Wenn Züge und S-Bahnen still stehen
Der deutsche Bahnstreik ärgert auch die Schweizer. So fühlen sich nach einem Bericht des «Tages-Anzeigers» 3000 Schaffhauser genervt. Denn während des sechstägigen Streiks fallen 78 Verbindungen pro Tag aus. Auf diesem Hintergrund werden die rund 3000 Personen hochgerechnet, die davon betroffen und «genervt» sein müssen. Denn die ausfallenden Züge der Deutschen Bahn können nicht ersetzt werden. Seit dem letzten Oktober wird bei der Deutschen Bahn bereits zum vierten Mal gestreikt.
Stein des Anstosses seit 1852
Nach René Meyer, Leiter der Koordinationsstelle öffentlicher Verkehr in Schaffhausen, akzeptieren die Deutschen den Ausfall von Zugsverbindungen schulterzuckend, da in Deutschland das Streikrecht tief im Bewusstsein der Bevölkerung akzeptiert sei. Das gilt aber nicht für den Sonderfall Schweiz, wie der «Tages-Anzeiger» Meyer zitiert: «Doch wir befinden uns hier in der Schweiz. Und wir haben hier wie im Rest des Landes Anspruch auf funktionierende Anschlüsse und pünktliche Züge.» Wer das am Zürcher Hauptbahnhof liest, wenn die ach so pünktliche S-Bahn wieder einmal ihre notorische Verspätung hat, kann da nur lachen.
Der Artikel lamentiert weiter, dass die Schweizer den Machtkämpfen der deutschen Gewerkschaften ausgeliefert seien. Denn der Betrieb der Zugsverbindungen an der Grenze geht auf einen Staatvertrag von 1852 mit dem Grossherzogtum Baden zurück. Unsere Ururur-Grossväter haben uns also die ganze Misere eingebrockt, weil sie es den Deutschen erlaubten, über Schweizer Hoheitsgebiet zu fahren. Der Schaffhauser Regierungsrat Reto Dubach hat deshalb beim baden-württembergischen Verkehrsminister interveniert: er solle alles unternehmen, um die staatsvertraglich zugesagten Leistungen zwischen Erzingen und Thayingen plangemäss zu erbringen.
Das Gesicht der Streiks hat sich verändert
Hinter dieser kabarettreifen Aussage steckt allerdings Grundsätzliches. Denn es ist ja keineswegs so, dass Streiks in Deutschland an der Tagesordnung sind. Nach Schätzungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in Düsseldorf fallen in Deutschland durchschnittlich 16 Arbeitstage je 1000 Beschäftigte im Jahr aus. In Frankreich oder Dänemark sind es weit mehr, nämlich 139 bzw. 135 Tage. Weniger gestreikt wird nur in Österreich, Polen – und man ahnt es – in der Schweiz mit einem Tag.
Es sind auch nicht mehr die Industriearbeiter, die heute primär auf die Strasse gehen, sondern immer mehr Angehörige des Dienstleistungssektors. Das gilt nicht nur für die Lokführer der Deutschen Bahn. Vielmehr streikten in Deutschland auch Lehrpersonen, Angehörige von Kindertagesstätten (Kitas), Postboten oder die Piloten von Lufthansa und Germanwings.
Wie im Fall der Lokführergewerkschaft GDL sind es oft kleine Gewerkschaften, die sich mit forschem Auftreten behaupten wollen – die GDL zum Beispiel gegen die grössere Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft EVG, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehört. Es wird die Spitzen des traditionell an der Sozialdemokratie orientierten DGB irritieren, dass ihr mit dem GDL-Chef Claus Weselsky ein CDU-Mitglied das Wasser abgraben will. So ist auch unter der politischen Linken der Bahn-Streik nicht unbestritten. In einem Kommentar der linksorientierten «taz» schreibt Richard Rohrer pikiert, dass es nicht um höhere Löhne für die Lokführer gehe, sondern um die Ausdehnung der Macht. Weselsky erhoffe sich, dass viele der betroffenen Berufsgruppen wie Schaffner oder Rangierer zur GDL wechselten. So steckt dahinter ein Konflikt zwischen dem traditionellen Deutschen Gewerkschaftsbund und einer jüngeren Spartengewerkschaft.
Nadelstiche mit grossen Auswirkungen
Letztlich zeigen diese neuen Streiks der Dienstleister, wie sich die Verhältnisse seit den traditionellen Arbeitskämpfen verändert haben. Es braucht nicht mehr die Arbeitermassen, welche dafür sorgen, dass die Räder still stehen. In der mobilen Dienstleistungsgesellschaft gibt es sensible Bereiche, in denen auch kleine Gewerkschaften dafür sorgen können, dass nichts mehr läuft. Wenn die Züge nicht mehr fahren und niemand mehr zur Arbeit oder in die Schule kommt, dann ist der Schaden weit grösser als es zunächst erscheint. Und wenn in Flughäfen nichts mehr geht, weil die Piloten streiken, bedeutet das ein Katastrophenszenario für alle Ferien- und Geschäftsreisende. Solche Streiks sind zwar nur Nadelstiche, doch sie beeinträchtigen das gesamte gesellschaftliche Leben.
Wie antiquiert sind Streiks?
Doch handelt es sich bei Streiks nicht um eine Form der Auseinandersetzung, die viel mehr dem 19. oder 20. Jahrhundert angemessen war als unserer Gegenwart? In der NZZ meint Joachim Güntner, der Streik wirke heute als Mittel antiquiert – eine These, die von bürgerlicher Seite schon seit Jahrzehnten als Mantra vorgebetet wird. Doch er warnt auch, dass man seine Virulenz nicht unterschätzen dürfe – in einer Zeit, in der die Zeiten wieder härter werden.
Es ist ein Stück Überheblichkeit im Spiel, wenn den deutschen Nachbarn beim Bahnstreik der Anspruch auf die Pünktlichkeit der Schweizer Züge unter die Nase gerieben wird. Die Schweiz als Insel der Seligen, wo alles geordnet ist und im Rhythmus der sprichwörtlichen Schweizer Uhren tickt, ist eine Heidiland-Sichtweise. Ist es denn wirklich das Ausland und im Speziellen Euroland, das bei uns alles durcheinanderbringt?
Die Frage der Aktualität von Streiks kann sich auch bei uns schnell ändern. Sollte der verschlechterte Wechselkurs auf das Portemonnaie der Arbeitnehmer durchschlagen, dann werden die Auseinandersetzungen um Lohn und Brot wieder härter. Und Streiks sind allemal ein Mittel, um solche Forderungen durchzusetzen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine