Megacitys: Immer mehr separate Enklaven für Reiche
Juan kommt uns in Badelatschen und mit Pepe an der Leine abholen und sagt, als er vor der Eingangskontrolle seines gesicherten Wohnviertels steht: «Ist gut, die beiden gehören zu mir.» Die Frau in der Uniform nickt und wir gehen an den Kameras und Barrieren vorbei. Vorher mussten wir dort unsere Personalien angeben und Juans Einladung erwähnen.
Wie die Filmkulisse von »Desperate Housewife”
»Seid ihr gut gereist», will Juan wissen und lässt Pepe ein bisschen Leine. Es ist Samstagnachmittag und der 18-Jährige führt uns vom weissen Kontrollhäuschen in Portezuelo Richtung Lagune. Die Strasse geht an Laubbäumen und Palmen vorbei, an einheitlichen Garageneinfahrten und zurechtgestutzten Vorgärten, und man hat schon nach kurzer Zeit das Gefühl, nicht in Argentinien zu sein, sondern in einer Filmkulisse von «Desperate Housewife».
Wenig später stehen wir am Ufer der künstlich angelegten Lagune und Pepe ruht sich auf der Wiese aus. Angeleint. Ohne Leine, so steht es im Reglement, dürfen die Hunde nicht aus dem Haus.
Wie immer am Wochenende besucht Juan Stoll seinen Vater, der sich vor ein paar Jahren ein Häuschen in Portezuelo gekauft hatte, einer privaten Wohnsiedlung dreissig Kilometer nördlich von Buenos Aires. Wochentags lebt Juan bei seiner Mutter in der Stadt. An Portezuelo mag er vor allem die Ruhe und die Natur. «Doch ich bin froh», sagt er, «dass ich die Welt da draussen auch kenne».
Leben im Hühnerstall
Um zu verstehen, was Juan mit der «Welt da draussen» meint, muss man dorthin fahren, wo er seinen Alltag verbringt: in die argentinische Hauptstadt. Dort ist es in den vergangenen Jahren eng geworden, so eng, dass Fussgänger vom Trottoir auf die Strasse ausweichen und es in den U-Bahn-Stationen täglich zu mehrminütigen Menschenstaus kommt. Drei Millionen Personen leben auf dem 200 Quadratkilometer grossen Stadtgebiet; in Berlin verteilt sich die selbe Zahl auf 870 Quadratkilometer.
Insgesamt ist die Bevölkerung in und um Buenos Aires in den vergangenen zehn Jahren um 1,3 auf 14 Millionen gewachsen. Die Zahl der Autos hat sich in der selben Zeit mehr als verdoppelt und die Grünflächen entsprechen gerade mal der Hälfte von dem, was die Weltgesundheitsorganisation als Minimum empfiehlt. Überall entstehen neue Wohn- oder Geschäftshäuser, Slums oder auch nur provisorisch eingerichtete Schlafstätten aus Karton.
Buenos Aires zählt zu den sogennanten Megacitys und das Wachsen geht täglich weiter. Einerseits strömen Flüchtlinge aus dem Landesinneren hierher, deren Existenzgrundlage von Landwirtschafts- und Rohstoffkonzernen aufgekauft wird, etwa für den Anbau von Gen-Soja oder den Abbau von seltenen Erden. Anderereseits ist Argentinien das einzige Land in Südamerika, in dem Bildungs- und Gesundheitssystem gratis sind – was eine entsprechende Anziehungskraft für den Rest des Kontinentes hat.
Meterhohe Mauern und Zäune
Während Buenos Aires also täglich wächst, sind in der Peripherie Überbauungen entstanden, die mit der «Welt da draussen» nicht viel zu tun haben – höchstens auf geschäftlicher Basis. Aus dem Flugzeug betrachtet sieht es aus, als ob deren Grenzen mit einem fetten Stift markiert worden seien. Es sind die meterhohen Mauern und Zäune, die diese neuen Ländereien von der Aussenwelt trennen. Dort wo früher ein paar versprengte Wochenendhäuser standen, leben heute rund 400 000 Personen. Es sind geschlossene Viertel, in die nur reinkommt, wer dort Land besitzt oder eine Einladung hat.
