Der neue wirtschaftliche Nationalismus hat auch grosse Vorteile
Noch vor wenigen Jahren waren Globalisierungs-Kritiker verfemt. Zu Wort kamen vor allem Verfechter eines deregulierten Freihandels, der angeblich allen Ländern zu mehr Wohlstand verhilft. Doch Globalisierung und Freihandel waren von Anfang an pervertiert. Deshalb kann es zum Wohle aller gereichen, wenn jetzt wieder (Straf-)Zölle und gegenseitige Restriktionen für Importe und Exporte Konjunktur haben.
Einen «Schlussstrich unter eine von Freihandel und Globalisierung getragene Zeit» habe Präsident Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan Ende April gezogen, stellt die NZZ fest. Das Motiv ist allerdings nicht die Perversion der Globalisierung, sondern die Sorge, dass Chinas Wirtschaft die amerikanische in einigen Bereichen der Spitzentechnologie überholt und China mit einem Quasi-Monopol auf seltenen Rohstoffen eine Sanktionsmacht wie die USA werden könnte.
Nicht im Sinne eines vernünftigen, nicht pervertierten Welthandels ist freilich, dass die USA einen Subventionswettbewerb vom Zaun gerissen haben, indem sie Schlüsselindustrien mit Milliarden Dollar subventionieren. In Europa würden manche von einer «Kriegserklärung» sprechen, schreibt die NZZ: «Die EU kontert mit dem Industrieplan zum Green Deal.»
Doch es gilt noch immer: Der von der Globalisierung angepeilte deregulierte Freihandel ohne Zölle war und ist fatal.
Sinnvolle Arbeitsteilung mit Haken
Der Befund, dass ein zollfreier und deregulierter Freihandel fatal wäre, mag auf Anhieb überraschen. Denn wer die Geschichte und die Theorie der internationalen Handelsbeziehungen studierte, weiss, dass ein möglichst freier Handel allen beteiligten Ländern zu mehr Wohlstand verhilft. Jedes Land konzentriert sich in einer Arbeitsteilung auf Produkte, die es dank Klima, geografischer Lage, vorhandenen Rohstoffen, Energie usw. relativ günstig herstellen kann (u .a. Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo).
Die Theorie geht allerdings davon aus, dass die Preise der gehandelten Produkte den realen, vollständigen Kosten entsprechen. Der Haken dabei: In der Praxis ist das ganz und gar nicht nicht der Fall.
«Marktpreise» und kostengerechte Preise klaffen weit auseinander
Die sogenannten «Marktpreise», die dem Welthandel zugrunde liegen, spiegeln in keiner Weise die relativen Standortvorteile der einzelnen Länder:
- Massive Subventionen verzerren die heutigen Weltmarktpreise. Allein die Flug-, Schiffs- und Strassentransporte profitieren von direkten Subventionen in Billionenhöhe. Und mit rund 500 Millionen Dollar werden seit langem jedes Jahr Konzerne subventioniert, die mit den fossilen Brennstoffen Erdöl, Erdgas und Kohle handeln (Quelle: Internationale Energieagentur IEA).
- Bei den «Marktpreisen» fehlen die hohen Kosten der ökologischen und sozialen Schäden, welche die Produktion, der Transport und der Konsum der Produkte verursachen. Der Anteil dieser Kosten, der grosszügig auf die Allgemeinheit abgewälzt, also sozialisiert wird, nimmt ständig zu.
Vier Beispiele:
- Produzenten und Konsumenten tragen zum Ausstoss von CO2 und von Methan bei, ohne für die Folgekosten der Klimakrise zu bezahlen.
- Unternehmen und Konsumentinnen der Industriestaaten «entsorgen» ihre giftigsten und gefährlichsten Abfälle in die Meere oder nach Afrika und Asien, ohne für die Folgekosten zu zahlen.
- Beim Abbau von Rohstoffen in Afrika oder in den Kleiderfabriken von Mianmar und Bangladesch lassen Konzerne moderne Sklaven und Slavinnen schuften. Faire und kostengerechte Preise müssten die Kosten für bessere Arbeitsbedingungen enthalten.
- Der irreversible Verlust an endlichen, nicht nachwachsenden Rohstoffen wird bei den Kosten und Preisen nicht berücksichtigt. Aus diesen Gründen taugen die «Weltmarktpreise» nicht als Referenz für eine sinnvolle Arbeitsteilung und ein sinnvolles Verschieben von Arbeitsplätzen zum Wohle aller.
- Die Steigerung von Produktion, Konsum und des Welthandels in den letzten 25 Jahren beruht weitgehend auf zusätzlicher finanzieller Verschuldung. Weltweit steigen die privaten und öffentlichen Schulden schneller als Konsum und Investitionen.
Der gewaltige Schuldenberg bläht den Konsum und damit auch den Welthandel künstlich auf und birgt gefährliche Risiken für die Stabilität des internationalen Finanzsystems. Diese Risiken sind weder bei den Kreditkosten der Grossbanken eingerechnet noch bei den Kosten von Grosskonzernen. Beide können diese Risiken ausklammern, weil sie – «too big to fail» – im Eintretensfall auf die Hilfe des Staates zählen.
