Kommentar

Ungleichheit schürt Fremdenhass

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Weltweit legen fremdenfeindliche Parteien zu. Ein wichtiger Grund dafür liegt auch in der einseitigen Einkommensverteilung.

Wo man hinschaut – in Italien, Holland, Schweden, Dänemark, Ungarn, Finnland – überall gewinnen rechtsextreme Parteien Stimmen indem sie die Fremdenfeindlichkeit schüren. Doch statt diese Parteien auszugrenzen, «Brandmauern» zu errichten und den Dialog zu verweigern, sollte man die Anliegen der Vielen ernst nehmen, die sie gewählt haben. Sie – und wir alle  – brauchen einen neuen Sozialvertrag basierend auf einem starken Nationalstaat, der die genetische Ausstattung seiner Bürger respektiert.

Deren Solidarität gilt – in dieser Reihenfolge – der Familie, den guten Bekannten und dem eigenen Staat. Wenn Fremde in Massen auftreten, empfinden wir sie umso eher als Bedrohung je prekärer die eigene Lebenslage ist. Wir aber auch Weltenbürger. Unsere Solidarität mit anderen Ländern sollte damit beginnen, dass wir ihnen nicht mehr aktiv schaden – etwa indem wir ihnen die besten Steuerzahler abspenstig machen.

Wir brauchen eine neue Gesellschaftsarchitektur. Um das zu verstehen, müssen wir ein paar Millionen Jahre Revue passieren lassen: Mehr als alle anderen Lebewesen ist der Mensch von der Wiege bis zur Bahre auf die Hilfe anderer angewiesen. Um diese Abhängigkeit erträglich und beherrschbar zu machen, knüpfen wir ein enges Netz von gegenseitigen Verpflichtungen. Wir bilden Produktions- und Risikogemeinschaften – Familien, Sippen Nachbarschaften. Ein Kreis, von 150 bis maximal 500 Personen, die sich gegenseitig zur Hilfe verpflichtet fühlen.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Dieses Pflichtgefühl in unseren Genen festgezurrt worden. Sonst hätten wir nicht überlebt. Dann haben wir die Agrarwirtschaft und den Markt erfunden. Wir haben mit dem Mittel von Geldforderungen den Kreis der gegenseitigen sozialen Verpflichtungen auch auf Wildfremde ausdehnt.

Dazu mussten wir unsere Gesellschaft völlig neu erfinden. Das war ein äusserst schmerzhafter Prozess, den der Historiker Kai Michel und der Evolutionsbiologe Carel van Schaik in ihrem «Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät», als «Vertreibung aus dem Paradies» und als Übergang in eine Gesellschaft beschrieben haben, für die wir weder kulturell noch biologisch gerüstet waren.

Mit der Erfindung des Geldes und der Marktwirtschaft hat sich das Problem der Abhängigkeit doppelt verschärft: Erstens waren wir nun nicht mehr von Bekannten, sondern von Fremden abhängig. Zweitens hing unser Lebensunterhalt als hoch spezialisierte Anlageberater, Wirtschaftsjournalisten oder Programmierer nun davon ab, dass es gerade für diese Fähigkeit morgen auch eine monetäre Nachfrage gibt.

Der Markt braucht einen starken Staat

Damit uns diese extreme Unsicherheit nicht schon rein psychisch überfordert, und um die extrem ungleiche Verteilung der Markteinkommen zu korrigieren, braucht es neben der engeren Familie und der Sippe bzw. Nachbarschaft eine dritte Solidargemeinschaft: den Staat und seine Sozialwerke. Ein neuer Sozialvertrag, ein «contrat social» war gefragt, der von einem starken Nationalstaat durchgesetzt werden musste. Dieser brauchte dazu nicht nur den erzwungenen Gehorsam, sondern auch die Loyalität seiner Bürger. Dazu hat die Philosophin Martha Nussbaum mit ihrem Buch «Politische Emotionen» eine detaillierte Gebrauchsanleitung geschrieben. Ohne Gefühle geht es nicht.  Eine Prise Nationalstolz muss sein. Es braucht auch Rollenmodelle wie etwa den lokal verankerten «Citoyen», an denen wir uns orientieren können.  Wir müssen dem Staat einen Vertrauensvorschuss gewähren. Und dieser muss das in ihn gesetzte Vertrauen immer wieder rechtfertigen.

Das hat in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sehr gut funktioniert.  Doch der Keim des Niedergangs war bereits gesät. Dies in Form einer Ideologie, die unser Verständnis von Wirtschaft auf den Markt beschränkte. Sie klammerte alle nicht bezahlten produktiven und reproduktiven Bemühungen in Familie und Nachbarschaft aus. In dieser engen Optik können wir den Wohlstand am besten durch die Schaffung immer grösserer Wirtschaftsräume steigern. Darin werden die Arbeitskräfte immer punktgenau dort eingesetzt, wo der grösste monetäre Nutzen winkt. Nicht nur die Waren und Dienstleistungen sollten frei zirkulieren können, sondern auch die Arbeitskräfte und das Kapital.

Der Fluch der globalen Wertabschöpfungsketten

Dies hat es den Multis ermöglicht, globale Wertschöpfungsketten zu installieren. Mit der absehbaren Folge, dass die Wertabschöpfung innerhalb und zwischen den Ländern sehr ungleich verteilt wurde. Das wiederum hat dazu geführt, dass sich die Länder in einen Kampf um die besten Standorte verwickelt wurden und ihre Wirtschaftspolitik auf den Export fokussiert haben. Die ökonomische Optik hat sich weiter verengt. Viele Länder und Gebiete haben so die Fähigkeit verloren, auf die eigene Nachfrage zu reagieren. Ohne Exportindustrie keine Entwicklung – doch damit macht man sich erst recht von den Multis abhängig.

So hat sich in allen Ländern eine «vaterlandslose» mobile Oberschicht herausgebildet. Sie schöpft grosse Teile des Sozialprodukts ab, minimiert die Steuern und entzieht so dem Staat die Mittel zur Entschädigung der Verlierer. Kommt dazu, dass die Erfordernisse der globalen Arbeitsmärkte an die Flexibilität und Mobilität der Menschen die beiden primären Risiko-und Produktionsgemeinschaften – die Familien und Nachbarschaften – weiter schwächen. So wird die Abhängigkeit der Unter- und Mittelschicht vom National – und Sozialstaat noch einmal erhöht. Auch Geringverdienende werden mobilisiert. Sie müssen sich dorthin bewegen, wo es noch einigermassen anständig bezahlte Arbeit und ein Minimum an sozialer Sicherheit gibt.

Global gegen lokal – der neue Klassenkampf

Wir haben heute einen weltweiten Klassenkampf zwischen den Lokalen und den Globalen, den Somewheres und den Anywheres. Die Ortsgebundenen sind zwar in der in der Mehrheit, doch die «Anywheres» haben die finanzielle Macht. Das zeigt sich etwa so: In Holland haben die Lokalen mit Wilders die Wahlen gewonnen, doch weil die Globalen (die Multis) mit dem Abzug von Jobs drohen und so mögliche Koalitionspartner unter Druck setzen, kann Wilders keine Regierung bilden.

Das blutigste Schlachtfeld des Verteilungskampfs zwischen den Globalen und den Lokalen sind die Immobilien- und Wohnungsmärkte. Im Bestreben, reiche Steuerzahler und Firmen anzulocken, lässt es der Staat zu, dass ganze Städte gentrifiziert und die «Citoyens» aus ihren angestammten Quartieren vertrieben werden. Dadurch steigen die Mieten auch in den Vororten und Randgebieten. Profiteure sind die Bodenbesitzer, die mit Erlös aus dem Verkauf oder der Vermietung ihrer Liegenschaften ebenfalls nicht selten zu heimatlosen Steueroptimierern werden.

