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Angeblich «nach dem damals geltenden Recht geprüft und bewilligt»: Strassenreklame bei der Haltestelle «Universität» in Bern. © Marco Diener

Das Trottoir – die rechtsfreie Zone

Marco Diener /  Viele Strassenreklamen sind rechtswidrig und gefährlich. Schon lange. Wie das kam? Geld spielt eine Rolle. Und Behördenversagen.

Im Juli berichtete Infosperber über Strassenreklamen, die Verkehrsteilnehmer ablenken und so nie hätten bewilligt werden dürfen. Warum sie trotzdem stehen, lässt sich exemplarisch am Berner Falkenplatz zeigen (Bild oben). Dort hat es ein breites Trottoir. Deshalb stört die überdachte Sitzbank auf Höhe der Bushaltestelle die Fussgänger nicht. Was aber stört, ist die Strassenreklame, die auf dem Trottoir im Weg steht.

Die Reklame lässt den Fussgängern und Fussgängerinnen bloss einen Durchgang von 1,55 Metern Breite. Manche weichen zu den Stosszeiten auf die Strasse aus. Vor allem aber: Die Strassenreklame ist illegal. Als sie 2001 bewilligt wurde, war noch die Signalisationsverordnung von 1979 in Kraft. Dort stand:

  • «Innerorts müssen freistehende Strassenreklamen mindestens 3 m vom Fahrbahnrand entfernt sein.»
  • Und: «Unzulässig sind insbesondere Strassenreklamen, die Fussgänger auf dem Trottoir behindern.»

Die heutige Signalisationsverordnung (Artikel 95 bis 100) ist zwar schwammiger formuliert. Aber auch da steht noch: «Untersagt sind Strassenreklamen, welche die Verkehrssicherheit beeinträchtigen könnten, namentlich wenn sie die Berechtigten auf den für Fussgänger bestimmten Verkehrsflächen behindern oder gefährden.»

Nicht richtig geprüft

Dennoch behaupten die Verantwortlichen des stadtbernischen Bauinspektorats: «Das Vorhaben wurde nach dem damals geltenden Recht geprüft und bewilligt und hat somit Besitzstand.» Thomas Schneeberger, Verkehrsexperte bei Pro Velo Bern, hegt starke Zweifel daran. Er sagt, das Bauvorhaben sei seinerzeit bloss nach eisenbahnrechtlichen Gesichtspunkten geprüft worden.

Und tatsächlich. Das Bundesamt für Verkehr (BAV), das die Strassenreklame bewilligt hat, muss auf Anfrage von Infosperber zugeben: «Beim Verfahren handelte es sich um ein bundesrechtliches Plangenehmigungsverfahren. Dabei wurde insbesondere geprüft, ob die Installationen die Eisenbahn-, Trolleybus- und Elektrizitätsgesetzgebung respektieren. So wie es aussieht, wurde aber seitens BAV nicht geprüft, ob die Leuchtreklame den Anforderungen der damaligen Signalisationsverordnung mit den drei Metern Abstand zur Fahrbahnkante entspricht.»

Behördenversagen? Oder Absicht?

Ein «Geschenk» der APG

Die Stadt Bern hätte das BAV durchaus darauf aufmerksam machen können, dass die Strassenreklame laut der Signalisationsverordnung gar nicht hätte bewilligt werden dürfen. Doch die Stadtbehörden hatten ein grosses Interesse daran, dass der Plakatständer am Falkenplatz – so wie viele andere auch – realisiert würden. Denn sie waren ein «Geschenk» der Allgemeinen Plakatgesellschaft (APG). Die APG baute für die Stadt Bern 79 überdachte Haltestellen, reinigte und unterhielt sie. Im Gegenzug überliess die Stadt, wie sie damals mitteilte, «der APG die Nutzung der Werbeträger bei den Haltestellen zwecks Finanzierung von Bau und Unterhalt der Anlagen».

Und dafür nahm die Stadt offenbar in Kauf, dass die APG rechtswidrige und gefährliche Strassenreklamen aufstellte. Wie ein Hohn klingt die damalige Mitteilung der Stadt: Mit den neuen Haltestellen «erhöht sich auch die Sicherheit für die Benutzerinnen und Benutzer des öffentlichen Verkehrs». Thomas Schneeberger sagt: «Der Entscheid war geldgetrieben.»

Auch heute noch

Erstaunlich ist, wie lasch die Behörden in der Stadt Bern sind. Denn der Kanton Bern regelt die Strassenreklamen eigentlich ziemlich streng. In der kantonalen Strassenverordnung ist festgeschrieben, welche Abstände zur Strasse nicht unterschritten werden dürfen. Es gibt dazu auch ein 27-seitiges Merkblatt. Auch dort sind die Abstände nochmals erwähnt. Diese sind abhängig von der Ausrichtung der Strassenreklame. Es gilt:

  • Quer zur Strasse: drei Meter.
  • Parallel zur Strasse: ein Meter.

In der Praxis sieht es anders aus. Reklamen stehen in der Stadt Bern vielerorts auf Trottoirs. Der Mindestabstand von drei Metern wird selten eingehalten.

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Stören die Passagiere: Plakatständer an der Bernstrasse in Bern-Bümpliz.

Mal quer, dann schräg, dann wieder quer

An der Winkelriedstrasse bewilligte die Stadt Bern drei Plakatständer mitten auf dem Trottoir. Pro Velo Bern erwirkte, dass sie um 45 Grad gedreht wurden, damit die Plakate die Fussgänger weniger verdecken und damit sie die Fussgänger weniger behindern. Doch inzwischen stehen die Plakatständer wieder quer zur Strasse – in einem Abstand von bloss 1,40 Metern.

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Zuerst quer zur Strasse, dann in einem 45-Grad-Winkel, jetzt wieder quer: Winkelriedstrasse in Bern.
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Verdeckt die Sicht auf die wartenden Passagiere an der Bushaltestelle: Strassenreklame neben dem Radweg an der Winkelriedstrasse in Bern. Pro Velo Bern erwirkte per Einsprache immerhin, dass ein Geländer das Queren direkt hinter dem Plakat verhindert.

Auch in Muri

Auch in der Nachbargemeinde Muri bei Bern nimmt man es mit den Gesetzen und der Verkehrssicherheit nicht sonderlich genau. 2002 bewilligte die Gemeinde zwei sichtbehindernde Plakatständer an der Thorackerstrasse. Die IG Velo Bern (heute Pro Velo Bern) machte Einsprache. Die APG, die das Baugesuch eingereicht hatte, unterlag in der Folge vor allen drei Instanzen: vor der kantonalen Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion, vor dem Verwaltungsgericht und schliesslich auch vor dem Bundesgericht.

Es hielt fest: «Das Bundesgericht misst dem Aspekt der Verkehrssicherheit im Verhältnis zu wirtschaftlichen Interessen grundsätzlich ein grosses Gewicht bei.» Es schrieb auch: «Die Kantone sollen bei der Bewilligung von Reklamen einen strengen Massstab anwenden.» Und: «Bereits eine potentielle Beeinträchtigung oder eine entfernte, nicht einmal in der Regel eintretende mittelbare Gefährdung reicht aus, um die Verkehrssicherheit beeinträchtigen zu können.»

Obwohl das Bundesgerichtsurteil glasklar ist, stehen am Bahnhof Muri – in unmittelbarer Nähe zur Thorackerstrasse – seit Jahr und Tag mehrere Strassenreklamen 40 Zentimeter neben dem Strassenrand. Sie hätten nie bewilligt werden dürfen. Und zwar aus den gleichen Gründen wie am Falkenplatz in Bern.

Sie stehen zu nahe an der Strasse, sie stehen auf dem Trottoir, und sie behindern Fussgänger. Zudem beeinträchtigen sie die gegenseitige Sicht von Fussgängern und rollenden Verkehrsteilnehmern. Und sie verstossen gegen einen weiteren Passus aus der damaligen Signalisationsverordnung: «Strassenreklamen dürfen nicht in dichter Folge aufgestellt werden.»

