Gerhard Schwarz, kaufen Sie häufiger selber ein!
Lieber Herr Schwarz
Sie wehren sich gegen eine «Verregulierung» beim Essen. Es sei «bedenklich», schreiben Sie in Ihrer NZZ-Kolumne vom 7. Januar, «wenn der Staat versucht, die Menschen mit Geboten und Verboten … zu einem von ihm als ‹richtig› vermuteten und definierten Modell des gesunden und guten Lebens zu erziehen».
Damit rennen Sie offene Türen ein.
Dann erinnern Sie an einen liberalen Grundsatz: «In einer freien Gesellschaft» sollen die Leute beim Essen immer auch «sündigen» dürfen. Der Staat soll nur einschreiten, wenn das sündige Genussverhalten schädlichen Auswirkungen für Dritte hat.
Kaum jemand wird Ihnen widersprechen, höchstens die Frage stellen, ob Sie unter den «Dritten» auch Kinderarbeit und Ausbeutung in Produktionsländern verstehen. Dann müssten Sie die Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» unterstützen.
Sie fahren fort: «In einer freien Gesellschaft müssen die Menschen selbst entscheiden können, ob sie aus ihrem Leben alles ausschliessen wollen, was ungesund, unhygienisch, abenteuerlich oder auch unmoralisch ist.» Alles andere sei eine «Entmündigung».
Eine starke Aussage, die ich voll unterstütze.
Doch offensichtlich wollen Sie nicht sehen, dass die Konsumentinnen und Konsumenten bereits weitgehend «entmündigt» sind. Nicht in erster Linie durch Überregulierungen, sondern weil man sie nicht frei wählen lässt. Die Konzerne tun alles, um ihre Kunden über gesundheitliche, hygienische und moralische Aspekte ihrer Produkte zu täuschen und irrezuführen.
- Denken Sie an die Werbung, welche ihre Aussagen – anders als wir in den Medien – nicht beweisen muss.
- Denken Sie an versteckte Inhaltsstoffe wie Zucker oder gesättigte Fettsäuren, an absichtlich täuschende Abbildungen auf Verpackungen, an die Verschleierung der Produktionsmethoden wie der Tierhaltung und an vieles mehr.
- Die kleingedruckten Tabellen mit Inhaltsangaben in Prozentzahlen würden auch wohl Sie nur verstehen, wenn Sie mindestens zwei Semester Lebensmitteltechnologie studiert hätten.
Ich empfehle Ihnen: Kaufen Sie häufiger selber Lebensmittel ein und versuchen Sie dabei, möglichst gesunde Produkte zu wählen, und möglichst tier- und umweltfreundliche, und solche, deren Rohstoffe in Entwicklungsländern unter menschenwürdigen und umweltschonenden Bedingungen hergestellt wurden. Ich begleite Sie gerne dabei. Wir können Ihren Einkaufskorb am Schluss gemeinsam überprüfen.
Das gleiche etwa bei Banken und Versicherungen
Wahrscheinlich liege ich nicht falsch in der Annahme, dass Sie sich kürzlich freuten über den NZZ-Artikel «Einlagenschutz macht träge». NZZ-Wirtschaftskorrespondent Michael Rasch kritisierte, dass die EU bei einer Bankenpleite pro Einwohner und Bank je 100’000 Euro garantiert. Sein Argument:
«Würden die Einlagen nicht geschützt, müssten sich die Kunden viel besser informieren, welche Bank sie als vertrauenswürdig und gesund genug einstufen, um dieser ihr Geld anzuvertrauen. Das ist eine Aufgabe, die den meisten Menschen wirklich zugetraut werden kann.»
Wirklich? Können Sie mir sagen, ob die CS, die UBS, die Raiffeisenbank, die WIR-Bank oder die Migros-Bank «vertrauenswürdiger» und «gesund genug» ist? Wenn nicht einmal die Bankenaufsicht regelmässig ein Rating veröffentlicht, wie soll ich denn herausfinden, bei welchem Institut mein Geld am Sichersten ist? Bei der Bank mit den höchsten Gebühren, oder bei der, die mit den niedrigsten Gebühren um neue Kunden buhlt?
Das gleiche Lied bei den Versicherungen: Diese verwenden für vergleichbare Leistungen nicht einmal gleiche Begriffe. Wenn ich einen «Berater» (=Verkäufer) frage, welches denn die Vor- und Nachteile im Vergleich mit dem Angebot einer andern Versicherung sind, erhalte ich keine Antwort. Er will mich und Sie einfach zu Produkten überreden, für die er einen Kickback kassiert.
