Argentiniens langer Weg ins Elend
Studierende haben in den letzten Tagen fast im ganzen Land Argentiniens staatliche Hochschulen besetzt. Sie protestieren gegen die Absicht des ultraliberalen Staatspräsidenten Javier Milei, im kommenden Jahr den universitären Sektor mit radikalen Abstrichen im Budget zum Sparen zu zwingen. Andere Sektoren wie die Gewerkschaften, die arg gebeutelten Rentner und Mieter schliessen sich dieser Massenmobilisierung in Scharen an.
Der 46-Millionen-Einwohner-Staat ist seit Mileis Amtsübernahme vor zehn Monaten in die schwerste Rezession seiner Geschichte abgestürzt. Die Wohnungsmieten sind um ein Vielfaches gestiegen, ebenso die Tarife öffentlicher Dienstleistungen. Der Konsum von Lebensmitteln ist je nach Erhebung um 13 bis 17 Prozent eingebrochen und die Arbeitslosenquote hochgeschnellt. Aus offizieller Quelle (Indec) verlautet, dass mittlerweile 53 Prozent der Bevölkerung Argentiniens unterhalb der Armutsgrenze leben.
Armut wächst dramatisch
Im monumentalen Zentrum von Buenos Aires begegnet man auf Schritt und Tritt Menschen, die alles verloren haben. Sie schlafen auf dem Trottoir auf zerfetzten Schaumgummiteilen, zugedeckt mit Kartonstücken zum Schutz vor der nächtlichen Kälte. In der Bundeshauptstadt bei der Medizinischen Fakultät und beim Hospital de Clínicas, dem grössten Krankenhaus des Landes, liegen die Obdachlosen dicht nebeneinander. Noch nie in der 200-jährigen Geschichte des Landes hat das Elend ein derartiges Ausmass erreicht.
Die Studenten und Studentinnen protestieren dagegen, dass ihre Dozenten mit Hungerlöhnen von umgerechnet 200 bis gut 1000 Franken im Monat unterrichten sollen. Dabei macht das Hochschulbudget für das Jahr 2025 laut Angaben, die jetzt überall in den Medien herumgeistern, unfassbar niedrige 0,14 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus – auch das ein Armutszeugnis. Gleichzeitig hat die Regierung Milei mit dem sogenannten RIGI-Förderprogramm massive Steuererleichterungen für Grossinvestoren in bestimmten Wirtschaftssektoren beschlossen. Die Regierung setzt darauf, dass mit den Investitionsanreizen von RIGI frisches Kapital aus dem In- und Ausland ins Land fliessen wird. Damit soll das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden und neue Arbeitsplätze sollen entstehen.
Das Volk wird ungeduldig
Der Staatschef will seinen Landsleuten zum Jahreswechsel partout eine Rechnung vorlegen, die ein Gesamtdefizit «von null» ausweist – was dann als Riesenerfolg im Kampf gegen die Inflation gefeiert werden soll. Milei erhofft sich, so könne er den Internationalen Währungsfonds (IWF) überzeugen, dass Argentinien einen Notkredit in vielfacher Milliardenhöhe verdiene, um einen Weg aus der schweren Krise zu suchen. Gleichzeitig könnten die Gläubiger mit dem Abstottern von Schulden und Zinsen besänftigt werden.
Doch die Stimmung im Land scheint nach einer «Schonzeit», die in Lateinamerika meistens etwa ein halbes Jahr dauert, bereits zu kippen. Zwar ist die Teuerungsrate unter Mileis Peitsche – auf 12 Monate zurückgerechnet – von rund 300 Prozent auf etwa 60 Prozent abgeflaut. Sie jedoch noch stärker zu drosseln, dürfte ihm erfahrungsgemäss wesentlich schwerer fallen. Und der Unmut im Volk wächst unaufhaltsam angesichts der anhaltend schweren Wirtschafts- und Staatskrise.
Ricardo Kirschbaum, einer der langlebigen Kolumnisten in den bürgerlich-konservativen Medien, attestiert dem Präsidenten heillose Improvisation bei seinen bisherigen Massnahmen. Meinungsumfragen, die in diesem stark politisierten Land zuverlässigere Tendenzen aufzeigen als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas, suggerieren, dass die Sympathien im Volk für Milei schwinden. Der grobe Umgang mit protestierenden Betagten, deren Renten noch viel tiefer unter die Armutslinie gefallen sind als die Löhne der arbeitenden Bevölkerung, dürfte daran auch einen Anteil haben.
Wie Bolivien und Brasilien ihre Krisen meisterten
Krisen solchen Ausmasses konnten in Lateinamerika nur selten nachhaltig überwunden werden. Nur ein erfahrener Staatschef wie Victor Paz Estenssoro, der die Präsidentschaftswahlen in Bolivien zuvor schon viermal gewonnen hatte (und sein Mandat dreimal beenden konnte), vermochte 1985 die auf etwa 20’000 Prozent bezifferte Hyperinflation mit einem Donnerschlag zu bändigen. Dem ehemaligen Chef der ersten sozialen Revolution in Südamerika (1952) kam neben einem angeborenen Charisma auch der Umstand zu Hilfe, dass sich den Bolivianern just in dieser kritischen Phase der Anbau von Coca (Rohstoff zur Herstellung von Kokain) als Alternative zum obsoleten Bergbau anbot.