Auch in ihren Freizeitvergnügen werden die Lokalen von den globalen Jet-Settern bedrängt, etwa von den Besitzern des 1025 Dollar teuren «Epic-Passes», der sie berechtigt, sämtliche Skilifte und Gondelbahnen zu benutzen, die der Multi «Vail-Resort» in inzwischen 41 weltweiten Destinationen aufgekauft hat; neuerdings auch Montana-Crans. Weil sich die globale Oberschicht in allen Winterdestinationen breit macht und die Preise hochtreibt, wird das einstige Volksvergnügen Skifahren für Normalverdiener immer mehr zum schwer erschwinglichen Luxus. Eine Woche Ski-Ferien mit zwei Kindern verschlingt heute schnell einmal zwei Drittel eines durchschnittlichen Monatslohns. Das weckt Unmut.

«Passive» Einkommen – und wer dafür arbeitet

Die meisten Werte schöpfen die Globals aber vermutlich auf den Finanzmärkten ab. Sinnbild dafür sind die auf allen Internet-Kanälen ungefragt aufpoppenden «Finfluencer».  Sie werden aus einem Irgendwo mit Yachthafen, Lamborghinis und blauem Meer zugeschaltet und verraten uns, wie man aus 10’000 Franken in kurzer Zeit eine Million macht. Oder wie man ein «passives» (sprich arbeitsloses) Einkommen von tausend Euro täglich kassiert und so «finanzielle Freiheit» erlangt. Die traurige Pointe dabei ist, dass es diesen arbeitslosen Saus und Braus tatsächlich gibt – und von den Lokalen erarbeitet werden muss.

Kurz: Die veränderten Bedingungen der globalen Wertschöpfung haben den «contrat social» ausgehebelt. Die Grundlage der Marktwirtschaft bröckelt. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Gesellschaft mobil geworden ist. Der – zurzeit gerade optimale – Standort hat die Heimat ersetzt. Die grösste Last dieser Heimatlosigkeit trägt die Mittel- und Unterschicht. Sie muss aus ihren Quartieren und Ländern auswandern. Es sind ihre Mieten, die teurer werden. Sie leiden darunter, wenn wegen der Steuergeschenke für die Reichen die Gelder für die Sozialhilfe knapp wird. Bei der Essensausgabe von Tischlein-Deck-Dich stellen sich längst auch Einheimische in eine Reihe mit den Asylsuchenden. Und bisher ist auch nicht davon die Rede, dass man diese in den Zweit-und Drittresidenzen der Globalisierungsgewinner unterbringen soll. Für Asylsuchende liegt im besten Fall eine Sozialwohnung drin – und auch die geht zulasten der Locals.

Fremdenfeidlichkeit ist nur ein Symptom

Dass unter diesen Umständen der Ruf nach einer Begrenzung der Einwanderung laut wird, ist nicht verwunderlich. Doch Fremdenfeindlichkeit kann man nicht verbieten. Man kann nur ihre Ursache beseitigen. Zu diesem Zweck müssen wir begreifen, dass es bei der Wirtschaftspolitik nicht darum gehen kann, den Standortwettbewerb zu gewinnen und das BIP zu mehren. Vielmehr geht es darum, alle unsere produktiven Tätigkeiten so zu organisieren und lokalisieren, dass wir friedlich und möglichst stressfrei miteinander leben können.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 11.12.2023 um 01:15 Uhr
    Permalink

    Danke für diese ausführliche Analyse, der voll beistimmen kann. Zurück zu den Wurzeln wird schwierig sein, denn die Globals sind mächtig und die Bevölkerung erwacht nur sehr langsam!

  • am 11.12.2023 um 08:30 Uhr
    Permalink

    Es gibt Schlussfolgerungen in diesem an sich sehr guten Beitrag, die absolut nicht zwingend sind. Eine Begrenzung der Einwanderung hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun. Dazu vielleicht eine kleine Metapher: Ich mag hausgemachte Ravioli gerne. Deshalb esse ich aber nicht 10 Kilogramm aufs Mal davon. Deswegen bin ich aber doch kein Raviolihasser!

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