Überarbeitet_Hassan

Optimale Betriebsamkeit kann schnell in exzessive Betriebsamkeit kippen. © mohammed_hassan (Pixabay)

Der Kult der optimalen Betriebsamkeit

Joonas Rokka und Joana Lupu /  Viele Menschen mit anspruchsvollen Jobs entwickeln eine Art Sucht nach permanenter Produktivität. Zwei Forschende erklären.

Dies ist ein Gastbeitrag der beiden Forschenden Joonas Rokka (EM Lyon) und Joana Lupu (ESSEC Business School). Er erschien zuerst im Online-Magazin «The Conversation».

Die Beraterin war auf dem Weg zu einem anspruchsvollen Kundentermin, als sie feststellte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Aber sie unterbrach ihren Tag nicht. Stattdessen setzte sie die Sitzung im Büro ihres Kunden fort.

Die Frau, die in einer elitären Dienstleistungsfirma in London arbeitet, gehörte zu den Fachleuten, die wir im Rahmen unserer jüngsten Studie über das Arbeitsleben hochqualifizierter Fachleute befragt haben. Als wir 2014 mit unserer Studie begannen, wollten wir untersuchen, wie Arbeitnehmer in anspruchsvollen Berufen ihre Work-Life-Balance handhaben.

Doch schon bald nach Beginn der Befragungen wurde uns klar, dass wir unseren Fokus ändern mussten, denn es wurde deutlich, dass unsere Befragten nicht versuchten, ihr Arbeits- und Privatleben miteinander in Einklang zu bringen. Stattdessen stellten wir fest, dass diese Arbeitnehmer von dem Zwang angetrieben wurden, immer beschäftigt zu sein, was bedeutete, dass sie auch bereit waren, ihr Familienleben in wichtigen Bereichen zu opfern. Wie uns einer unserer Teilnehmer sagte: «Man wird ein bisschen zum Junkie, wenn es um Termine und Arbeit geht. Es ist ziemlich schwer, abzuschalten».

Während in der Forschung und in den Medien häufig davon die Rede ist, dass die Menschen heutzutage ihren Lebensstil entschleunigen wollen, zeigen unsere Ergebnisse ein auffallend anderes Bild. Der Wunsch, weniger Stunden zu arbeiten, war bei unseren Befragten nicht sehr ausgeprägt. Stattdessen strebten sie nach etwas anderem: «optimale Betriebsamkeit».

Die Suche nach optimaler Betriebsamkeit

Wir befragten 81 Personen, die in einigen der grössten Beratungs- und Anwaltsfirmen in London arbeiten. Die Hälfte der Beschäftigten waren Frauen, die Hälfte Männer, und fast alle hatten mindestens ein Kind. Alle von uns befragten Fachleute litten unter Zeitmangel – sie hatten ständig zu wenig Zeit, um das zu tun, was sie zu tun hatten.

Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, fühlten sie sich zu einem zwingenden Zustand der Geschäftigkeit hingezogen, in dem sie das Gefühl hatten, die Kontrolle über ihre Zeit zu haben. Wir nennen dies «optimale Geschäftigkeit» – eine attraktive, beschleunigte Zeiterfahrung, die schwer zu erreichen und aufrechtzuerhalten ist.

Insgesamt haben wir drei verschiedene Arten von Betriebsamkeits-Erfahrungen ermittelt: optimale Betriebsamkeit, exzessive Betriebsamkeit und ruhige Zeit. Optimale Betriebsamkeit ist ein beschwingter und angenehmer zeitlicher Fluss, in dem sich die Arbeitnehmer am besten und produktivsten fühlten. Dieses aufregende Gefühl verlieh ihnen Adrenalin und positive Energie, was sie begeisterte. In diesem Zustand hatten sie das Gefühl, dass nichts sie aufhalten kann und dass sie beispielsweise ein Unternehmen vor dem Konkurs retten können.

Diese Anziehung zur Geschäftigkeit kann als eine Art Statussymbol oder Ehrenzeichen verstanden werden – ein Phänomen, das in früheren Untersuchungen beschrieben wurde.

Wir fanden jedoch heraus, dass dieser Drang weit über die blosse soziale Signalwirkung hinausgeht. Das erwünschte Gefühl der Betriebsamkeit machte von sich aus süchtig. Ein Teilnehmer sagte uns: «Normalerweise liebe ich die Intensität des Spiels. Es macht mich an, deshalb mache ich den Job, den ich mache. Ich mag es.»

Wir haben beobachtet, dass der angenehme und positive Zustand optimaler Betriebsamkeit oft kippt und exzessiv wird. In solchen Fällen verloren die Fachkräfte das Gefühl, die Kontrolle über ihre Zeit zu haben. An diesem Punkt wurde die Geschäftigkeit überwältigend und manchmal deprimierend.

Wenn das anregende Rauschen der optimalen Betriebsamkeit zu lange ohne Unterbrechung anhielt, wurde es unerträglich. Die Verbindung zur Familie war oft das erste Opfer. Eine Teilnehmerin ging auf Dienstreise und rief ihre Familie trotz Versprechen, sie abends anzurufen, eine ganze Woche lang nicht an.

Ein ähnliches Muster beobachteten wir bei der Ruhezeit, d. h. wenn die hektische Arbeitsphase plötzlich durch eine Auszeit oder – typischerweise – eine Urlaubszeit unterbrochen wurde. Die ruhige Zeit wurde als etwas Unerwünschtes und Sinnloses erlebt. Sie verursachte auch Langeweile und sogar Depressionen. Der Gedanke an ein langsameres Arbeitstempo war eine Quelle der Besorgnis. Einer sagte uns: «Wenn ich keine Fristen habe, langweile ich mich. Ich bin dann viel weniger produktiv, weil ich gerne mit Adrenalin arbeite.»

Wir befragten nicht nur vielbeschäftigte Wissensarbeiter, sondern sprachen auch mit einigen ihrer Partner. Ein Partner sagte: «Meine Frau ist schrecklich. Wenn sie mitten in der Nacht aufwacht, um auf die Toilette zu gehen, checkt sie ihre E-Mails – selbst um 3 Uhr morgens.»

Die Bedingungen für optimale Betriebsamkeit

Einerseits schafft der Arbeitsplatz die Bedingungen, die das Streben nach optimaler Betriebsamkeit fördern. Wir haben eine Reihe von Mechanismen identifiziert, die dies bewirken, darunter unrealistische Fristen, Leistungskennzahlen, Zeiterfassungsbögen und die Arbeitskultur selbst – Unternehmen und Kollegen erwarten, dass jeder über sein Smartphone jederzeit für die Arbeit verfügbar ist. Die von uns untersuchten Unternehmen sind Eliteeinrichtungen, welche die besten Universitätsstudenten mit den besten Noten einstellen. Die Neueinsteiger wollten dem unmöglichen Druck standhalten, weil sie wussten, dass dies die einzige Möglichkeit war, befördert zu werden oder in der Firma einen Posten zu bekommen. Die hektische Arbeitskultur nahm sie bald in Beschlag und normalisierte die unnatürlichen Arbeitszeiten.

Andererseits stellten wir fest, dass auch der Einzelne selbst die Bedingungen für eine optimale Betriebsamkeit schuf. Einige steigerten ihre Arbeitsfähigkeit mit Kaffee, Drogen oder körperlichen Anstrengungen. Andere gingen sogar so weit, sich in einem Hotelzimmer zu isolieren, um ohne Unterbrechungen arbeiten zu können.

Eine gängige Strategie war, dass die Arbeitnehmer dachten: «Es ist nur eine kurze Zeit, und wenn ich fertig bin, werde ich mich entspannen.» Für die meisten kam die Entspannung jedoch nie.

Eine Kultur der Überarbeitung

Seit Jahrzehnten beobachten Wissenschaftler, dass lange Arbeitszeiten, Überarbeitung und Zeitmangel anhalten. Diese Probleme sind in vielen beruflichen Kontexten fest verankert, nicht nur in Beratungs-, Wirtschaftsprüfungs- oder Anwaltskanzleien. Die akademische Welt ist ein weiteres auffälliges Beispiel: Studien zeigen immer wieder, dass das schlechte psychische Wohlbefinden von Forschern mit den gestiegenen Leistungserwartungen, dem Wettbewerbsethos und den akribischen Massstäben zusammenhängt, die zu ständiger Betriebsamkeit führen.

Unsere Forschung bietet eine neue Möglichkeit, dieses Phänomen zu verstehen. Das Streben nach optimaler Betriebsamkeit ist ein Teufelskreis. Bis vor kurzem gab es jedoch nur wenige Untersuchungen, die unsere alltäglichen Zeiterfahrungen und die Art und Weise, wie sie uns in Beschlag nehmen können, aufdeckten.

Die von uns untersuchten Personen waren sich, wenn auch in einem wohl extremen Kontext, oft nicht bewusst, was mit ihnen geschah. Vielleicht ist es für uns alle an der Zeit, darüber nachzudenken, wie und warum wir so süchtig danach sind, uns beschäftigt zu fühlen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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2 Meinungen

  • am 7.01.2022 um 13:09 Uhr
    Permalink

    Ich bin froh, für einmal diese Sicht zu lesen in einem Schweizer Medium. Das ewige immer noch langsamer wollen, halte ich nicht für attraktiv. Menschen arbeiten als Teil des Lebens seit Urzeiten. Freizeit gibt es überhaupt erst, seit Maschinen uns Teile der Arbeit abnehmen. Früher arbeitete man 80h die Woche, Sonntags war dann noch Kirche Pflicht. Heute liegen wir so viel rum, dass wir es fast nur noch mit Alkohol und Marihuana aushalten.
    Das mag etwas überspitzt sein, aber anstelle einer Balance «zwischen» Beruf und Freizeit, wünsche ich mir viel mehr einen erfüllenden Beruf. Natürlich am liebsten einen, wo meine Kinder zumindest teilweise auch bei meiner Arbeit dabei sein können, Stichwort Home Office.

    • am 15.01.2022 um 14:09 Uhr
      Permalink

      Interessanter Artikel! Wenn ich an meine eigene Berufstätigkeit zurückdenke, sehe ich eine Auflistung von Sachverhalten die ich genau so erlebt habe. Vieles entsteht aus guten Motiven und Situationen(Man macht interessante Arbeit, man erreicht etwas, man erhält Anerkennung, man macht sinnvolle Arbeit in einem gut zusammenarbeitenden Team…..). Darum ist man auch bereit mehr Zeit zu investieren als eigentlich vorgesehen ist! Man will ja den «guten Fluss» aufrechterhalten und den eigenen Erwartungen und den Erwartungen von Kollegen, Vorgesetzten und Kunden entsprechen! Und genau darum verliert man mit der Zeit die Kontrolle darüber. Der Ausnahmezustand (den es bei wichtigen Projekten und Spitzenzeiten überall mal gibt) wird zum Normalzustand (wenn alles wichtig wird ist nichts mehr wichtig). Viele «tragende Kräfte» geraten so mit der Zeit in einen Zustand der latenten Unzufriedenheit. Gerade die neusten Entwicklungen seit Corona verstärken diese Tendenzen. Z. B. Homeoffice: Habe früher (vor mehr als 10 Jahren) auch ab und zu mal HomeOffice gemacht. Das war in der Firma wo ich arbeitet an meiner Position akzeptiert. Das pasierte etwa 3-4 mal im Jahr 1-2 Tage. Und war das Mittel um auf «Tauchstation» zu gehen um wichtige Demos und Präsentationen vorzubereiten (Abkoppeln vom Tagesgeschäft).
      Was hilft? Verständnisvolle Vorgesetzte die einem helfen Wichtiges von Dringendem (oder vermeintlich Dringendem) und ein Familienumfeld das seine Ansprüche klar kund tut.

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