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Mitten auf dem Trottoir mit einem Abstand von 40 Zentimetern zur Strasse und viel zu nahe am Fussgängerstreifen: Plakatständer am Bahnhof Muri BE.

Gemeinden dürfen nicht selber entscheiden

Im Fall der Berner Gemeinde Muri entschied das Verwaltungsgericht, dass Gemeinden gar nicht selber eine Baubewilligung für einen Plakatständer erteilen dürfen. Zuständig sei das Regierungsstatthalteramt. Das gelte für Bauvorhaben, aus denen eine Gemeinde einen Vorteil ziehe. Zum Beispiel weil die APG eine Konzessionsgebühr bezahle. Auf bereits erteilte Baubewilligungen hat das Urteil keine Auswirkungen.

Neuerdings auch Informationstafeln

Laut Thomas Schneeberger von Pro Velo Bern beeinträchtigen inzwischen nicht nur Strassenreklamen die Übersicht im Verkehr: «Ein neueres Problem sind die so genannten Pylone – Infotafeln ohne direkten Reklamecharakter.»

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Keine Strassenreklame, aber trotzdem eine Sichtbehinderung: Anschrift des Kinderspitals in Bern.

Es gibt sie beispielsweise als Orientierungshilfe auf dem Areal des Berner Inselspitals, aber auch bei Universitäten, an Haltestellen des öffentlichen Verkehrs oder bei Abstellplätzen für Leihvelos. «Diese Pylonen können genau so sichtbehindernd und verkehrsgefährdend sein wie ein kommerzielles Plakat.»

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2 Meinungen

  • am 4.10.2024 um 13:52 Uhr
    Permalink

    Zum Thema «Das Trottoir – die rechtsfreie Zone» wäre vor allem das zunehmende Velorowdytum zu erwähnen. Infosperber müsste über dieses Thema in einem Artikel gründlich informieren. Das enorme Bevölkerungswachstum verursacht immer mehr Verkehr. Da der zur Verfügung stehende Platz immer enger wird, hat sich im Bereich Verkehr ein brutaler Verdrängungskampf entwickelt. Der motorisierte Verkehr verdrängt den Veloverkehr, dieser breitet sich zunehmend auf den Fussgängerzonen aus. Der Fussgänger – das schwächste Glied in der Kette, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Sehbehinderte – werden im erhöhten Ausmass durch die Stahleseln bedroht und gewissermassen als Freiwild behandelt. Die Fussgänger haben kaum mehr Zonen, in denen sie sich gefahrlos bewegen können. Besonders schlimme Verhältnisse herrschen bei gemischten Zonen. Der Veloverkehr stellt daher für die Fussgänger zunehmend eine ebenso grosse Gefahr dar wie der motorisierte Verkehr.

  • am 4.10.2024 um 14:00 Uhr
    Permalink

    Mache ähnliches Beispiel:
    An den Haltestellen der Basler Verkehrs Betriebe BVB sind Abschrankungen gegenüber
    dem Verkehr, der rechts davon vorbeigeführt wird.
    Beispiel Merkurstrasse, Allschwil. Fahrtrichtung Lindenplatz.
    Gut zu sehen auf Google streetview .
    In diese Geländer sind Glas-Teile eingebaut, mit horizontalen grünen Streifen.
    Oft auch mit Werbung.
    Diese Geländer enden kurz vor einem Fussgängerstreifen.
    In einem ’normalen› Auto sitzt man nicht hoch genug, um über dieses Geländer zu sehen.
    Ob sich auf diesem Fussgängerstreifen jemand befindet, wird erst im
    letzten Moment und oft sehr überraschend ersichtlich.
    Der Leiter Verkehrssicherheit der Polizei Basel-Landschaft erklärte auf meine Anfrage
    diesen Zustand als unbedenklich.

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