Die halbierte digitale Herausforderung
Wirtschaftsredaktor Peter A. Fischer leitet in der «NZZ» vom 23. April 2016 eine Serie zur «digitalen Herausforderung der Gesellschaft» ein. Von der Taxi-App bis zur Medizin verändere die Digitalisierung unser Leben. Wesentlich ist für ihn dabei: Der Staat soll nicht gezielte Fördermittel einsetzen, sondern «technologieneutrale, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen» schaffen. Das heisst, er soll sich mit Regulierungen zurückhalten und die Kräfte der Wirtschaft spielen lassen. Nur dann seien die Chancen der Digitalisierung zu «packen».
Es ist ein Plädoyer für den Nachtwächterstaat, der aus der Mottenkiste geholt wird: Nach Fischers Auffassung soll die Wirtschaft von überholten Regelungen befreit und Vorschriften den Bedürfnissen der neuen digitalen Wirtschaft angepasst werden. Dafür spreche, dass die private Wohnung und der Uber-Fahrer oft günstiger seien, weil sie nicht mit übertriebenen Bauauflagen für Hotels und Restriktionen für Taxifahrer zu kämpfen hätten. Aber auch beim Streaming von Musik, beim Kundenbesuch oder bei der Partnersuche sieht er die wundersame Kraft einer digitalen Ökonomie am Werk. Wörtlich heisst es im Artikel: «Die Analyse digital gesammelter Daten generiert auf die (vermuteten) individuellen Bedürfnisse und Präferenzen zugeschnittene Angebote.»
Verbot von Ferienwohnungen in Berlin
Doch die Realität sieht oft anders aus. So verbietet Berlin ab Mai dieses Jahres, weiterhin Ferienwohnungen bei Firmen wie Airbnb anzubieten. Da geht es aber nicht um überflüssige Bauauflagen, sondern schlicht darum, dass auf solchen Plattformen bis zu 10’000 Wohnungen registriert sind – Wohnungen, die der normalen Vermietung entzogen sind und angesichts der Wohnungsnot dringend gebraucht würden. Zwar sind die Angebote von Airbnb auf die individuellen Bedürfnisse der Touristen zugeschnitten, aber sicher nicht auf jene der Wohnungssuchenden in einer Stadt mit grosser Wohnungsnot.
Airbnb hat denn auch zähneknirschend damit begonnen, Wohnungen aufgrund von «routinemässigen Qualitäts-Initiativen» aus dem Angebot zu streichen. Wo professionell ganze Wohnungen angeboten werden, würde kein «authentisches Reiseerlebnis» geboten. So die Ausrede der Wohnungsvermittlungsfirma.
Das Wertschöpfungspotenzial der digitalen Wirtschaft
Die Digitalisierung soll also aus der Perspektive der «NZZ» verkrustete Strukturen aufbrechen und neue Flexibilitäten schaffen. Ihr wird ein «enormes Wertschöpfungspotenzial» zugeschrieben und eine Aussicht auf hohe Renditen beziehungsweise Löhne. Der «NZZ»-Autor träumt davon, dass es absolut wünschenswert wäre, wenn die Schweiz an der Spitze mithält.
Richtig ist, dass Startups wie Facebook oder Twitter innert wenigen Jahren den Sprung zu milliardenschweren globalen Konzernen geschafft haben. Doch dies sind Ausnahmen: Viele andere Startups dümpeln jahrelang vor sich hin und leben von der Selbstausbeutung der Mitarbeitenden. Der Autor dieses Artikels wollte es selbst wissen und beteiligte sich an Startups der Crowdfunding-Plattform «Seedmatch». Von sieben Projekten hat gerade eines die drei ersten Jahre überlebt. Betrachtet man allein ein abstraktes «Wertschöpfungspotenzial» und die wenigen Startups, die es mit ihrer Geschäftsidee schaffen, so übersieht man leicht die vielen Verlierer dieser Szene, welche von unerfüllten Hoffnungen leben.
Das Beispiel der Textilindustrie
Einseitig ist auch die Aussage, die digitale Wirtschaft erhöhe die effektive Nutzung, Transparenz und Vielfalt: «Die Digitalisierung ermöglicht eine effektivere Nutzung von Ressourcen und Infrastrukturen. Sie erhöht die Transparenz und Vielfalt. Lokale Monopole geraten unter Druck; die Konkurrenz ist oft nur einen Klick entfernt.»
Wenn lokale «Anbieter» aufgeben, weil sie mit der neuen digitalen Konkurrenz von Zalando, Zara, Amazon etc. nicht mehr mithalten können, so hat dies vor allem mit dem Verdrängungswettbewerb durch die globale Konzentration zu tun. Die Schweizer Textilindustrie, die in den letzten Jahren in die Krise gekommen ist, stellt dafür das beste Beispiel dar. Ladenschliessungen gibt es noch und noch. Die Modekette «Bernie’s» hat aufgegeben und «Companys» Insolvenz beantragt. Aber auch Ketten wie «PKZ», «Tally Weijl», «Chicorée» haben Filialen geschlossen.