Die Barrios Cerrados rund um Buenos Aires gehören Firmen oder Privatpersonen und werden von diesen auch bewacht und verwaltet. Das grösste in Argentinien heisst Nordelta und umfasst zwanzig Einzelviertel, eines davon ist Juans Portezuelo. 15 000 Menschen leben inzwischen hier und als Besucher hat man den Eindruck, dass die Bewohner – vorwiegend Rentner und junge Familien – sich darauf einstellen, irgendwann auf «die Welt da draussen» verzichten zu können. Wenigstens theoretisch. Tatsächlich gibt es in Nordelta inzwischen vier Privatschulen, ein Ärztehaus, ein Einkaufszentrum, ein Hotel, fünf Kinos und einen McDonalds. Hinzu kommen eine Golfanlage, Fussball-, Tennis- und Hockeyplätze und unzählige Swimmingpools. Dieses Jahr soll eine Kirche und eine Synagoge fertiggebaut werden.
Feudalisierung in 700 Barrio Cerrados
Unter der Woche herrscht reger Betrieb an den weissen Wartehäuschen: Essenslieferanten, Servicepersonal, Gärtner, Handwerker, Ingenieure, Architekten, Babysitter, Hausmädchen oder Privatlehrer verdienen ihre Brötchen in Nordelta. Die Betreiberin der Überbauung, die Nordelta S.A., erwähnt gerne die neu geschaffenen Arbeitsplätze. Externe Beobachter hingegen warnen vor sozialer Isolierung der Bewohner und einer Feudalisierung der Gesellschaft. Rund zwei Prozent der Bevölkerung von Buenos Aires leben in einem der rund 700 Barrio Cerrados.
Zurück zu Juan, der gerade Pepe die Treppe hochträgt und uns den Dachstock seines Vaters zeigt. Dort stehen zwei Sessel, eine Spielkonsole und ein kleiner Kühlschrank. Wenn der Vater in Portezuelo übernachtet, dann ist Juan oft hier oben und spielt mit seinem Bruder oder seinen Freunden Playstation. Es sei zwar schön, aber auch langweilig hier. «Nordelta ist ziemlich stereotyp», findet er: «Immer die gleichen Menschen, immer die gleichen Themen.» Das sei in der Stadt «draussen» ganz anders. Dort komme es immerhin noch zum Austausch von Menschen verschiedener Klassen.
Ein Barrio mit wirklich Reichen
Wir gehen wieder nach draussen und Juan zieht die Wohnungstüre zu, ohne sie abzuschliessen. Er möchte uns Castores zeigen, ein anderes Barrio von Nordelta, das zu den ersten hier gehört und «wo wirklich reiche Leute wohnen», wie Juan sagt. Er hat in Castores nur Zugang, weil seine Mutter hier Land gekauft hatte – ohne es bisher bebaut zu haben. Ausnahmsweise muss er seine Personalien nicht angeben. Die Frauen und Männer des privaten Sicherheitsdienstes sind gerade damit beschäftigt, Kofferräume zu kontrollieren. Routine in den Barrios Cerrados, auch für die Bewohner.
Auf dem Weg zum Clubhaus kommen wir an grünen Schildern vorbei, die in ganz Nordelta stehen. Darauf heisst es, dass man vorsichtig fahren soll, denn: «Nuestros niños juegan» – «Unsere Kinder spielen». Mehr als zwanzig Kilometer pro Stunde sind nicht erlaubt, sonst wird geblitzt. Die Realität in Nordelta steht diametral zu jener von Buenos Aires, wo selten Kinder zu sehen sind, die in der Strasse spielen. Der Verkehr lässt dies schlicht nicht zu.
Öffentlicher Pranger
Am Eingang zum Clubhaus hängt ein Plan mit verschiedenen Aktivitäten: Gymnastik, Foto-Kurs, Yoga, Salsa, Taekwondo. Und gleich nebenan hat die Verwaltung eine Liste aufgehängt, auf der die Namen der Bewohner stehen, die ihre Nebenkosten noch nicht bezahlt haben – inklusive Hausnummer und Höhe ihrer Schulden. Dauert es zu lange, bis die Person ihre Nebenkosten bezahlt, kann sie aus dem Barrio ausgeschlossen werden. Die Bewohner von Castores wollen das so und haben dies in ihrem Reglement festgehalten. Ein Reglement, das die Eigentümer in Zusammenarbeit mit der Nordelta S.A. aufgestellt haben. Der öffentliche Pranger ist dabei fester Bestandteil. Er wird als Teil der Sozialkontrolle betrachtet und auch in anderen Bereichen benutzt, etwa wenn jemand die Verkehrsvorschriften missachtet. In einzelnen Barrios kommen selbst Kinder über zehn Jahre an den Pranger, wenn sie das Reglement verletzten. Die Sanktionen werden vom Tribunal de Disciplina ausgesprochen, einem von den Bewohnern gewählten internen Disziplinargericht.