Bei Kleidern und Schuhen können Sie mich gerne darüber aufklären, wie ich Exemplare bevorzugen kann, die bei der Produktion weder Menschenrechte noch Menschenwürde verletzen.
Die Rolle der Konsumentinnen und Konsumenten in der Ordnungspolitik
Als «Ordnungspolitiker» unterschreiben Sie sicher, dass sich in einer Marktwirtschaft die besten und effizientesten Unternehmen durchsetzen sollen. Der «Regulator» sollten die Konsumentinnen und Konsumenten sein, welche Produkte mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis bevorzugen. Doch wie sollen die Käuferinnen und Käufer diese Rolle wahrnehmen, wenn die Anbieter vor allem darauf bedacht sind, sie über die Eigenschaften ihrer Produkte zu täuschen und irrezuführen?
Hier ist der Staat gefragt, der für den Markt möglichst faire Spielregeln erlassen muss. Dazu gehören in erster Linie grösstmögliche Transparenz und Vergleichbarkeit.
Sie hatten sicher nichts dagegen einzuwenden, als der Staat beispielsweise verfügte, dass auf allen Lebensmitteln der Preis und die Nährwertangabe pro 100 Gramm angegeben werden muss. Doch die heutigen Deklarationen genügen nicht, um gesund, hygienisch und moralisch einzukaufen.
Ich kann Sie beruhigen: Für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit bräuchte es keine zusätzlichen Regulierungen, nur andere als heute. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich publizistisch dafür einsetzen. Je mehr Transparenz und Vergleichbarkeit, desto mehr kann man – Ihrem Wunsch gemäss – auf eine «Verregelung und Verriegelung des Alltags durch die Politik» verzichten.
Eine Antwort von Ihnen veröffentlichen wir gerne an dieser Stelle.
Mit freundlichen Grüssen
Urs P. Gasche
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war von 1985 bis 1995 Leiter der Konsumentensendung «Kassensturz» beim SRF TV.
Einst bedeutete liberal Befreiung von alten Dogmen, Hoffnung feudale Strukturen endgültig über Bord schmeissen zu können. Staatstragend seien sie gewesen, die einstigen Liberalen und mächtig sind sie geworden.
Dann schmolz die FDP dahin. Mit der Entwicklung zum sogenannten Neoliberalismus, eigentlich der Herrschaft der ungezügelten Marktideologie, löste sich ihre Glaubwürdigkeit in Luft auf. Genau, wie oben beschrieben, ohne Wahlmöglichkeit auf Grund korrekter Informationen ist Markt eine Farce und überhaupt nicht frei.
Bei der Nahrung wird es tragisch: wir essen uns krank und wissen gar nicht recht wieso. Wissen über Ernährung, Nahrungsbeschaffung und Stoffwechsel zu vermitteln wird der Werbung überlassen und nicht ernst genommen.
Zitat von Aadil Ahmad Ganaie, Student der Oekonomie, Universität Hyderabad.
But what can you do when you have a captured democracy? The government is now a tool to provide protection to the corporate profits!
Ich mag auch sehr eines von Henri Lacordaire (1802-1861), in 52e Conférence de Notre-Dame, 1848.
‹Entre le fort et le faible, entre le riche et le pauvre, entre le maître et le serviteur, c’est la liberté qui opprime et la loi qui libère.›
Lieber Herr Gasche,
jetzt verlieren Sie aber wirklich Ihre Zeit, einen Marktdogmatiker wie Gerhard Schwarz dazu zu bringen, irgendetwas an seinem Dogma in Frage zu stellen, ist schwieriger, als einen Zeugen Jehovas zum Atheismus zu bewegen. Meine Prognose: Wenn Sie eine Antwort erhalten, dann werden Sie darin über Ihre Irrtümer belehrt.
wäre interessant die Antworten dazu zu lesen. Fragen sind ein wunderbares Werkzeug um die dahinterliegenden Motivationen aufzudecke(l)n. Danke für diesen Beitrag!
Die Fragen sind gut!
Aber ich fürchte, wir können warten, bis wir schwarz werden, und erhalten doch keine brauchbare Antwort von diesem Herrn.
Zum Zitat: «In einer freien Gesellschaft müssen die Menschen selbst entscheiden können, ob sie aus ihrem Leben alles ausschliessen wollen, was ungesund, unhygienisch, abenteuerlich oder auch unmoralisch ist.»
Bis zum zweitletzten Wort könnte ich zustimmen. Dass in einer freien Gesellschaft alle selber entscheiden sollen, ob sie unmoralisch handeln wollen, ist natürlich Unsinn. Dann dürften sie ja auch morden, stehlen und betrügen, wenn ihr Sinn gerade danach stünde.