Der Druck der internationalen Konkurrenz hat wenig dagegen geholfen, dass die Schweizer Modegeschäfte den Online-Handel verschlafen haben. Jüngstes Beispiel ist die Modekette «Charles Vögele», deren Umsätze seit Jahren dahindümpeln. Erst vor einer Woche ist bekannt geworden, dass der Konzern im letzten Jahr einen Verlust von 62 Millionen Franken eingefahren hat. Kündigungen und Filialschliessungen werden gemäss «Blick» die Folge sein.
Zwar unterhält Vögele wie manche andere Schweizer Modefirma heute – aber viel zu spät – ebenfalls einen eigenen Webshop. Doch der ist so brav und langweilig gestaltet, dass er gegen Konzepte, wie sie die ausländische Konkurrenz von Zara, H&M oder Zalando realisieren, kaum eine Chance hat. Gegen die übermächtige globale Konzentration bedeutet der zunehmende Druck auf die lokalen Monopole und Anbieter, dass sie letztlich keine Chance auf dem Markt haben und Arbeitsplätze verloren gehen.
Angriff auf den Sozialstaat
Allerdings hilft es wenig, maschinenstürmerisch der Digitalisierung Einhalt gebieten zu wollen. Dem «NZZ»-Artikel ist zuzustimmen, wenn er festhält:
«Die Veränderungen, die das mobile Internet und die Digitalisierung des Lebens ermöglichen, sind derart fundamental, dass heute kaum jemand zu sagen vermag, was wir in dreissig Jahren für selbstverständlich erachten werden. Erkennbar ist aber bereits, dass die Digitalisierung unser Leben und viele Geschäftsmodelle transformiert und dabei auch für angenehme Erleichterungen sorgen wird.»
Doch eine digitale Strategie der Schweiz darf nicht nur das hohe Lied auf Anreize und günstige Rahmenbedingungen singen. Zwar kann man nichts dagegen haben, wenn alte Zöpfe abgeschnitten werden, die unzeitgemäss sind. Das ist aber bei Schutzmassnahmen im Wohnungsbereich ebenso wenig der Fall, wie wenn bei Taxidiensten alle Regelungen abgeschafft werden und jeder Personen befördern darf, der alle sozialen Risiken selbst trägt. Und auch das Outsourcing von Arbeit in eine prekäre Selbständigkeit ist nicht einfach positiv zu werten. Man wird den Verdacht nicht los, dass mit den «überholten Regelungen» der Sozialstaat gemeint ist, von dessen Kosten die Wirtschaft entlastet werden soll. Aber nur, um sie den «neuen Selbständigen» als zusätzliche Risiken aufzubürden.
Die «NZZ»-Reihe zur Digitalisierung, die Peter A. Fischer in seinem «NZZ»-Kommentar einleitet, wird deshalb nicht allein an den darin geschilderten Chancen der digitalen Gesellschaft zu messen sein – sondern auch daran, ob auch ihre Risiken diskutiert werden. Sonst bleibt es bei einer halbierten Darstellung der Digitalisierung, welche falsche Hoffnungen und Illusionen erzeugt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Auf den Punkt gebracht: es ist nur die halbierte Darstellung. Die zweite Hälfte wird nicht angesprochen: was passiert mit den Verlierern?
Herr Fischer wird es wissen aber nicht zugeben dürfen: das bedingungslose Grundeinkommen wird der einzige Ausweg sein.
Aus persönlicher Erfahrung kann ich dem Autoren versichern, dass in unserem Land die Mehrheit sowieso nur immer die Schattenseiten sieht, bzw. kein Risiko eingehen will. Darum verschläft Branche um Branche den Fortschritt. Das war bei der ersten Digitalisierung (Mikrochip) schon so: In Deutschland gab/gibt es Unternehmen wie Nixdorf, SAP u.a., die damals die Zeichen der Zeit erkannt haben. Und hierzulande? Vor etwas mehr als zehn Jahren kanzelte mich der damalige CEO einer grossen Schweizer Versicherung bei einer Produktpräsentation mit den Worten «der Schweizer wird nie Versicherungen online abschliessen wollen» lakonisch ab. Keine zwei Jahre später beschied mir eine andere Versicherung, sie hätten sich für ihre Jubiläumskampagne für eine andere Agentur entschieden, die auf klassische Instrumente setze, weil «dieses Web 2.0 sich nicht durchsetzen» werde … So sieht es aus. Schuld an den Entlassungen bei den lokalen Monopolisten – wie der Autor sie richtig nennt – sind in erster Linie weder die Konkurrenz noch die branchenfremden Disruptoren, sondern die unbeweglichen Monopolisten selber. Natürlich sind Uber, Airbnb und Co. nicht über alle Zweifel erhaben – allerdings ist es oftmals so, dass Regulierungen jeweils auf den Lobbyismus der bedrohten Monopolisten zustande kommen. In Berlin geht es nur vordergründig um die Wohnungsnot. In Tat und Wahrheit will man damit die Hotellerie schützen. Bei Uber ist es dasselbe.