge wenigstens während 0,5 Sekunden weder annulliert noch abgeändert werden dürfen. Grund: Mit dem permanenten Platzieren und Annullieren von Aufträgen könne man den Preis manipulativ erhöhen, ohne dass Käufe und Verkäufe stattfanden. Doch der Dachverband der Börsenhandelsfirmen FIA-EPTA war dagegen und in der Folge auch der EU-Ministerrat.

Das Problem dieser reinen Wettgeschäfte, die heute einen grossen Teil der Börsengeschäfte ausmachen, ist seit langem bekannt. Doch an den Universitäten wird es nicht wirklich kritisch thematisiert und die Parlamente regulierten nicht. 


3. Paradigma

«Staatsanleihen sind Vermögenswerte ohne Risiko»

Auch dieses Paradigma sei falsch, sagt Chesney. Wenn Banken in der EU oder in der Schweiz beispielsweise Staatsanleihen in Dollar, Real oder Rupien halten, besteht das Risiko eines schlechter werdenden Wechselkurses. Die Höhe der künftigen Inflation kann eine grosse Rolle spielen.

Doch weil Staatsanleihen laut der heutigen Bankenregulierung als Wertpapiere ohne jegliches Risiko gelten, müssen Banken für diese keine Reserven bereitstellen. Dies gilt auch für Staatsanleihen in Euro von Risiko-Ländern wie Griechenland oder Italien. 

Nähe zu Grossbanken

Die meisten Lehrpläne an Universitäten halten an den genannten und auch an anderen Paradigmen fest. Vielleicht haben Finanzinstitute von Universitäten eine zu grosse Nähe zu Grossbanken. Dieser Eindruck kann jedenfalls entstehen, weil etliche Universitätsinstitute und auch Professoren von der Finanzwirtschaft geldwerte Leistungen entgegennehmen. Einzelne Institute existieren sogar nur dank Sponsoring von Banken.


Demnächst auf Infosperber

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__________
FUSSNOTE
[1] Zum Beispiel waren in Berkeley im Programm für den 2009 durchgeführ­ten Bachelor­Kurs «Introduction to Finance» die Finanzkrise und damit verbundene Themen wie die finanzielle Instabilität nicht berücksichtigt. Dasselbe gilt für den MBA­Kurs «Core Finance» von 2016. An der Ross School of Business der Universität Michigan ist im Programm des Ba­chelor­Kurses «Financial Management» von 2009 das Thema «Special lecture on the financial crisis» aufgeführt. Dies ist zu begrüssen, obwohl es sich nur um eine von 28 Veranstaltungen in diesem Semester handelt. Im selben, zwei Jahre später abgehaltenen Kurs war das Thema verschwunden. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Finanzcasino bedroht Weltwirtschaft

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4 Meinungen

  • am 19.04.2023 um 11:09 Uhr
    Permalink

    Wenn Finanzprofessor Marc Chesney reflektiert und dies auch die Politik und die Grossbanken tun, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

  • am 19.04.2023 um 11:12 Uhr
    Permalink

    Man scheint auch in der Schweiz langsam aufzuwachen und zu begreifen – zumindest im Ansatz – womit man es bei den ‹Finanzmärkten› zu tun hat.
    Das Thema HFT wurde in Europa nie wirklich thematisiert. Im Zeitalter der AIs muss man wohl endlich mal genauer hinschauen, was diese proprietären Handelsalgorithmen so im mikrosenkunden-Takt so alles machen. Hier möchte man den Fall Sergeij Aleijnikow, ehemals Goldman Sachs aus dem Jahre 2009 wieder mal erwähnen. Er wurde vom FBI verhaftet weil er im Besitz von ‹computer code which in the wrong hands could be used “to manipulate markets in unfair ways.”
    Der Code gehörte Goldman Sachs, die mit dem Code offensichtlich die Märkte lediglich in ‹fairer Weise› manipulierte. Und heute, 14 Jahre später mit all den Innovationen im bereich AI, big data und schnelleren Computern und Netzwerken.
    Mir scheint, die Problematik dieser HFT Technologien verstehen auch innerhalb der Branche nur wenige, und ausserhalb kaum jemand…

  • am 19.04.2023 um 14:25 Uhr
    Permalink

    Wussten Sie denn nicht, dass UBS-VR-Präsident Villiger 2012 die Uni ZH «gekauft» hat?
    „Die Universität Zürich wird zum 150-jährigen Bestehen der UBS reich beschenkt. Die Bank geht eine langfristige Partnerschaft mit dem international renommierten Institut für Volkswirtschaftslehre ein und stiftet maximal fünf neue Professuren.“
    Mit dem lächer­lichen Betrag von 150 Mio Fr (rate mal, wieviel % von den X Milliarden Boni zum Jubiläum?) ist es Villiger gelungen, den mehr als 1000-fach(!) grösseren Schaden, den die UBS der Schweizer Wirtschaft in den letzten 10 Jahren verursacht hatte, einfach wegzu­wischen, vergessen zu machen. Villiger hat jetzt sicher gestellt, dass die Wirtschafts-Lehrer, – eigentlich ja auch Wirtschafts-Wächter –, an unserer Alma Mater auch in den nächsten 10 Jahren ihre Studenten nicht aufklären werden über das Wirken und Auswirken unserer Investment-Mega­banken.
    So vorausgesagt 2012 auf
    http://www.offside-paradeplatz.ch/ubs-jubilaeum-der-dreisten-korruption/

    • am 20.04.2023 um 17:32 Uhr
      Permalink

      und das dürfen wir dann freie Forschung nennen…
      Es sind die Konzerne, welche den Staat und die Einrichtungen kapern bzw weiter zu kapern suchen.
      So ist es auch mit der Forschung um die gesundheitlichen Folgen des Funks bzw des Mobilfunks.
      Was sind denn das für Vorlksvertreter, Regierungen und Hochschulräte, welche die Böcke zu Gärtnern machen? Ich meine damit die Tatsache, dass zwei grosse Telefonie-Konzerne diese ETH-Professur sponsern dürfen, bezahlen müssen wir Abonennten finanziell und gesundheitlich.
      Das Sagen hat weder die freie Forschung noch der Souverän.
      Wir sind ein armes Land, das sich die freie Forschung nicht leisten will…
      Die Uni ZH «überwacht» die Ausgewogenheit der Medien, diese «Ausgewogenheitsüberwachung» ist nicht politisch-qualitativ, sondern thematisch-quantitativ. Ausgewogen nach Zeilen/Spalten genügt den akademischen Anforderungen.

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