Aus diesen drei Gründen
- Billionen-Subventionen;
- sozialisierte Umwelt- und Sozialkosten;
- Produktion und Konsum auf Pump
sind die Preise der Waren, die weltweit hin- und hergeschoben werden, viel zu tief. Das hat gravierende Konsequenzen. Der schrankenlose und verfälschte Welthandel verteilt die Produktionsstätten und die Arbeitsplätze an volkswirtschaftlich falsche, meist weit entfernt gelegene Standorte.
Zollaufschläge würden einen Teil dieser sozialisierten Kosten decken
So lange sich die grossen Wirtschaftsblöcke nicht darauf einigen, die bestehenden Subventionen an die Wirtschaft in Billionenhöhe konsequent zu reduzieren und die sozialisierten Kosten in Billionenhöhe wenigstens zu einem grossen Teil den Verursachern anzulasten, bleiben volkswirtschaftlich erwünschte, kostengerechte Produktepreise eine Utopie.
Allgemeine Zölle auf sämtlichen Produkten könnten die schlimmsten Folgen des verzerrten, subventionierten Welthandels vermeiden – Folgen, welche die viel zu niedrigen Import- und Exportpreise verursachen. Die höchsten Zölle müssten auf besonders transport-, energie- und abfallintensive Güter erhoben werden.
Mögliche Folgen
Hohe Zölle können die Subventionen für den Warenverkehr sowie die sozialisierten Kosten wenigstens teilweise kompensieren. Die Konsequenz daraus: Für viele Produkte würde sich der Import aus fernen Ländern und der Export in andere Kontinente nicht mehr lohnen. Das Volumen des Welthandels würde reduziert, der Anteil der Versorgung mit Produkten erhöht, die in der Nähe oder der weiteren Umgebung erzeugt werden. Arbeitsplätze würden vermehrt in weniger ferne Gegenden und ins eigene Land verschoben, wo sie volkswirtschaftlich, unter Berücksichtigung aller Kosten, am produktivsten sind.
Gleichzeitig würde die Plünderung von Ressourcen und die ökologische Belastung unseres Planeten etwas vermindert. Der menschliche Anteil an der Klimaerwärmung ginge zurück.
Auch liessen sich Investitionen und Geld einsparen: Flughäfen müssten während einer längeren Zeit nicht mehr ausgebaut, die Zahl der Hochseefrachter auf den Meeren und die Zahl der Lastwagen im Fernverkehr nicht mehr erhöht werden.
Das würde die Lebensqualität vieler Menschen erhöhen.
Internationaler Transportwahn soll Wohlstand steigern
Konventionelle Ökonomen und manche Wirtschaftsredaktionen halten dagegen. Sie verteufeln generelle Zölle als einen Rückschlag. Sie verschliessen ihre Augen vor den Billionen an Subventionen und vor weiteren Billionen an sozialisierten Kosten. Und vor deren Folgen.
Sie behaupten kühn, die sogenannte «Liberalisierung» des Welthandels habe sowohl den Industriestaaten als auch den Entwicklungsländern zu markant mehr Wohlstand verholfen. Diesen Wohlstand messen sie insbesondere am Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP der einzelnen Länder.
Doch das ist ein falscher Massstab, um das Wohlergehen und die Lebensqualität der Menschen in den verschiedenen Ländern zu messen. Aufgeschlossene Wirtschaftswissenschaftler weisen schon seit längerem darauf hin, dass die Nachteile des BIP-Wachstums für die meisten Menschen in den Industriestaaten sowie für das weltweite Öko- und Finanzsystem schon seit vielen Jahren grösser sind als die Vorteile.
Zudem können die Industriestaaten von einem weitgehend zollfreien und deregulierten Welthandel nur kurzfristig profitieren. Denn der Lebensstil ihrer Einwohner ist physisch nicht übertragbar auf alle Mitbewohnenden auf der Erde. Es ist materiell schlicht unmöglich, dass alle vier Milliarden Afrikaner, Inder und Chinesen auch nur annähernd so leben und die Natur und die endlichen Ressourcen so plündern wie die Menschen in den Industriestaaten. Es bräuchte dazu mindestens vier Planeten.
In den Entwicklungsländern ist ein weiteres materielles Wachstum weiter nötig. Aber zu angepassten Bedingungen. Denn zu den heutigen Bedingungen bringt ihnen ein ungezügeltes Wirtschaftswachstum
- gigantische Umweltschäden;
- Abhängigkeiten von Konzernen;
- Risiken von Monokulturen;
- Verstädterungen und
- finanzielle Schulden.
Gigantische sozialisierte Kosten
Fassen wir zusammen: Das weltweite BIP-Wachstum, auf das viele unbeirrt starren und das als Wohlstandsbeweis dient, steigt nicht zuletzt,
- weil Waren dank Milliardensubventionen der Transportmittel unproduktiv auf der ganzen Erde hin- und hergeschoben werden;
- weil in vielen Ländern sklavenartige Arbeitsverhältnisse herrschen;
- weil endliche Rohstoffe ausgebeutet werden;
- weil die Menschheit Abfallberge zu Lande und im Meer anhäuft – mit grossen Kostenfolgen für nachfolgende Generationen;
- weil so viel CO2 und Methan ausgestossen wird, dass die Temperaturen schneller ansteigen, als es die Natur vorsieht;
- weil die monetäre Schuldenblase gefährlich wächst.