Noch eindrücklicher gelang Mitte der 1990er Jahre in Brasilien die Bändigung einer Teuerung, die ebenfalls Tausende Prozent erreicht hatte, unter dem damals amtierenden Finanzminister und nachmaligen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso. Er legte als einer der namhaftesten Wortführer der sogenannten Dependenztheorie seine vorherigen linksgerichteten Überzeugungen beiseite und konzipierte zusammen mit gewieften lokalen Finanzexperten den sogenannten Plano Real, der in zwölf Monaten beispielhaft und mit umfassenden, bis ins Detail ausgefeilten Dekreten in die Tat umgesetzt wurde.
Der entscheidende Klick passierte schon bei Halbzeit dieser auf Synchronisierung zwischen alten und neuen Verträgen in der Wirtschaft basierenden Übergangsphase. In jenem Moment realisierten viele Politiker, Unternehmer und Finanztechniker, dass es dem Staatschef und seiner Equipe wirklich ernst war. In der Folge sank die Inflationsrate rasant. Auch in Bevölkerungskreisen schien sich in jenem Augenblick das Bewusstsein zu festigen, dass sich die geforderten Opfer während einiger weiterer Monate diesmal lohnen würden.
Die damals erreichte monetäre, politische und soziale Stabilisierung sollte sich als dauerhaftes Konstrukt erweisen. Der Real konnte als neue Währung in Kraft gesetzt werden und behielt seinen Wert mit geringfügigen, aber konstanten Anpassungen an die wirtschaftliche Realität bis heute. Cardoso konnte seine Präsidentschaft über zwei Mandate geordnet beenden (1995-2003).
Mehr Chaos als Erfolge
Ganz anders im heutigen Argentinien. Javier Milei macht weiter mit seinem konfrontativen Stil. Er kanzelt die Politiker en bloc als Parasiten ab, versäumt es dabei jedoch, eine eigene tragfähige Basis im Parlament aufzubauen. Als Redner in der UNO-Generalversammlung stösst er mit infantilen Verallgemeinerungen an die hundert diplomatische Delegationen aus aller Welt vor den Kopf und realisiert offensichtlich nicht, dass er Argentiniens Alleingang im Verbund der Nationen nur noch akzentuiert.
Mileis Ziel ist der sogenannte Minimalstaat – doch die bisher unternommenen Vorstösse in diese Richtung entbehren realer Überzeugungskraft, ausgereifter Planung, Koordinierung und soliden politischen Rückhalts. Bereits in der Startphase stürzte Milei mit wirren Vorstellungen die argentinische Wirtschaft in ein Dilemma, aus dem es wohl kaum einen konstruktiven Ausweg gibt. Mit den ersten Amtshandlungen wurde der Devisenhandel in ein Schema gepresst, das Milei mit dem spanischen Begriff des cepo (Fussfessel) gleichsetzte. Doch der Schuss ging nach hinten los: Damit klammert sich Argentinien an eine Devisenkontrolle, die sich immer tiefer in eine Überbewertung des Pesos verrennt.
Wie in der Militärdiktatur (1976-1983), wie unter dem Bürgerradikalen Raúl Alfonsín mit seinem «Plan Austral» und wie unter Carlos Menem mit seiner «Konvertierbarkeit» (1 zu 1 zum US-Dollar) ist die argentinische Währung in diese Fussfessel geraten, die der lokalen Wirtschaft schadet, billige Importe befeuert und Auslandreisen begünstigt, womit die kargen Reserven in der Devisenkasse erst recht verpulvert werden. Jedes Mal haben solche Abenteuer zu einem bitteren Ende mit Bankrott, erneut aufflammender Inflation und noch grösserem Devisenmangel geführt.
Fast alle Regierungen der letzten hundert Jahre haben versagt
Die gegenwärtige Situation in Argentinien ist das Ergebnis des Versagens fast aller Regierungen der letzten hundert Jahre – eine einzige Ausnahme bildete die Regierung des bürgerradikalen Arztes Arturo Illia. Über ihn sagt man, er habe die Casa Rosada, das Regierungsgebäude im Zentrum von Buenos Aires, 1966 ärmer verlassen, als er es drei Jahre zuvor betreten hatte. Seine kurze, mit Gewalt beendete Herrschaft zeichnete sich aus durch eine Teuerung im tiefen einstelligen Bereich, solides Wachstum, blühenden Mittelstand und Achtung der zivilen Grundrechte. Eine fatale Allianz von machthungrigen Militärs, peronistischen Gewerkschaftern und Zivilpolitikern verschiedener Couleur brachte ihn nach dreijähriger verfassungsmässiger Regierungszeit zu Fall.
Der extrem konservative Armeechef Juan Carlos Onganía räumte Präsident Illia aus dem Weg und sah die gefährlichsten Gegner seiner Diktatur bei den Studenten. Viele wurden verhaftet oder flohen ins Ausland. Andere harrten im Land aus und planten im Untergrund einen Volksaufstand, der schliesslich 1969 in der Hochschulstadt Córdoba gezündet wurde. Damit geriet Argentinien erst recht auf eine schiefe Ebene zwischen Gewaltherrschaft und Verfassungsmässigkeit, zwischen Populismus und liberaler Wirtschaftspolitik – ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.
___________________________
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger» und die «Frankfurter Rundschau»,
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Weitere interessante Ausführungen zu Argentinien auch von Dr. Gaby Weber, freie Journalistin, seit vielen Jahren in Buenos Aires.
Auf ihrer Webseite unter ihrem Namen zu finden und bei Youtube.