Öffentlicher Verkehr SBB ZVV City-Ticket Alliance Swiss-Pass Bundesamt für Verkehr BAV

Was ist in Winterthur grösser? Das Durcheinander bei den Fahrleitungen oder bei den Tarifen? © Stadtbus Winterthur

Der ZVV ist renitent – und kassiert Millionen

Marco Diener /  Für viele Haltestellen in und um Zürich sind nur teure Billette erhältlich. Profiteur ist der ZVV. Nun schreitet der Bund ein.

Es ist absurd: Wer von Flawil SG mit dem Zug nach Winterthur ZH fährt und von dort mit dem Bus der Linie 1 bis zur Haltestelle Sulzer, der zahlt mit Halbtaxabo Fr. 14.60. Wer ein Billett für eine längere Strecke löst, zahlt weniger. Zum Beispiel fünf Haltestellen weiter bis zur Endstation Töss. Dieses Billett kostet Fr. 10.50. Ersparnis: fast 30 Prozent. Trotz längerer Strecke.

Wie kommt das? Dazu braucht es einen kleinen Exkurs ins Tarifwesen des Öffentlichen Verkehrs.

Drei Transportunternehmen – ein Billett

Für Reisen innerhalb der Schweiz – auch wenn sie kompliziert sind – braucht es in der Regel nur ein Billett. Beispiel: Wer vom Genfer Flughafen aufs Jungfraujoch VS reist, nutzt die SBB, die Berner Oberland-Bahn (BOB) und die Jungfraubahn. Obwohl an der Reise drei Transportunternehmen beteiligt sind, braucht es nur ein einziges Billett.

Voraussetzung für solche direkten Billette ist, dass die Transportunternehmen ihre Haltestellen in den sogenannten Nationalen Direkten Verkehr integrieren. Doch das tut der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) völlig unsystematisch. Ganz im Gegensatz zu den anderen Tarifverbünden.

Für die Kunden des Öffentlichen Verkehrs hat das unliebsame Folgen. Das lässt sich leicht am eingangs erwähnten Beispiel zeigen:

  • Flawil – Winterthur, Sulzer: Die Haltestelle Sulzer ist nicht in den Nationalen Direkten Verkehr integriert. Deshalb bietet der SBB-Ticketshop nur ein Billett mit City-Ticket an. Das City-Ticket ist eigentlich eine Tageskarte. Es berechtigt am Gültigkeitstrag zu beliebigen Fahrten in Winterthur. Das City-Ticket kostet Fr. 5.90. Abwählen lässt es sich im SBB-Ticketshop nicht. Wer es nicht braucht, zahlt also zu viel.
  • Flawil – Winterthur, Töss: Die Endstation Töss ist in den Nationalen Direkten Verkehr integriert. Deshalb gibt es im SBB-Ticketshop ein entsprechendes Streckenbillett. Wer will, kann zusätzlich ein City-Ticket kaufen. Aber freiwillig. So müsste es sein.
Öffentlicher Verkehr SBB ZVV City-Ticket Alliance Swiss-Pass Bundesamt für Verkehr BAV
Winterthur, Sulzer ist die erste Haltestelle nach dem Bahnhof. Wer den Bus nimmt, muss ein City-Ticket kaufen. Das kostet zusätzlich Fr. 5.90 (mit Halbtaxabo).

Keine Sparbillette, keine Streckenabos

Für die Haltestellen, für die der SBB-Ticketshop keine Streckenbillette verkaufen kann, bietet er auch keine Sparbillette an. Auch das ist eine Benachteiligung der Reisenden von und zu diesen Haltestellen. Streckenabos sind auch nicht erhältlich. Wer regelmässig von Flawil nach Winterthur, Sulzer fährt, bekommt vom SBB-Ticketshop ein GA empfohlen. Es kostet Fr. 3860.– pro Jahr. Nach Winterthur, Töss gibt es hingegen ein Streckenabo für Fr. 2385.–. Das sind 38 Prozent weniger.

Kein Einzelfall

Die Haltestellen Sulzer und Töss in Winterthur sind bei weitem kein Einzelfall. In Winterthur sind rund zwei Drittel der Haltestellen nicht in den Nationalen Direkten Verkehr integriert. Das heisst: Wer von ausserhalb des Verbundgebiets an eine solche Haltestelle fährt, zahlt zu viel. Und in der Gegenrichtung auch.

Wie unsinnig die Tarifpolitik des ZVV ist, zeigen weitere Beispiele:

  • Meilen ZH: Für die Reise an Haltestellen der Buslinien 921 und 925 sind die günstigeren Streckenbillette erhältlich. Für Reisen an Haltestellen der Buslinie 922 nur die teuren Billette mit City-Ticket.
  • Zürich: Am Kreuzplatz halten die Busse der Linie 31, die Trams der Linie 11 und die Züge der Forchbahn alle am gleichen Ort. Aber die Haltestelle der Forchbahn ist nicht in den Nationalen Direkten Verkehr integriert. Die Folge: Ab Olten SO beispielsweise kostet die Fahrt mit Halbtaxabo an die Haltestelle der Forchbahn Fr. 19.40, an die Haltestellen der Linien 11 und 31 Fr. 15.–. Obwohl sich die Haltestellen – es sei wiederholt – am gleichen Ort befinden.
  • Erlenbach ZH: Die Gemeinde an der Goldküste dürfte der Rekordhalter sein. 17 von 20 Haltestellen fehlen im Nationalen Direkten Verkehr. Das sind 85 Prozent. Streckenbillette von ausserhalb des Verkehrsverbunds beziehungsweise nach ausserhalb des Verkehrsverbunds sind nicht erhältlich – nur Billette mit teurem City-Ticket für Fahrten innerhalb von Erlenbach. Wobei der Name City-Ticket für eine Ortschaft mit knapp 5700 Einwohnern bereits sagt, wie absurd das System des ZVV ist.