Trotzdem verbreiten Ökonomen und manche Wirtschaftsredaktionen, ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts sei weiter erwünscht. Steigende BIP-Zahlen werden als erfreuliche Nachrichten verbreitet. Denn sie gehen offensichtlich weiterhin davon aus, dass das Wirtschaftswachstum – trotz der beschriebenen gewaltigen Verzerrungen – den Wohlstand und die Lebensqualität auf der ganzen Welt nachhaltig steigert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Urs P. Gasche ist mit Hanspeter Guggenbühl Co-Autor des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr», Rüegger-Verlag, 2010, 16.80 CHF; 15.50 Euro (Kindle).
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Besten Dank für diese schöne Zusammenstellung der Perversitäten unserer «neoliberalen» Wirtschaftsordnung.
Die vermehrten staatlichen Interventionen zeigen, dass diese Wirtschaftsordnung nicht nur grosse Schwächen in der Form von «Marktversagen» zeigt, sondern v.a. auch ständig neue Formen von «Regulierungsversagen» schafft. Die neue Welt der Oligarchen steht naturgemäss im Widerspruch zur ursprünglich «reinen» Wirtschaftslehre, welche eine weitgehend vergleichbare Verteilung der Produktionsmittel und einen nicht diskrimiinierenden freien Marktzugang für alle Marktteilnehmer als Grundprämisse voraussetzte.
Fragen, wie die «nationale Erschöpfung» im Patentrecht oder Zielgrössen von Inflationsraten im Rahmen der Geldpolitik «souveränder» Zentralbanken werden natürlich von der internationalen Sanktionspolitik noch verstärkt, sind aber Ausdruck dieser grundlegenden Perversion der überpolitisierten «greed»-Politik heutiger Wirtschaftsführer.
Wer die Bücher von Urs P. Gasche und Hanspeter Guggenbühl gelesen und den Bericht des Club of Rome zur Kenntnis genommen hat, weiss seit Jahrzehnten, dass die Wachstumsmaschine den Planeten – und uns selbst – auffressen wird. Die so genannte Globalisierung ist nur ein Instrument, um diesen Wahnsinn, ideologisch unterfüttert, fortzuführen. Was auffällt, ist die Erkenntnisverweigerung wirtschaftswissenschaftlicher Institutionen, wie etwa der HSG. Die von potenten Wachstumstreibern in Banken und Industrie gesponserten Fakultäten erzeugen ungeniert neue Wirtschaftseliten, die, einmal an den Schaltstellen in Betrieben, Behörden und Politik etabliert, das BIP-Wachstum und damit die Zerstörung der Umwelt vorantreiben. Wer zu Einsicht und Umkehr rät, wird als Häretiker geschmäht oder gar als Verräter aussortiert. Deshalb muss dringend über die Schliessung solcher Institutionen diskutiert werden. Beiläufig könnte gleich auch noch das WEF als obsoletes BIP-Hochamt aufgelöst werden.
Lieber Herr Gasche
Da ist Ihnen ein guter Artikel gelungen!
Umfassend und gute Zusammenhänge.
Leider gibt es keine Partei, die sich dafür einsetzt! Schade!
In dem neuen Nationalismus sehe ich nicht nur Vorteile, sondern auch eine verschärfte Konkurrenz hinsichtlich Zugängen zu Rohstoffen, Märkten usw. Nationale Gegenwehr der Schwachen gegen die Starken, etwa dominante Staaten und Konzerne ist dagegen durchaus notwendig, etwa die Gegenwehr afrikanischer Bevölkerungen und Staaten der auf Rohstoffexporte hin strukturierten Ökonomien. Aber nationalistische Wirtschaftspolitik, die nicht von einer Demokratisierung im Innern wie von einer Symmetrisierung im internationalen Wirtschaftsverkehr begleitet wird, enthält Eskalationspotentiale für alte Konflikte.
Dass die Theorie der komparativen Kostenvorteile von Ricardo, eines Vertreters der englischen Freihandelsinteressen, dafür angeführt wird, «dass ein möglichst freier Handel allen Beteiligten Ländern zu mehr Wohlstand verhilft», halte ich für unzutreffend, denn auf dieser Grundlage wurden die strukturellen Ungleicheiten (A.G.Frank, Samir Amin u.a.) trotz und durch das Wachstum geschaffen.
Dieses gewalttätige, für den Profit von Konzernen verzerrte und die Öffentlichkeit zahlen und leiden lassende System, wird aktuell von den üblichen Verdächtigen durch Zinserhöhungen bewusst zum Einsturz gebracht:
https://friedenskraft.suterapps.ch/media/64d8b99462488941c3471468ZinsanstiegundEndeFiatw%C3%A4hrungen.pdf