Konflikte verstecken
Maristella Svampa hat die Entwicklung der Barrios Cerrados in Argentinien über Jahre hinweg beobachtet und auch ein Buch dazu geschrieben (»Los que ganaron – Die, die gewonnen haben»). Die Soziologin sagt, dass die Bewohner geschlossener Viertel nicht darauf schauten, was das Beste für sie sei, sondern wie das Schlechte vermieden werden könne. Das Thema Sicherheit spiele eine zentrale Rolle. Es sorge dafür, dass die Klassenunterschiede nicht nur sichtbar würden, sondern sich sogar noch verstärkten. Je mehr man habe, umso unsicherer fühle man sich.
Hinzu kämen interne Konflikte, die die Bewohner gerne verstecken würden, etwa Vandalismus von Jugendlichen oder die Panikattacken von Kindern, die erstmals die Welt ausserhalb der Barrios sähen. Dies zeige den Bewohnern dann, dass auch sie aus Fleisch und Blut seien und sich nicht alles reglementieren lasse.
NZZ-Korrespondent fürchtete um die Sicherheit seiner Kinder
Der Schweizer Werner Marti teilt die Einschätzung von Svampa. Er habe während seiner Zeit in Guatemala gesehen, wie wichtig der Kontakt zu verschiedenen Schichten sei, sagt der Südamerika-Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit drei Jahren wohnt nun aber auch er mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem Barrio Cerrado – das wie andere in unmittelbarer Nähe eines Armenviertels liegt. Der 50-Jährige sagt, er habe heute kaum noch Kontakt zu anderen Schichten, was anfangs schwierig gewesen sei. Mittlerweile habe er sich daran gewöhnt, genauso, wie an die Vorschriften seines Barrio. Irgendwie müsse man ja das Zusammenleben regeln, das sei in einem Wohnblock in der Schweiz nicht anders: «Zudem sind die Argentinier nicht dafür bekannt, dass sie sich an Regeln halten. Daher sind gewisse Regeln ganz gut.»
Die Sicherheit war für Marti der entscheidende Grund, in ein geschlossenes Viertel zu ziehen, «vor allem wegen der Kinder». So lange der Staat nicht fähig sei, Sicherheit zu gewährleisten, bevorzuge er es, in einem Barrio Cerrado zu leben – auch wenn 85 Prozent der Wohnnebenkosten für den privaten Sicherheitsdienst weggingen. Das ist in den Barrios Cerrados üblich.
Laut Statistik ist Buenos Aires die zweitsicherste Stadt in ganz Amerika, hinter Toronto, aber vor New York oder Miami.
Flucht vor Lärm und Abgasen
Dennoch ist die Sicherheit Hauptargument, in ein geschlossenes Viertel zu ziehen – sowohl für die lokale Bevölkerung als auch für Expats wie Marti oder den Deutsch-Argentinier Alejandro Aichele. Der 34-jährige hat sein Zuhause eigentlich in Heidelberg, wurde von seiner Firma SAP aber für zwei Jahre nach Südamerika geschickt. Hier lebt er zusammen mit seiner Familie in einem Häuschen in Santa Barbara, einem Viertel von Nordelta. «Im Gegensatz zur Stadt ist es hier ruhig und sicher», sagt er: «Das ist uns wichtig wegen unserer zwei kleinen Kinder.»
Ein Arbeitskollege von Aichele fragte ihn kürzlich, ob er es nicht gefährlich finde, wenn Kinder in einem geschlossenen Viertel aufwüchsen und von der Realität draussen nichts mitbekämen. Aichele sagte nein: «Ich gehe ja auch nicht in die nigerianische Hauptstadt, um zu erfahren, was die Realität dort bedeutet.» Entscheidender sei, dass die Kinder wüssten, dass es noch eine andere Realität gäbe: «Und wenn du in Buenos Aires lebst, das von Unsicherheit, Lärm, Abgasen und Verkehr geprägt ist, dann bekommt Isolation sogar eine positive Komponente.»