«Seit mindestens fünf Jahren»

Ein aufmerksamer Infosperber-Leser erkundigte sich schon Ende 2021 bei den SBB nach den Gründen für die unlogische Tarifpolitik. Die SBB antworteten schon fast verzweifelt, der ZVV wolle für gewisse Strecken einfach keine Streckenbillette verkaufen. Und: «Wir intervenieren in dieser Sache seit mindestens fünf Jahren beim ZVV.»

Auch von der Stadt Winterthur bekam der Leser keine befriedigende Antwort. «Wir sind uns der Problematik bewusst», teilte sie mit. Und: «Es handelt sich um ein anspruchsvolles Abstimmungsproblem.» Jedenfalls klang die Antwort nicht so, als ob die Stadt etwas unternähme.

«Zum Wohle der Kunden»

Infosperber wandte sich an die Alliance Swiss-Pass. Die Branchenorganisation ist ein Zusammenschluss von 250 Transportunternehmen und 18 Tarifverbünden. Sie engagiert sich nach eigenen Angaben «schweizweit für harmonisierte, verständliche und wirtschaftliche Tarifbestimmungen (…) sowie kundenorientierte Sortimente». Sie trage «zu einem einfachen, zukunftsgerichteten und kundenfreundlichen ÖV-System Schweiz bei». Und sie arbeite «zum Wohle der Kundinnen und Kunden».

Trotz der schönen Worte – die Alliance Swiss-Pass foutiert sich um die Bedürfnisse der ÖV-Kunden. Sie antwortet Infosperber: «Vorgeschrieben ist, dass für eine Reise in der Schweiz ein Billett angeboten werden muss. Das kann ein Streckenbillett sein muss aber nicht. Auch ein City-Ticket erfüllt diese gesetzliche Vorgabe.» Mit anderen Worten: Ob die Reisenden zu viel zahlen oder nicht – das ist den Verantwortlichen egal.

10 Prozent sind betroffen

Der ZVV beantwortet die Fragen von Infosperber zum Teil mit den gleichen Worten wie Alliance Swiss-Pass. Der ZVV schreibt zudem, mit den City-Tickets, die in der entsprechenden Ortschaft den ganzen Tag auf allen Linien gültig seien, liessen sich «Kundenfallen» eliminieren. Nur: Diese «Kundenfallen» haben die Transportunternehmen mit der Vielfalt an Billetten und Abos überhaupt erst geschaffen.

Der ZVV spielt das Problem der überteuerten Billette herunter. 90 Prozent der Passagiere seien davon nicht betroffen, da sie bei ihren Reisen das Gebiet des ZVV beziehungsweise des Z-Passes nicht verliessen. Bleiben also 10 Prozent.

Das tönt nach wenig. Aber es sind pro Jahr 47 Millionen Fahrgäste. Und ein schöner Teil von ihnen ist gezwungen, den City-Ticket-Zuschlag zu zahlen, obwohl das nicht nötig wäre. Die ungerechtfertigten Einnahmen dürften in die Millionen gehen. Trotzdem schreibt der ZVV: «Finanzielle Überlegungen für mehr Einnahmen waren nie ein Kriterium.»

BAV macht Druck

Immerhin: Inzwischen ist das Bundesamt für Verkehr (BAV) aktiv geworden. Es hat den ZVV «aufgefordert, eine Übersicht über nicht integrierte Haltestellen zusammenzustellen, und zugleich hat es die Integration dieser Haltestellen verlangt». Das BAV hat dem ZVV eine Frist bis im Sommer gesetzt.

Weiterführende Informationen (Aktualisierung vom 13. Juni 2023):

Infosperber: Liste der Haltestellen, die nicht in den Nationalen Direkten Verkehr integriert sind.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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6 Meinungen

  • am 12.06.2023 um 17:26 Uhr
    Permalink

    Wo finde ich aktuell eine Liste jener Haltestellen, die nicht im Nationalen Direkten Verkehr integriert sind?

  • am 13.06.2023 um 09:00 Uhr
    Permalink

    Die SBB schiebt die Verantwortung an die ZVV ab. Trotzdem sollte man bedenken, dass es die Buchungsplattform der SBB ist, wo sich der Tarifwirrwar abspielt, und es so auch in der Verantwortung der SBB liegt. Also interveniert die SBB, wie sie schreibt, in dieser Sache seit 5 Jahren. Was die SBB seit 5 Jahren nicht macht ist die Fahrgäste über diesen Missstand zu informieren, obwohl ihre Marketing-Präsenz in allen anderen Bereichen seit jeher enorm ist.

    • am 14.06.2023 um 06:21 Uhr
      Permalink

      @ Cyrill Kaufmann: Der ZVV muss die Daten liefern, damit die SBB diese in den NDV integrieren kann. Deshalb wendet sich das BAV ja auch an den ZVV.

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