«Die Branche operiert mit Fantasiezahlen»
«Die Vermarkter gaukeln ihren Kunden viel zu hohe Reichweiten vor», sagt Christian Hänggi. Der Zürcher schaltete im März 2023 eine Werbekampagne auf Bildschirmen. Er wollte in der Nähe des Saals, wo der Gemeinderat (Parlament) über ein mögliches Werbescreen-Verbot debattierte, auf fünf Bildschirmen Werbung für sein Anliegen schalten. Hänggi ist nämlich auch Präsident Vereins IG Plakat-Raum-Gesellschaft. Dieser fordert, dass die Aussenwerbung im öffentlichen Raum stark reduziert wird.
Doch Hänggi staunte nicht schlecht als er die Rechnung für die Bildschirmanzeigen erhielt. Grund für die hohe Rechnung: Die Firma Neo Advertising (heute als Goldbach Neo Teil der TX Group, siehe Kasten unten) gab an, dass Hänggis Sujet viel stärker beachtet wurde, als es seiner Ansicht nach der Fall war. «Die Zahlen waren zwischen zweieinhalb Mal und 25 Mal höher», so Hänggi. Er machte die Probe aufs Exempel und zählte am darauffolgenden Tag beim gleichen Wetter zur selben Uhrzeit, wie viele Passantinnen und Passanten seine Werbung hätten sehen müssen.
Hänggi beschwerte sich. Neo Advertising versprach, die Zahlen zu überprüfen. Doch je mehr Hänggi über die Zählmethode wissen wollte, desto misstrauischer wurde er. Hänggi verstand bald: Die ihm verkauften Kontakte waren nicht effektiv gezählt, sondern mit einem hochkomplexen Modell berechnet worden. Als solches war es aber auch undurchsichtig.
21 Screens an 13 Standorten überprüft
Die abschlägigen Antworten, die er als Kunde auf seine kritischen Fragen erhielt, genügten Hänggi nicht. Und so forschte er auf eigene Faust weiter. Heute, eineinhalb Jahre später, hat er an 13 Standorten und 21 Werbescreens die Kontakte gezählt und die Resultate am vergangenen Freitag auf einer Website veröffentlicht.
«Meine Methode ist auch nicht perfekt, aber exakt genug, um festzustellen, dass die ausgewiesenen Reichweiten der Stichproben eklatant von der Wirklichkeit abweichen», sagt Hänggi.
In keiner seiner Stichproben war die Beachtung der Werbung grösser als im Berechnungsmodell, sondern durchwegs geringer. Seine Resultate würden zeigen, dass die Aussenwerbefirmen ihren Kunden potenziell Millionen Franken pro Jahr zu viel verrechnen, so Hänggi.
Dies sei schon offensichtlich, wenn man die ausgewiesenen Zahlen für Bildschirme der beiden grössten Anbieter APG und Goldbach Neo vergleiche. «Irgendwo ist der Wurm drin, und die Plakatgesellschaften profitieren davon», so Hänggi. Aber auch kleine Marktteilnehmer wie City Lights würden im Buchungsportal Splicky Fantasiezahlen präsentieren. «Die viel zu hohen Zahlen treiben den Ausbau der digitalen Werbeflächen im öffentlichen Raum voran.»
Eine APG-Tochter liefert die Branchenwährung
Im Fokus von Hänggis Kritik steht deshalb die Firma SPR+. Sie entwickelt, betreibt und vermarktet das Berechnungsmodell, welches für den Grossteil der Aussenwerbeflächen in der Schweiz benutzt wird. Auch andere Firmen wie Senozon, Intervista oder Livesystems eruieren Daten und betreiben eigene Modelle. Doch SPR+ dominiert den Markt.
Das Unternehmen bezeichnet sich gemäss Website als Forschungsinstitut, das neutrale und transparente Grundlagenforschung betreibt. Hänggi stört sich aber daran, dass seine detaillierten Fragen zur Methodik unbeantwortet blieben. Begründung: Geschäftsgeheimnis.
Zudem sei das «Forschungsinstitut» alles andere als neutral. Es gehört nämlich zu 100 Prozent der APG, der Schweizer Marktführerin für Aussenwerbung. Dass diese Angabe auf der Website von SPR+ fehle, bemängelt Hänggi ebenfalls. «So wird den Werbetreibenden Eigenständigkeit vorgegaukelt – bei kompletter Abhängigkeit vom Marktleader.» Einzig bei den Beteiligungen der APG und in deren Finanzbericht ist die Swiss Poster Research AG aufgeführt.
APG und Goldbach Neo schreiben auf Infosperber-Anfrage beide, dass sie Christan Hänggis Zahlen nicht nachvollziehen oder kommentieren können, weil sie zu wenig über die Methodik wissen. Beide geben auch an, die Realitätsnähe der Zahlen nicht zu kontrollieren. Das Modell von SPR+ sei vom Schweizer Markt getragen und erfülle die globalen Richtlinien für Aussenwerbeforschung. Unabhängig werde jedoch kontrolliert, ob die Kampagnen ausgeliefert werden.
Felix Mende, Geschäftsführer von SPR+, schreibt auf Anfrage, er könne die Zahlen nicht kommentieren. Weshalb SPR+ nirgendwo deklariere, dass es ein Tochterunternehmen der APG sei, wollte Mende nicht sagen. SPR+ werde durch die Vermarkter finanziert und von einem Forschungsbeirat begleitet. «Damit ist Neutralität gegeben und wird auch von allen wesentlichen Marktteilnehmern und Verbänden so akzeptiert. Wir sind im ständigen Austausch darüber, wie man das Aktionariat erweitern kann.»