Ziel soll eine eigenständige Stadt sein
Nordelta S.A. und die Firmen, die mit ihr zusammenarbeiten, versuchen seit Jahren, den Ruf des Reichenghettos loszuwerden. Die Tendenz, vermehrt Wohnblocks wie in Juans Portezuelo zu bauen, ist eine Massnahme, der öffentliche Zugang zu Einkaufszentrum und Restaurants eine andere. Nordelta, mit dessen Bau während der argentinischen Privatisierungswelle in den 90er Jahren begonnen wurde und wo gemäss Masterplan einst 170 000 Personen leben sollen, möchte als eigene Stadt wahrgenommen werden. Punkt.
Dennoch ist es offentlich, dass sich an der Peripherie der argentinischen Hauptstadt ein Mikrokosmos gebildet hat, der nicht einer Stadt gleicht, sondern einem Reich der Reichen. Die Bewohner sind Menschen, die das Vertrauen in «die Welt da draussen» verloren haben – oder die schlicht keine Lust darauf haben und über das nötige Kleingeld verfügen. Das hat der Argentinier, der in oder um Buenos Aires wohnt, in der Regel nicht. Mit dem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 750 Dollar wird er sich auch die günstigste Wohnung in den neuen Wohnblocks nicht leisten können. Diese umfasst zwei Zimmer und kostet fast 100 000 Dollar.
»Letztlich eine Illusion»
Wir sind am Ende unseres Rundgangs und stehen mit Juan vor einem umzäunten Spielplatz. Ein kleines Mädchen versucht dort gerade die Spielburg zu ersteigen, es spielt alleine.
»Meine Freunde in der Stadt und ich sind froh, nicht hier aufgewachsen zu sein und eine öffentliche Schule zu besuchen», sagt Juan. In Privatschulen, erzählt er, würden gewisse Themen nicht unterrichtet, die Soziallehren Darwins zum Beispiel oder die Aufarbeitung der Militärdiktatur. Zudem bekämen sie Dinge wie Stromunterbrüche oder Schülerstreiks nicht mit: «Das ist aber die Realität in diesem Land.»
Buenos Aires, sagt Juan, sei zwar hart und er könne dort im Gegensatz zu Nordelta nicht mit dem Ipod durch die Strassen laufen, ohne Angst zu haben, überfallen zu werden. Aber ehe er hierher ziehe, gehe er richtig aufs Land: «Denn das Leben in den Barrios Cerrados ist letztlich eine Illusion.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Journalist und lebt in Argentinien
Danke für diesen interessanten Artikel zur beklagenswerten Privatisierung öffentlichen Raums. Wie sie es selber in einem kurzen Satz festhalten, ist Buenos Aires die zweitsicherste Stadt in Amerika. Sicherheit ist eine Frage der Wahrnehmung, wobei die Wahrnehmung der Gefahrenlage gemessen an statistischen Erhebungen im Falle der Porteños arg verzerrt ist – Bewohner brasilianischer Städte mit weitaus höherer Kriminalitätsrate sorgen sich laut Studien weniger, zu Opfern zu werden.
Generell zeichnet die Wahrnehmung der befragten Leute ein falsches Bild von Capital Federal – eines, in welchem «der Staat keine Sicherheit gewährleisten kann» und eines, in welchem die argentinische Hauptstadt mit der nigerianischen einfach mal schnell gleichgesetzt wird. Handelt es sich bei Argentinien neuerdings um einen «failed state"? Müssen die tausenden von Familien, die in Capital Federal einem normalen leben nachgehen tagtäglich um das Leben ihrer Kinder bangen? Ist Capital nur Autos, Abgase, Lärm und Unsicherheit?
Mitnichten. Solches kann nur behaupten, wer sich nicht die Mühe gemacht hat Capital Federal kennenzulernen, was wiederum für die Weltsicht der Befragten spricht. Man kennt eben nichts. Und hat darum Raum und Zeit, den Teufel an die Wand zu malen. Überdies scheinen die Befragten nicht zu bemerken, dass sie sich mit ihrer Abschottung zur Zielscheibe machen – es wissen ja alle, das Geld vorhanden ist, und irgendwann wird man das Barrio ja trotzdem verlassen müssen.
Abschliessen sei angemerkt, dass es dem Leser mehr als unverständlich erscheint, wieso man sich als SchweizerIn im Ausland aufhält, wenn dieser Aufenthalt von Angst geprägt ist. Und wenn ein Auslandskorrespondent einer renommierten Zeitung meint, er «habe heute kaum noch Kontakt zu anderen Schichten» dann sorgt dies doch für einige Fragezeichen, was die Ausübung seines Berufs angeht.