Auch Roland Ehrler, Direktor des Schweizer Werbe-Auftraggeberverbands und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von SPR+ wollte Hänggis Stichproben nicht kommentieren. SPR+ habe sich in den vergangenen Jahren als einzige Währung nach internationalen und lokalen Ansprüchen etabliert.
Ehrler gibt aber zu bedenken: Bei der Aussenwerbung gebe es keine Messungen darüber, wie viele Menschen tatsächlich gerade vor einem Screen vorbeilaufen und dort die Werbung betrachten. Das setze der Reichweitenforschung deshalb gewisse methodische Grenzen. Falls gewünscht könne aber eine Mediaagentur Leistungsdaten kritisch überprüfen.
Grosszügige Kontaktberechnung und veraltete Daten
Gian Suter tut genau dies. «Wie bei jeder Mediengattung haben auch die Anbieter digitaler Aussenwerbung das Interesse, möglichst hohe Reichweiten auszuweisen», sagt Suter im Gespräch mit Infosperber. Er ist als selbständiger Mediaberater spezialisiert auf digitale Aussenwerbung. Suter hat sieben Jahre beim grössten Schweizer Anbieter digitaler Aussenwerbung gearbeitet und sich auch im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit über digitale Aussenwerbung vertieft mit Werbewirkung und den Reichweitenmodellen befasst. Seit 2019 berät er Werbekunden, Plakatanbieter und Grundeigentümer.
Suter überraschen die Ergebnisse von Hänggis Stichproben nicht. Er hat selber ähnliche Erfahrungen gemacht und grosse Diskrepanzen festgestellt zwischen Reichweitendaten von SPR+, Intervista und an Werbescreens angebrachten Sensoren – in einem Fall gar ums Sechsfache.
Suter sieht zwei Hauptgründe für die teils hohen Abweichungen: Das Modell von SPR+ berücksichtige alle Personen, welche sich im Umkreis von 50 Metern von einem Werbescreen bewegen, als möglichen Kontakt und rechnet diese nach definierten Modellen zu möglichen Kontaktwerten. Zudem operiere das Modell mit teils in die Jahre gekommenen Daten.
«Es gäbe bereits heute präzisere Daten als Grundlage. Die Frage ist, wie diese verwendet werden.» Für Suter ist deshalb klar: «Die Berechnung der Reichweiten in der digitalen Aussenwerbung muss mittelfristig überholt werden.»
Boomendes Digitalgeschäft im Aussenraum
In Zeiten sinkender Auflagen gedruckter Zeitungen oder systematisch genutzter Ad-Blocker versprechen Werbescreens, Botschaften gezielt und effizient an ein grosses Publikum zu bringen. So wurde das Angebot an digitalen Aussenwerbeflächen in den vergangenen Jahren markant ausgebaut.
Digitale Aussenwerbung funktioniert datengestützt. Dafür braucht sie möglichst präzise Angaben zu Passantenströmen. Wer befindet sich typischerweise zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort? Wie viele Menschen welchen Geschlechts und Alter? Und wofür interessieren sie sich?
Dies zeigte sich letztes Jahr, als die SBB einen Auftrag für die Erfassung demografischer Personendaten in den Bahnhöfen ausschrieben. Nach einem Sturm öffentlicher Entrüstung musste das Unternehmen zurückkrebsen. Dabei gab es erst verspätet zu, dass das Werbegeschäft eine Rolle spielte (Infosperber berichtete).
Das Angebot ist auch für Werbetreibende vielversprechend. Wie Onlinewerbung können die Schaltungen bequem vom Bürotisch aus gebucht werden. Pro 1000 ausgewiesener Kontakte der auf Bildschirmen ausgestrahlten Anzeigen verlangen die Anbieter fast 20 Franken.
So stehen die Screens an immer mehr Orten: in Fussgängerzonen, Einkaufszentren, Tankstellen oder an stark befahrenen Strassen. Städte wie Zürich oder Unternehmen wie die SBB haben diesen lukrativen Ausbau auf privatem und öffentlichem Grund gefördert (Infosperber berichtete).
Auch grosse Medienkonzerne wollen seit Kurzem einen Teil des Kuchens. Die NZZ Gruppe, deren Tageszeitung besonders gerne über Werbeverbote schreibt, erwarb kürzlich einen strategischen 25 Prozent-Anteil an der Marktführerin APG, welche alle SBB-Flächen bewirtschaftet. Und die TX Group baut ihr Aussenwerbegeschäft schon länger aus. Ende 2022 übernahm der Medienkonzern das Unternehmen Clear Channel und führte es 2023 mit dem bestehenden Tochterunternehmen Neo Advertising zu Goldbach Neo zusammen. Doch gegen den Ausbau gibt es auch Widerstand. In Zürich will das Stadtparlament Werbescreens verbieten. In Bern soll gar jegliche Form von Aussenwerbung verboten werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Spannender Beitrag. Sehr gute Aktion von Christian Hänggi. Werbeplakate und elektronische Screens sind wirklich eine Verschandelung der Stadt und gehören weg.
Interessant, darüber diskutieren wir in der Werbeagentur, in der ich arbeite, auch immer wieder. Und während die Jungen finden, dass das, und nur das, die Zukunft ist, stelle ich fest, dass ich das kaum beachte, denn sobald ich genauer hinschauen möchte, ist es wieder weg …